Sonntag, 26. November 2017

Unsere Wurzeln

Gesine Krüger

Wenn der Migra­ti­ons­hin­ter­grund kon­kret wird, bekommt er Wur­zeln – kur­di­sche, ara­bi­sche, alba­ni­sche, afri­ka­ni­sche oder tür­ki­sche zum Bei­spiel, aber auch Hei­mi­sches ist im Ange­bot, Schwei­zer Wur­zeln zum Bei­spiel im Fall des bekann­ten süd­afri­ka­ni­schen Come­di­an Tre­vor Noah, der in sei­nen Shows gern über sei­nen Schwei­zer Vater erzählt, über die eige­ne Jugend im Town­ship und den Ver­such, in den USA rich­tig schwarz zu wer­den. So, wie der Begriff der Iden­ti­tät seit den 1980er Jah­ren in die Sozi­al­wis­sen­schaf­ten und das All­tags­be­wusst­sein ein­ge­wan­dert ist, kommt heu­te kaum ein Arti­kel, der sich mit Zuge­wan­der­ten, Secon­dos oder ganz all­ge­mein mit Her­kunft befasst, ohne die bota­ni­sche Meta­pher aus. Über deut­sche Poli­ti­ker mit tür­ki­schen Wur­zeln ist eben­so regel­mäs­sig zu lesen wie über Schü­ler, deren Wur­zel in aller Her­ren Län­der rei­chen wür­den. Im Gespräch mit Zeit­zeu­gen wur­den jüngst an Öster­rei­chi­schen Schu­len bos­ni­sche Wur­zeln erkun­det, und anläss­lich der WM 2014 erör­ter­te eine Medi­en­ser­vice-Stel­le die „inter­na­tio­na­len Wur­zeln der Fuss­bal­ler“ – wobei es wohl­ge­merkt um alle Mann­schaf­ten ging! Und natür­lich dür­fen auch die Ver­bre­cher mit Wur­zeln im Bal­kan nicht feh­len. Dafür haben aber auch 30% der neu­en Poli­zis­tin­nen und Poli­zis­ten in Ber­lin aus­län­di­sche Wur­zeln.

Die Meta­pher von den Wur­zeln ist in den Medi­en und im All­tags­ge­brauch all­ge­gen­wär­tig und kei­nes­wegs so unschul­dig, wie sie auf den ers­ten Blick erschei­nen mag. Die Geschich­te etwa von Barack Oba­mas Schwei­zer Wur­zeln, die vor eini­gen Jah­ren durch die Pres­se ging, klingt zunächst ganz lus­tig. Begeis­tert berich­te­ten Schwei­zer Zei­tun­gen vom Blick bis zur NZZ von der Ver­bin­dung des ers­ten schwar­zen Prä­si­den­ten mit „uns“. Der Blick dich­te­te am 14.7.2010 die gera­de­zu trun­ke­ne Über­schrift „Yes, amt­lich. Oba­ma can say ich bin ein Schwei­zer“ und kon­kre­ti­sier­te dann wei­ter: „Geklärt: die Schwei­zer Wur­zeln Oba­mas lie­gen in Ried bei Kerz­ers.“ Ein auf­ge­reg­ter Gemein­de­prä­si­dent konn­te ver­kün­den, dass vor nur neun Gene­ra­tio­nen der 1692 in Ried gebo­re­ne Hans Gut­knecht mit sei­ner Frau Anna Bar­ba­ra ins Elsass aus­ge­wan­dert war und der gemein­sa­me Sohn dann wei­ter nach Ame­ri­ka zog. Und die­ser war offen­bar ein Urahn von Oba­mas Mut­ter – wie so vie­le Män­ner und Frau­en, die in sie­ben wei­te­ren Gene­ra­tio­nen vie­le Kin­der zeug­ten, möch­te man bei­fü­gen.

Und was ein sta­ti­scher Stamm­baum mit sei­nen ordent­li­chen Ästen (der ja eben­falls, wenn auch meist unsicht­ba­re, Wur­zeln hat) eben­falls nicht zeigt, ist die räum­li­che Aus­deh­nung aller die­ser Gene­ra­tio­nen. Wie vie­le Wur­zeln wer­den im Ver­lau­fe der Gene­ra­tio­nen ange­sam­melt? Von Frei­burg ins Elsass und dann nach „Ame­ri­ka“, und dabei ist Oba­mas väter­li­che Fami­lie noch gar nicht ange­spro­chen. Hier zeigt sich auch ein wei­te­res Pro­blem mit der Meta­pher von den Wur­zeln: Was pas­siert mit ihnen, wenn Men­schen wan­dern? Wer­den sie aus­ge­ris­sen – und der Mensch ist dann ent­wur­zelt wie eine Pflan­ze? Und was wür­de das bedeu­ten? Sehnt sich Oba­ma des Nachts, wenn ihm das Regie­ren schwer wird und er nicht weiß, ob er über Trump lachen oder wei­nen soll, nach Ried oder dem Elsass „zurück“?

Unter einer Stamm­baum­gra­fik im Blick-Arti­kel war die Bild­un­ter­schrift zu lesen: „Die­ser Stamm­baum beweist: Barack Oba­ma ist Schwei­zer.“ Da klingt lei­se, aber bit­ter die ame­ri­ka­ni­sche One-Drop-Rule an, gemäß der im 19. und 20. Jahr­hun­dert in den USA jeder schwar­ze Vor­fah­re (theo­re­tisch) dazu führ­te, dass selbst der ent­fern­tes­te Nach­fah­re nicht als weiß galt. Dass eine umge­kehr­te One-Drop-Rule Oba­ma zum Schwei­zer erklärt, könn­te noch als iro­ni­sche Poin­te durch­ge­hen. Der Gemein­de Kerz­ers sei der berühm­te Neu­bür­ger oder bes­ser Neueh­ren­bür­ger von Her­zen gegönnt. Und es war wirk­lich nett vom ame­ri­ka­ni­schen Bot­schaf­ter Donald Bey­er (wo der wohl sei­ne Wur­zeln hat?), dass er die Ehren­bür­ger-Urkun­de per­sön­lich ent­ge­gen­ge­nom­men hat und ver­sprach, auch der Prä­si­dent wer­de sich freu­en.

Auf den zwei­ten Blick sind sol­che Vor­stel­lun­gen sehr weit zurück­lie­gen­der Ver­wur­ze­lung, die im vor­lie­gen­den Fall ja eigent­lich ein recht völ­ker­um­schlin­gen­des Poten­ti­al besit­zen, aller­dings höchst frag­wür­dig. Mit der Fra­ge nach den Wur­zeln wird einer­seits unter­stellt, dass jemand, der dazu­ge­kom­men ist, nicht dazu­ge­hört, son­dern woan­ders ver­wur­zelt bleibt. Ande­rer­seits wird sug­ge­riert, alle hät­ten ein­deu­tig zu bestim­men­de Wur­zeln, die zu einem bestimm­ten Boden gehö­ren. Wenn zum Bei­spiel laut Pres­se­mel­dun­gen jeder drit­te Arbeits­lo­se „aus­län­di­sche Wur­zeln“ hat, geht es nicht mehr um Staats­an­ge­hö­rig­keit, um Bil­dung oder Klas­sen­zu­ge­hö­rig­keit; und das Pro­blem wird nicht mehr im Land von Wohn­sitz, Arbeit und Aus­weis­do­ku­men­ten loka­li­siert, son­dern in einer mehr oder weni­ger fer­nen ‚Hei­mat‘, zu der man für immer gehört.

Die Ideo­lo­gie von natür­li­cher Zuge­hö­rig­keit und Abstam­mung mit allen dazu­ge­hö­ri­gen Rech­ten und Ansprü­chen unter­liegt seit eini­ger Zeit einer glo­ba­len Kon­junk­tur. Dabei sind Vor­stel­lun­gen von Auto­chtho­nie in ganz unter­schied­li­chen Milieus ver­brei­tet, im lin­ken, glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­schen Milieu eben­so wie bei Kon­ser­va­ti­ven und Pegi­da-Anhän­gern, die ihre Hei­mat schüt­zen wol­len. Sol­che Zuord­nun­gen bie­ten ver­meint­lich Sicher­heit. Doch wer bestimmt die ech­te Auto­chtho­nie? Wer ver­bürgt die Wahr­haf­tig­keit der Wur­zeln? Schon die Abstam­mung von zwei Eltern mit unter­schied­li­chen Her­kunfts­ge­schich­ten birgt die Gefahr, im Kon­flikt­fall nicht die rich­ti­ge Zuge­hö­rig­keit zu besit­zen, son­dern ‚gemisch­te‘ Wur­zeln.

Wir sehr die Rede von den Wur­zeln in bio­lo­gi­sie­ren­den Ras­sen­theo­ri­en und poli­ti­schen Mytho­lo­gi­en grün­den, deren Hoch­kon­junk­tur zwi­schen 1890 und 1950 man längst über­wun­den glaub­te, zeigt eine wei­te­re, völ­lig sinn­freie Mel­dung auf Short­news. Hier heißt es: „Die Sän­ge­rin Ade­le wur­de jüngst mit Pla­gi­ats­vor­wür­fen aus der Tür­kei kon­fron­tiert. Davor hat­te sie in einem Inter­view erklärt, wo ihre Wur­zeln zu fin­den sind. Dies könn­te nun viel­leicht die Ähn­lich­keit ihres Songs ‚Mil­li­on years ago‘ mit Ahmet Kayas Lied ‚Aci­la­ra tut­un­mak‘ erklä­ren.“ Viel­leicht woll­te der Redak­ti­ons­prak­ti­kant nach der Mit­tag­pau­se einen klei­nen Witz los­wer­den, doch sol­che Vor­stel­lun­gen und Denk­mus­ter vom Blut der Ahnen, in denen ein Lied raunt, ent­ste­hen nicht im lee­ren Raum. Mit einem ganz ähn­li­chen Argu­ment berich­te­te wäh­rend der Krie­ge in Ex-Jugo­sla­wi­en ein Repor­ter aus einem Flücht­lings­la­ger bei Ben­ko­vac über klei­ne Kin­der, die ein Lied im Zehn­sil­ben­vers zu Ehren des Pres­se­be­suchs san­gen: „Sie wis­sen höchst­wahr­schein­lich gar nicht, was ein Zehn­sil­ben­vers ist, und haben ihn bei der Nie­der­schrift des Lie­des nicht bewusst ange­wandt, er ist ihnen ein­ge­bo­ren, ist in ihrem gene­ti­schen Code notiert.“

Der Sozi­al­an­thro­po­lo­ge Ivan Čolo­vić hat die­sen wahn­haf­ten Unsinn 1994 in einem luzi­den Arti­kel in Lett­re Inter­na­tio­nal offen­ge­legt und gezeigt, wie sol­che Mythen im Kon­text der Jugo­sla­wi­en­krie­ge zur domi­nan­ten Spra­che des zeit­ge­nös­si­schen eth­ni­schen Natio­na­lis­mus und zum domi­nan­ten Merk­mal der öffent­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on gewor­den sind. Sie beruh­ten nicht auf einer Beschwö­rung der Ver­gan­gen­heit, son­dern gera­de auf einer Aus­set­zung, einem Ver­las­sen der his­to­ri­schen Zeit: Mythen ver­wan­deln Geschich­te „in ewi­ge Anwe­sen­heit oder ewi­ge Rück­kehr des­sel­ben“. His­to­ri­sche Argu­men­te – etwa, dass Men­schen schon immer gewan­dert sind und sich schon immer ‚ver­mischt‘ haben – kön­nen in einer sol­chen Kon­stel­la­ti­on nicht grei­fen. Untrenn­bar ver­bun­den mit der mythi­schen Zeit ist ein mythi­scher Raum, „gewon­nen durch das Anhal­ten der his­to­ri­schen Zeit, d.h. durch die Pro­jek­ti­on his­to­ri­scher Ereig­nis­se von der dia­chro­ni­schen Ach­se auf die der Syn­chro­nie.“

Im Netz der sym­bo­li­schen Orte, die den mythi­schen Raum bil­den, spielt das Grab – und mehr noch, das Grab als Wur­zel – eine zen­tra­le Rol­le. Grä­ber sym­bo­li­sie­ren zugleich, wie Čolo­vić schreibt, Kei­me natio­na­ler Erneue­rung und Wur­zeln, „durch die das Volk an den Boden der Ahnen gebun­den ist.“ Und wei­ter: „Die Sym­bo­lik der Grä­ber als Wur­zel hat heu­te, in der Zeit inter­eth­ni­scher Kämp­fe um Ter­ri­to­ri­en, beson­de­re Bedeu­tung. Das liegt dar­an, dass heu­te die Ide­en vom eth­ni­schen Raum und dem Recht der Eth­nie auf ter­ri­to­ria­le Sou­ve­rä­ni­tät wie­der auf­ge­grif­fen wer­den, und die­se Ide­en grün­den auf einer Art mor­bi­der Geo­po­li­tik, deren wesent­li­cher Fak­tor die Exis­tenz von Ahnen- und Fami­li­en­grä­bern auf einem umstrit­te­nen Ter­ri­to­ri­um ist.“

Die­se mor­bi­de Geo­po­li­tik taucht heu­te, mehr als zwan­zig Jah­re spä­ter, in mäch­ti­ger Gestalt wie­der auf. Čolo­vić hat­te übri­gens bereits in sei­nem Arti­kel von 1994 vor dem laten­ten Eth­no-Natio­na­lis­mus der „zivi­li­sier­ten“ west­li­chen Staa­ten gewarnt, die mit Ent­set­zen auf den Bal­kan und das zer­fal­len­de Jugo­sla­wi­en starr­ten, den Wahn­sinn eth­ni­scher, ter­ri­to­ri­al gebun­de­ner Rein­heit aber latent mit sich tru­gen. Phan­ta­si­en von Grenz­zäu­nen, Schieß­be­feh­len, und von ihren gegen „Strö­me“ und „Flu­ten“ frem­der Ein­dring­lin­ge zu ver­tei­di­gen­den Ter­ri­to­ri­en bezie­hen ihre Kraft aus eben die­ser poli­ti­schen Mytho­lo­gie, die von Geschich­te und Poli­tik nichts mehr wis­sen will.

Post­skrip­tum: Man hat her­aus­ge­fun­den, dass 50% der Schwei­zer Män­ner und immer­hin noch 45% der deut­schen mit dem ägyp­ti­schen Pha­rao Tutan­cha­mun ver­wandt sind. Wenn es Ihnen also hier zu bunt wird: Ab in die Hei­mat!

Quelle: http://geschichtedergegenwart.ch/wurzeln-ziehen/

Frauenfeindlichkeit

Sexismus: "Frauenfeindlichkeit hat eine soziale Funktion"

Frauen unterstützen Männer seit jeher. Und umgekehrt? Die Philosophieprofessorin Kate Manne untersucht, wie misogyne Gesellschaften funktionieren.
Von  Claudia Steinberg, New York

ZEIT ONLINE: Ms Manne, in Ihrem gerade erschienenen Buch Down Girl – The Logic of Misogyny erklären Sie Frauenfeindlichkeit aus philosophischer Perspektive. Es scheint das Buch zur Stunde zu sein – ein passender, aber unglücklicher Zufall. Was tragen Ihre Studien zur aktuellen Lage bei?

Kate Manne hat am MIT ihren Doktor in Philosophie gemacht, danach ging sie als Junior Fellow nach Harvard. Als Assistenzprofessorin für Moral- und Sozialphilosophie lehrt sie an der Cornell University. Anfang Oktober ist ihr Buch "Down Girl – The Logic of Misogyny" bei Oxford University Press erschienen. © privat
Kate Manne: Meines Wissens handelt es sich um das erste Buch, das Frauenfeindlichkeit in der Tradition analytisch feministischer Philosophie untersucht. Ich sehe Frauenfeindlichkeit als ein Instrument, um das Bild der Frau als Gebende, Liebevolle und Fürsorgliche zu bestärken. Wenn Frauen sich machthungrig, gefühllos und dominant verhalten, geraten sie in Konkurrenz mit Männern – den historischen Nutznießern weiblicher Wohltätigkeit. Verweigern Frauen ihre "moralischen Güter", werden sie kritisiert: Sie vernachlässigten die Schutzlosen und griffen nach verbotener Macht. In diesem System müssen sie den Mann auch sexuell umsorgen. Er bestätigt seine Dominanz, indem er das einfordert, und fühlt sich moralisch im Recht.

ZEIT ONLINE: Heutige Frauenfeindlichkeit basiert also darauf, die gesellschaftlich gewachsene Balance von Geben und Nehmen zu bewahren. Je weiter Frauen in männliches Terrain vordringen, desto drastischer die Gegenreaktion. Viele moderne Frauen möchten darauf vertrauen, dass dieses Denken eine Generationenfrage sei und sich im Lauf der Zeit von selbst überholt. Ein Irrglaube?

Manne: Tatsächlich sind viele Täter, die in jüngster Zeit öffentlich sexueller Übergriffe beschuldigt wurden, fortgeschrittenen Alters. Trump und Weinstein waren aber schon in ihren Dreißigern sexuelle Aggressoren, wenn nicht gar früher. Und unsere Gesellschaft nimmt ihre jungen Männer in Schutz. Generell haben wir eine Tendenz zur "Himpathy", wie ich es nenne – die dem weiblichen Opfer zustehende Sympathie fließt dem männlichen Täter zu,

ZEIT ONLINE: Zur Zeit können wir in den Medien allerdings auch das Gegenteil beobachten. Abgesehen von den prominenten Männern, deren mögliche sexuelle Grenzübertritte gerade untersucht werden: Es gibt viele Fälle von Frauen, die sich öffentlich über die Gewalttätigkeit ihrer Männer beklagten, sich aber dann von ihren Aussagen distanzierten. Auch Ivanka Trump nahm ihre Schilderung brutaler sexueller Übergriffe ihres Mannes zurück – lässt sich aus diesem Verhalten ein Prinzip erkennen?

Manne: Solche Rückzieher haben unterschiedliche Gründe: beispielsweise der schlichte Wunsch, eine harmonische Beziehung mit einem mächtigen Mann zu unterhalten. Kinder und finanzielle Erwägungen sind oft der Hintergrund dafür, Anschuldigungen zurückzuziehen. Doch in manchen Fällen bezweifelt die Anklägerin offenbar tatsächlich ihre eigene Geschichte. Frauen aus der Mittelschicht vertrauen darauf, dass man sich nach ihrer Darstellung von Misshandlung und Vergewaltigung um sie sorgt, dass man interveniert. Wenn dann aber niemand hilft, wirkt es wie eine Bestätigung nach innen wie nach außen, dass sie sich das alles nur eingebildet hat. Der Frau werden nicht nur gesetzliche Maßnahmen und vielleicht auch weitere Gewalttätigkeiten angedroht, sondern sie sieht ihren guten Ruf gefährdet: Wenn sie weiterhin auf ihrer Schilderung besteht, wird sie als verrückt bezeichnet, man denunziert sie als moralisch unglaubwürdig. Viele Männer sind mit ihrer Version der Geschichte meist ungestraft davon gekommen, auf politischer ebenso wie auf persönlicher Ebene.

ZEIT ONLINE: Muss man nicht jeden Fall einzeln betrachten? 

Manne: Ich möchte mit meinem Buch Frauenfeindlichkeit entmystifizieren, sie als ein systematisches soziales Phänomen erklären. Im Kern erfüllt sie eine soziale Funktion, psychologische Ansätze als Erklärungsmodelle sind naiv. Das weiße, heterosexuelle Patriarchat funktioniert wie jede andere Hierarchie auch. An der Spitze dieser Ordnung existiert ein untrüglicher Sinn dafür, wer wohin gehört und wer wem etwas schuldet, wenn es um Geschlecht, Ethnie, Klasse, Sexualität, oder Behinderung geht.

"Ich selbst hatte Schuldgefühle beim Schreiben"

ZEIT ONLINE: Sie differenzieren in Ihrem Buch deutlich zwischen Sexismus und Frauenfeindlichkeit – was ist der Unterschied?

Manne: Sexismus ist diejenige Abteilung des Patriarchats, die für die Rechtfertigung der sozialen Ordnung verantwortlich ist: Es handelt sich um eine Ideologie, die Männer und Frauen aufgrund der ihrem Geschlecht zugesprochenen Fähigkeiten diskriminiert, obwohl die wissenschaftlich nicht belegt sind. Frauenfeindlichkeit oder Misogynie unterscheidet zwischen guten und schlechten Frauen. Sexismus ist eine Theorie; Frauenfeindlichkeit schwingt die Keule.

ZEIT ONLINE: Wie weit ist denn der Feminismus gegen die Frauenfeindlichkeit angekommen?

Manne: Wir sprechen immer wieder über sogenannte Wellen des Feminismus, im Unterschied zu anderen politischen Bewegungen. Dadurch entsteht der Eindruck, als sei feministisches Denken zur schnellen Veralterung verurteilt, als handele es sich nur um kurzlebige Theorien, die bald von der Realität eingeholt werden. Tatsächlich können wir zwar keinen linearen Fortschritt verzeichnen, aber vor 50 Jahren wäre es in meiner Disziplin noch undenkbar gewesen, über das Phänomen Frauenfeindlichkeit offen zu schreiben. Das stellt eine wirkliche Verbesserung in gesellschaftlicher Hinsicht dar, von der aber nur privilegierte Frauen wie ich profitieren. Unter frauenfeindlichen Rückfällen leiden meist die leichter verwundbaren Frauen.

ZEIT ONLINE: Sie schreiben, dass Frauen oft Schuldgefühle plagen, wenn Männern traditionelle Privilegien entzogen werden. Haben Sie ein Beispiel?

Manne: Ich selbst habe gemerkt, wie groß meine Schuldgefühle beim Schreiben dieses Buches waren. Ich habe es dann zur Methode erhoben und immer dorthin den Finger gelegt, wo es schmerzte: Wenn sich zum Beispiel der Gedanke einstellte, dass ich mehr Sympathie für die entrechteten, gekränkten weißen Männer aufbringen sollte. Rational hielt ich es für falsch und unproduktiv, mich um diesen männlichen Schmerz zu kümmern – ich wollte mich ja vielmehr auf die Mädchen und Frauen konzentrieren, die Opfer dieser Männer geworden waren. Ironischerweise standen mir zwei ungemein hilfreiche heterosexuelle Männer bei – mein Mann und mein Lektor.

ZEIT ONLINE: Das heißt, es geht nicht um Männer gegen Frauen und umgekehrt?

Manne: Nein. Wir müssen viel mehr Männer zur Unterstützung von Frauen heranziehen. Umgekehrt ist es ja selbstverständlich.

ZEIT ONLINE: Nicht alle Frauen unterstützen Frauen. Tragen sie damit eine gewisse Mitschuld an der Aufrechterhaltung der patriarchalischen Ordnung? Und ist in diesem Zusammenhang allein die Sehnsucht nach altmodischen Kavalieren kontraproduktiv?

Manne: Manchmal schon, aber es lohnt sich nicht, gegen jeden Effekt geschlechtsspezifischer Sozialnormen mit gleicher Energie anzukämpfen. Mein Mann und ich unterrichten beide und beschäftigen uns seit Langem mit feministischer Literatur, Politik und Theorie. Dennoch kümmern wir uns umeinander in geschlechtsspezifischer Weise: Ich koche für ihn, er fährt mich herum. Aber ich bin viel stärker karriereorientiert als er. Unser bewusster, gewissenhafter Pragmatismus ist mir persönlich ganz recht.

aus; DIE ZEIT online, 4. November 2017



Die Sache mit der Hegemonie

Isolde Charim

Die Hegemonie zurückgewinnen?

Die Wahl sei ein Richtungsentscheid gewesen - mit ihr habe sich die Hegemonie verschoben: Die Rechte haben sie gewonnen, die Hegemonie. Die Linken, die haben sie verloren - und schicken sich nun an, sie zurückzuerobern. Aber Wahlsiege begründen noch keine Hegemonie, schreibt Armin Thurnher zu Recht. Also was nun? Zeit, über Hegemonie zu sprechen.
Hegemonie ist, wie Antonio Gramsci gezeigt hat, eine der beiden Arten Macht auszuüben. Die andere Art ist Repression. Während diese über Zwang funktioniert, erzeugt Hegemonie das genaue Gegenteil - nämlich Zustimmung. Hegemonie heißt also: Herrschen durch Konsens. Woher aber kommt diese Zustimmung?

Zustimmung heißt nicht Gleichschaltung. Es bedeutet vielmehr, die Menschen zu prägen: die Bedeutungen, die sie leiten, die Identitäten, die sie leben.
Bedeutungen sind nicht festgeschrieben. Eben deshalb sind sie ja umkämpft. Hegemonie heißt, die Bedeutung von dem, was gesellschaftlich falsch und richtig, was akzeptiert und nicht akzeptiert ist, durchzusetzen. Und zwar in der Art, dass die Menschen diese Prägung nicht als Schulmeisterei erleben, sondern diese zu ihrem Alltagsverstand machen. So findet Herrschaft Eingang in die alltäglichen Denk- und Handlungsweisen. Das fühlt sich dann nicht als äußere Herrschaft, sondern als innere Überzeugung an. Das wird dann Teil der eigenen Identität.
Nun entsteht diese Vorherrschaft in den Köpfen weder durch Magie noch durch Beschwörung. Hegemonie wird vielmehr erzeugt - ganz materiell. In dem, was man Hegemonieapparate nennen könnte: in den Schulen, den Universitäten, den Thinktanks, in den Massenmedien, Kirchen, Vereinen, in den Parteien, den Gewerkschaften, im öffentlichen Diskurs. Das ist ihr handfestes Moment. Hegemonie aber ist ein Zwitterwesen, denn sie ist zugleich auch filigran - ein heikles Durchsetzen, das jederzeit kippen kann. Ein Konsens, der sich nie endgültig fixieren lässt, weil er immer umstritten, umkämpft ist. So sind die Hegemonieapparate nicht nur Orte der Konsensproduktion, sondern auch Orte der hegemonialen Kämpfe, des Ringens um die kulturelle Vorherrschaft. In jeder Schule, in jeder Redaktion, in jedem Internetforum findet eine harte politische Auseinandersetzung statt, ein Ringen um das Fixieren oder um das Erschüttern von Hegemonie.
An der Stelle ist es zentral, sich vor Augen zu halten, welcher Art diese Auseinandersetzung ist, wie das Ringen um Hegemonie funktioniert. Denn dieses hat eine eigene Logik.
Die Hegemonie behauptet der, dem es gelingt, das Terrain der Auseinandersetzung und der Konsensbildung zu bestimmen. Hegemonie erringen heißt also, die gesellschaftliche Demarkationslinie zu bestimmen, heißt, die Menschen dort zu versammeln. Wenn etwa die Demarkationslinie "Flüchtlinge" durchgesetzt wird, dann versammeln sich weniger Menschen an der D-Linie soziale Gerechtigkeit oder Klimawandel.

Deshalb reicht es nicht, ein Thema zu haben, um die kulturelle Vorherrschaft zurückzugewinnen. Es muss vielmehr gelingen, das Thema mit einer Bedeutung, mit einem Identitätsangebot zu verbinden. Ja, Hegemonie folgt nicht aus Wahlsiegen. Hegemonie folgt aus einem politischen Projekt.

aus: Wiener Zeitung, 177.11.2017