Freitag, 16. Oktober 2020

Die Krisen der USA

 J.Adam Tooze im Interview

„Die Bedingungen für einen kalten Bürgerkrieg existieren bereits“
 

Der amerikanische Historiker J. Adam Tooze über die wirtschaftliche Entwicklung während der Corona-Krise, die Polarisierung in den USA und peinliche Fehler der Europäer.

Professor Tooze, wird diese Wirtschaftskrise, die wir durch die Pandemie erleben, noch zum Desaster werden?

Hängt ganz davon ab, wo man gerade lebt. Im April befürchtete man in Europa ja bis in die Chefetagen hinein, dass es zu einer politischen und ökonomischen Katastrophe kommen könnte. Die gesundheitspolitische Lage war schwierig, Europa zutiefst zerstritten. Die Lage drehte sich im Sommer zum Besseren. Es ist natürlich noch offen, ob der EU-Gipfel im Sommer die drängendsten Probleme gelöst hat, zumindest war er ein positiver Schritt.

Und wie ist es in den USA?

Das ist der Gegenpart dazu. Gut möglich, dass die kumulierenden Krisen hier in den USA sich bis zum Ende des Jahres zu einer profunden Staatskrise auswachsen werden. Die Pandemie ist dafür nicht die alleinige Ursache, doch Covid-19 ist ein Schock, der alles andere potenziert und multipliziert und den Brennstoff für eine zunehmend brenzliger werdende Lage in Amerika liefert. Es ist nicht abzusehen, wie es sich nach dem 3. November entwickeln wird. Je näher der Wahltag kommt, desto angespannter ist die Stimmung. Ein Stützungspaket für die Wirtschaft steht noch aus.

Im April herrschte reine Panik, warum haben sich die ökonomischen Horrorszenarien nicht erfüllt?

Es wurden alle wirtschaftspolitischen Mittel eingesetzt. Fiskal- und geldpolitische Maßnahmen in riesigem Ausmaß. Möglich wurde dies zweifellos durch die Bereitschaft der Zentralbanken, wie schon 2008, die Finanzmärkte zu stützen. Dass damit nicht alle ökonomischen Fragen gelöst werden können, liegt auf der Hand. Trotzdem ist diese Politik der Zentralbanken entscheidend, zumindest aber ausreichend, um diese Gefahr eines schweren Infarkts der Wirtschaft abzuwehren.

In Ihrem Buch „Crashed“ betonten Sie die wichtige Rolle der USA, die die Welt nach dem Finanzcrash 2008 aus dem Sumpf herausgezogen hat. Was ist zu erwarten, wenn die USA nun als Rettungsakteur ausfallen?

Die US-Notenbank, die Fed hat wie schon 2008 die Führung übernommen und sichergestellt, dass es im privaten Finanzmarktsystem nicht an Dollars gefehlt hat. Im Februar und März stieg der Dollar im Kurs extrem an, vor allem die Schwellenländer standen da unter einem extremen Finanzdruck. Und auch die Versorgung der europäischen Finanzinstitute mit Dollars wurde im März eng. In März erlebten wir selbst im Markt für amerikanische Staatspapiere gefährliche Turbulenzen. Diese Probleme wurden durch die Fed gelöst. Eine heftige Krise ist nach der Finanzkrise 2008, der Eurokrise von 2010, nun zum dritten Mal durch die Fed gelöst worden. Dieser Teil des amerikanischen Staatsapparates funktioniert bisher ohne störende Eingriffe vonseiten der Politik, und das trotz der ungeheuer gespaltenen Parteipolitik Amerikas.

Das könnte sich während des Wahlkampfs noch ändern.

Trump scheut vor nichts zurück. 2016 hat Trump im Wahlkampf die Fed zum Objekt seiner Polemik gemacht. Zuletzt im März hat er gegen Jerome Powell und die „Schwachköpfe“ in der Fed gewettert. Derzeit ist er zufrieden mit der Politik der Fed. Eher dürften sich einige in der US-Zentralbank den Kopf kratzen und die Zwickmühlen verfluchen, die sie dazu zwingen, angesichts der nationalen Notlage mit ihrer generösen Geldpolitik Trumps Wahlchancen zu befördern.

Wie massiv ist die Krise in den USA? Der Historiker Fritz Stern hielt schon vor zehn Jahren einen Bürgerkrieg in den USA für möglich.

Angesichts der zunehmend Gewalttätigen in Amerika, angesichts der auf den Straßen offen zur Schau getragenen Waffen der Rechten, der offenen Zusammenarbeit zwischen Polizei und weißen Militanten, kann man das nicht so ohne Weiteres ausschließen. Die Bedingungen für einen kalten Bürgerkrieg existieren bereits seit Jahrzehnten. Sie gehen auf die Ära der Bürgerrechtsbewegung zurück. Parteipolitisch ist die Polarisierung seit der Ära Clinton extrem. Die Gräben sind derart tief, dass heute die Chancen, dass ein Weißer und eine Schwarze heiraten, höher sind, als dass ein Wähler der Republikaner einen demokratischen Wähler heiraten würde. Das ist ein Indiz für die Tiefe der Krise. Es gibt keinen gesellschaftlichen Umgang mehr untereinander bei den beiden Teilen Amerikas.

In Wirtschaftskrisen werden US-Präsidenten in der Regel nicht wiedergewählt. Wie könnte es diesmal ausgehen?

Sie haben recht. Aber die Polarisierung geht mittlerweile so weit, dass selbst in der Einschätzung der Wirtschaftslage die Meinungen weit auseinandergehen und zwar auch bei Menschen, die selbst arbeitslos sind. Wenn man Bürger nach der wirtschaftlichen Lage fragt, muss man die Zusatzfrage stellen, welche politische Partei sie wählen. Es ist eine Realitätsspaltung, die vermuten lässt, dass die gewohnten Korrelationen zwischen Beschäftigungszahlen, Bruttosozialprodukt und Wahlausgang nicht mehr in der gleichen Weise tragfähig sein werden.

Worüber man sich einig sein kann, hier stimmen auch einige aus dem linken Lager zu, ist, dass Trump und mit ihm der Kongress bewiesen haben, dass man mit einer außergewöhnlich massiven defizitorientierten makroökonomischen Politik tatsächlich die US-Wirtschaft anheizen kann. Und wenn man das macht, schafft man eine Vollbeschäftigung. Das hatte vor allem für die diskriminierten Minderheiten in den USA eine positive Wirkung. Vor allem die schwarzen Männer finden nicht zuletzt Beschäftigung. Wenn man die Wirtschaft heißlaufen lässt, profitieren sie davon, wenngleich nicht in gleichem Maße wie andere. Die Republikaner haben bewiesen, dass man die Wirtschaft heißlaufen lassen kann, ohne dass es zu einem inflationären Kollaps kommt. Daraus sollten auch die Demokraten ihre Schlüsse ziehen. Man ist in der Vergangenheit gerade unter Bill Clinton und Barack Obama viel zu zaghaft gewesen beim Streben nach Vollbeschäftigung. Man darf aber nicht vergessen, dass die Republikaner zugleich eine knallharte Umverteilungspolitik von unten nach oben betrieben haben. Sie haben die Ungleichheit angeheizt, obwohl es durch die Wirtschaftspolitik kompensierende Effekte gibt.

Die Europäer warten auf einen Wechsel im Weißen Haus. Machen sich die Europäer etwas vor, wenn sie glauben, dass die USA ohne Trump vollkommen anders agieren?

Der 3. November wird für Europa ein entscheidendes Datum sein. Eine Regierung unter Joe Biden wird nicht ein solch unmöglicher Partner sein wie die Trump-Regierung es ist. Auch sie werden amerikanische Interessen verfolgen, aber nicht in der wirklich zum Teil absurden Form, wie es unter Trump betrieben worden ist. Sicherlich werden auch die Demokraten eine harte Linie gegenüber China fahren, aber das ist bei den Europäern nicht anders. Eine Biden-Regierung wird stärker das versuchen, was man auch Trump geraten hätte, es nämlich mit den Europäern gemeinsam zu machen. Aber es wird auch nach Trump zu verhandelnde Fragen geben in Sachen Handelspolitik, Datenschutz, Klimapolitik.

Welche Lehren sollte Europa aus der Trump-Zeit ziehen?

Europa muss sich auch den Vorwurf gefallen lassen, und das ist durchaus peinlich, dass Amerikas Unzufriedenheit und Klagen gegenüber Europa erst da ernst genommen wurden, als Trump in seiner typischen Art gedroht hat, Ernst zu machen. Gegenüber Trump war man bereit, Konzessionen zu machen, die man Obama nicht eingeräumt hätte. Auch das sollte Europa eigentlich peinlich sein.

In Ihrem Buch „Crashed“ haben Sie bereits davon gesprochen, dass die massive Globalisierung zunächst an ihr Ende gekommen ist. Wird die Pandemie eine De-Globalisierung einleiten?

Eine Entkopplung der USA von Europa in Sachen Finanzwirtschaft fand nach 2008 statt. Was sich heute andeutet, ist eine selektive Entkopplung in Bezug auf China. Es ist unklar, wie lange Peking bereit sein wird, die Schläge einzustecken. Man vermutet, dass China auf den 3. November wartet und erst nächstes Jahr Entscheidungen treffen wird. Auch ohne die Wendung gegen China in den USA war aufgrund des Lohngefälles abzusehen, dass China zunehmend durch Niedriglohnländer wie Vietnam und Bangladesch als Produktionsstandort abgelöst wird. Es gibt also verschiedene Möglichkeiten, die nicht ein Ende der Globalisierung bedeuten, sondern eine neu organisierte Globalisierung.

Auch ohne China leben über drei Milliarden Menschen in Asien. Sehen Sie als Historiker eine massive Wohlstandsverschiebung Richtung Asien, die durch die Pandemie noch beschleunigt wird.

Sie wird eher bestätigt. Es ist kein Geheimnis, dass diese Gewichtsverschiebung stattfindet. Es entspricht auch den Tatsachen der globalen Demographie. Es ist nur ein Zurechtrücken, ein Zurückpendeln in dem Sinne, dass sich die ökonomischen Verhältnisse der Verteilung der Menschen anpassen – und das seit drei Jahrzehnten. Und dabei ist China führend. Man darf nicht vernachlässigen, dass andere Länder in Asien wie etwa Indien auf vielen Feldern bestimmend sein werden, was für die Klimapolitik gilt wie auch für die Entwicklung von Technik oder großen Märkten. Wir leben nicht mehr in einer G-7 oder G-20-Welt, sondern in einer G-30-Welt, in der große Staaten wie Malaysia oder im afrikanischen Bereich Nigeria oder Äthiopien, Riesenstaaten mit mehr Bevölkerung als die größten europäischen Staaten, für das nächste halbe Jahrhundert und damit die globalen Probleme eine erhebliche Rolle spielen. Als Historiker ist man mit einer Entwicklung konfrontiert, die eigentlich viel schneller hätte kommen müssen. Die Frage ist nicht, ob das stattfindet, sondern warum es so lange gedauert hat.

Wir erleben eine Neuordnung der Welt. Wo findet sich da Europa wieder?

Ich schwanke zwischen Frustration und Bewunderung. Es ist beklagenswert, wie gering das Gewicht der europäischen Politik in entscheidenden globalen Fragen ist, eben wegen der mangelnden Geschlossenheit Europas. Andererseits denke ich: Warum regen wir uns darüber auf? Europas Position ist im Grunde beneidenswert in vielerlei Hinsicht.

Bringt die Pandemie zugleich das Ende des Neoliberalismus, wie einige sagen?

Ob es ein Bruch mit dem Neoliberalismus ist, hängt davon ab, was man unter dem Neoliberalismus versteht. Wenn man unter ihm lediglich verstehen würde, dass Staatsausgaben reduziert werden, dann wäre diese Krise für den Neoliberalismus das Aus. Der real existierende Neoliberalismus beinhaltet seit den 70er Jahren jedoch eine Kombination aus Deregulierung und massiver Eingriffsfähigkeit des Staates, wann immer es zu Krisen kam. Man muss sich zunächst sehr grundsätzlich fragen, was dieser Neoliberalismus für eine Gesellschaftsform ist, welche Interessengruppen er stützt. Denn was wir in dieser Krise nicht gesehen haben, ist eine Herausforderung dieser Interessensgruppen, denen der Neoliberalismus dient. Im Grunde haben wir eine massiv interventionistische, aber zutiefst konservative Politik. Man stellt das Staatsbudget zur Verfügung, um die bestehende Struktur des Besitzes und Machtzentren in der Wirtschaft zu schützen. Die Eingriffe selbst stellen für mich keinen fundamentalen Bruch dar, sondern eine Kontinuität mit der Politik seit 2008. Es gibt jedoch eine Entzauberung, eine Desillusionierung, der Schleier ist weg, da man gesehen hat, wie der Neoliberalismus tatsächlich funktioniert. Die unverfrorene Behauptung, dass der Neoliberalismus ohne Staat funktionieren kann, lässt sich nicht weiter behaupten.

Interview: Michael Hesse, Frankfurter Rundschau 12.10.2020

Angstpolitik

Angstpolitik. Die Spaltung der USA

Richard Kreitner im Interview, in: taz, 3.10.2020


taz am wochenende: Machen wir ein Gedankenexperiment. Es ist das Jahr 2040, die Vereinigten Staaten von Amerika existieren nicht mehr. Wo würden Sie leben und wie würde das Land aussehen?

Richard Kreitner: Ich lebe in New York, ich mag die Stadt und die Menschen sehr. Wären die Vereinigten Staaten auseinandergebrochen, würde ich immer noch hier leben wollen. Vermutlich würden Kalifornien oder Texas die Union zuerst verlassen.

Warum?

Beide Staaten, auch deren Gouverneure und Mainstream-Po­litiker*innen, haben in den letzten Jahren mehr oder weniger laut über dieses Szenario nachgedacht. Die Geschichte zeigt, dass andere Staaten folgen, wenn einer seine Unabhängigkeit erklärt. Das haben wir aus dem Sezessionskrieg zwischen Nord- und Südstaaten von 1861 bis 1865 gelernt. Geografisch würde das Land wohl in mehrere regionale Nationen zerfallen und New York könnte eine nordöstliche Republik anführen. Ich bin kein Fan dieser Vorstellung. Im Endeffekt wäre das nur ein konfuser Prozess, um den Niedergang der Vereinigten Staaten zu verwalten.

Der Sezessionskrieg brachte die USA an den Rand der Auflösung. An welchem Punkt in der Geschichte war diese Gefahr ähnlich groß?

Zehn Jahre vor dem Sezes­sionskrieg hätte es beinahe einen ähnlichen Konflikt gegeben. Die Vereinigten Staaten expandierten in den Westen und die große Streitfrage war, ob die Sklaverei auch dort eingeführt werden sollte.

Was ist denn der historisch schwerwiegendste Faktor für die innere Instabilität der US-amerikanischen Union?

Besonders in der Anfangsphase der jungen Republik wirkte die Geografie des Landes destabilisierend. Nach der Revolution gegen Großbritannien, im späten 18. Jahrhundert, zogen Siedler auf die Westseite der Appalachen. Das Gebirge zieht sich im Osten der USA von Nord- nach Südosten. Um zu überleben, mussten diese Siedler Handel betreiben. Sie konnten ihre Waren aber nicht auf dem beschwerlichen Weg über die Berge schicken, an die östlichen Häfen wie New York. Also schickten sie ihre Waren den Mississippi runter, nach New Orleans. Allerdings war die Stadt damals nicht unter US-amerikanischer, sondern unter spanischer Kontrolle. Diese Leute standen also vor der Wahl, sich zum Osten zu bekennen, eine eigene Nation mit Treueschwur an Spanien zu gründen oder gleich ganz Teil von Spanien zu werden.

Wenn man in die Gegenwart schwenkt, auf die heutigen Konflikte und Diskurse in den USA, dann hat es den Anschein, als fände sich das Land erneut in einer Art Revolution wieder. Man könnte vielleicht sogar von einem diskursiven Kriegszustand sprechen.

Politik in den USA ist wie Bürgerkrieg mit anderen Mitteln. Manche Menschen sind bereit, auf noch schärfere Mittel als den Diskurs zurückzugreifen. Das ist beängstigend in einem Land, in dem es fast mehr Waffen als Einwohner*innen gibt. Linke und Rechte sprechen relativ locker über die Spaltung der USA. Nach den Wahlen 2016 meinten Bekannte von mir, dass sie gern ein eigenes Land gründen oder nach Kanada ziehen würden. Hinter den Rechten versammeln sich Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker*innen, die schon den nächsten Bürgerkrieg kommen sehen. Solche Abspaltungsgedanken gibt es in den USA schon immer. Allerdings wirkt das politische System immer unfähiger, unsere inneren Streitereien abzufedern.

In seiner Wahlkampagne setzt Donald Trump auf Angst. Die Black-Lives-Matter-Proteste bezeichnet er als Terrorismus, China bedroht das wirtschaftliche Überleben der USA. Brauchen die Vereinigten Staaten die äußere und innere Bedrohung, um zusammenzuhalten?

Absolut. Es fing mit den Überfällen indigener Be­woh­ner*innen auf die frühen Siedlungen an. Die Siedler*innen ­waren so verängstigt, dass sie sich zusammentaten, obwohl sie das nicht vorhatten. Das zieht sich bis heute durch. Die Angst hält das Land zusammen. Viel mehr als die Sprache, die Religion, Kultur oder die Geografie. Ständig wird irgendein Krieg ausgefochten, intern oder extern, kalt oder heiß, real oder metaphorisch, dauernd muss irgendein Feind bekämpft werden.

Ein konservativer Kommentator nannte die Sezession eine dumme Fantasie der Linken. Ihr Buch sei demnach nur ein Beweis für den linken Hass auf die Vereinigten Staaten.

Sobald sich Politiker*innen oder Intellektuelle, von welcher Seite auch immer, äußern, kommt gleich der Vorschlaghammer. All das sei festgefahren, links oder rechts. Ich bin nur ein Typ, der in seinem Kämmerlein ein Buch geschrieben hat. 2016, als ich die Idee zu dem Buch hatte, konnte ich natürlich nicht ahnen, dass wir heute eine Art Live-Action-Epilog dazu erleben würden.

Was wäre denn trotzdem ein triftiger Grund, die Union der Vereinigten Staaten aufzulösen?

Wir könnten so die Demokratie bewahren. Von den frühen Tagen der Verfassung bis heute sind sich viele Menschen einig, dass ein so großes Land nicht demokratisch regiert werden kann. 2016 gewannen die Demokraten die Präsidentschaftswahl mit drei Millionen Stimmen Vorsprung und trotzdem wurde Trump Präsident. Letztendlich bestimmt das Wahlmännerkollegium den*die Prä­si­dent*in. Wenn es dieses Jahr wieder so läuft wie 2016, könnte zum Beispiel ein Ultimatum zur Abschaffung dieses Kollegiums auf den Plan treten. Außerdem hat jeder Bundesstaat die gleiche Anzahl an Stimmen im Senat, obwohl zum Beispiel Kalifornien ungefähr 70 Mal so viele Ein­wohner*innen hat wie kleine Staaten wie Wyoming oder Rhode Island. Wo ist da die Balance? Ein weiteres Argument für eine Spaltung ist der Klimawandel. Wir haben zehn Jahre verloren, weil die USA völlig dysfunktional agieren. Anstatt nochmal zehn Jahre zu verlieren, wäre es besser, wenn die Staaten im liberalen Nordosten oder Kalifornien vorangehen.

Welche Wirkung hätte das denn auf die Bundespolitik?

In Kalifornien gelten strengere Regeln für Abgasemissionen von Autos. Aufgrund seiner Größe hat Kalifornien viel Gewicht bei der Bundesgesetzgebung. Wenn Kalifornien dieses Gewicht einsetzt, müssen sich andere Staaten diesen Regeln anpassen. Trump hat Kalifornien wegen seiner strengen Regeln verklagt, der Prozess steht noch aus. Wenn die Bundesregierung weiter progressive Vorstöße in den Bundesstaaten unterdrückt, werden sich mehr und mehr Menschen noch einmal überlegen, ob eine Loslösung von der Union nicht sinnvoller wäre. Aber wie gesagt, ich finde diese Vorstellung ganz und gar nicht gut.

Dennoch haben die Bundesstaaten Mittel an der Hand, um Widerstand zu signalisieren. Wie sehen die konkret aus?

Kalifornien könnte sich zum Beispiel langsam vortasten, ohne gleich komplett aus der Union auszutreten. Ein tragisches, aber interessantes Beispiel sind die großen Waldbrände dort. In solchen Fällen sind die Bundesstaaten sehr auf Hilfe von der Bundesregierung angewiesen und darin liegt ein wichtiger Beweggrund, nicht aus dem Staatenverbund auszutreten. Wie die New York Times kürzlich allerdings berichtete, wollte Trump diese offizielle Nothilfe für Kalifornien streichen, weil es nicht seine politische Basis ist. Wenn ein*e kün­­ftige*r republikanische*r Prä­­sident*in ähnlich vorgeht, könnten Staaten wie Kalifornien zum Beispiel Steuereinnahmen zurückhalten, die an die Bundeskassen fließen. Demokratisch geführte Staaten zahlen mehr in diese Kassen ein als republikanisch geführte. Die nehmen mehr, als sie geben.

In ihrem Buch „Break It Up“ lesen Sie die Vorstellungen der USA gegen den Strich. Was wollen Sie im derzeitigen politischen Klima bei den Menschen auslösen?

Wir sprechen zu viel über Begriffe wie Nation oder Amerika. Letztendlich sind die Vereinigten Staaten eine Union einzelner Bundesstaaten, die schon seit langer Zeit schwächelt. Jeder Präsident spricht in der traditionellen Ansprache zur Lage der Union natürlich trotzdem davon, wie stark sie ist. Stattdessen steuern wir auf einen Bruch zu, auf eine Wahl, die möglicherweise angefochten werden wird, auf neue Gewalt auf den Straßen. Wir müssen also ganz bewusst und klar darüber diskutieren, ob die Union zusammenhalten soll oder nicht. Ansonsten schlafwandeln wir doch bloß in eine Katastrophe.

Die Spaltung der USA

Richard Herzinger 

 Kurz vor der US-Präsidentschaftswahl ist die Zukunft der Vereinigten Staaten von Amerika so ungewiss wie seit dem Sezessionskrieg von 1861 bis 1865 nicht mehr. Erhebliche Zweifel sind angebracht, ob die Wahl überhaupt regulär über die Bühne gehen kann und ob die unterlegene Seite das Ergebnis anerkennen wird. So extrem zugespitzt ist die politische und kulturelle Polarisierung des Landes, dass nach der Wahl mit massiven Ausbrüchen von Gewalt, wenn nicht mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen gerechnet werden muss.

Donald Trump bereitet diesem Szenario den Boden, indem er im Voraus erklärt, dass seine Wiederwahl nur durch einen gigantischen Betrug verhindert werden könne. Dass Trump sein Amt im Falle einer Niederlage freiwillig abgeben wird, erscheint unter diesen Vorzeichen immer unwahrscheinlicher. Seine angeblich überstandene Corona-Infektion lässt ihn in seinen eigenen wie in den Augen seiner Anhänger endgültig als unbesiegbar und unantastbar erscheinen. Mittels legaler wie illegaler Manöver könnte Trump die Amtsübergabe zumindest so lange hinauszögern, bis das Land in Hass und Chaos versinkt - und er sich dann als einzig berufener Retter der Nation vor ihrem Untergang präsentieren kann. Indirekt ermutigt er schon jetzt schwer bewaffnete rechtsextreme Milizen, sich für den entscheidenden Moment bereit zu halten. 

Auf der anderen Seite würde ein Wahlsieg Trumps bei den Anhängern der Demokraten massive Zweifel wecken, ob dabei alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Tatsächlich stellt die in manchen republikanisch regierten Bundesstaaten zu verzeichnende Praxis, Wahllokale zu reduzieren und vor allem schwarzen Bürgern die Stimmabgabe zu erschweren, eine ernsthafte Beeinträchtigung des Wahlrechts dar. Auch eine massive Einschüchterung von Wählern und Wahlhelfern durch fanatische Trump-Anhänger ist denkbar. Das alles zeigt, wie akut das Überleben der US-Demokratie gefährdet ist. 

Aber es steht für die USA noch mehr auf dem Spiel: Selbst das Auseinanderbrechen ihrer staatlichen Einheit scheint angesichts der extremen, hasserfüllten Konfrontation zwischen den gesellschaftlichen Lagern nicht ausgeschlossen. In einem taz-Interview (unser Resümee) erinnerte der US-Autor Richard Kreitner kürzlich an die Dynamik, die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Abspaltung der Südstaaten von der Union und zu dem darauf folgenden Bürgerkrieg führte. Die Fliehkräfte, die damals die Nation zerrissen, sind unterschwellig bis heute präsent - auch wenn eine mögliche Spaltung heute nicht entlang derselben geografischen Linie verlaufen würde. Zwar ist kaum vorstellbar, dass sich eine Tragödie dieses Ausmaßes in den USA wiederholen kann. Doch die Gefahr eines schleichenden Rückzugs einzelner Bundesstaaten aus der Union ist durchaus real. 

Staaten wie Kalifornien und New York etwa stehen in Fragen des Grundverständnisses einer Gesellschaft in solch fundamentalem Gegensatz zum harten Kern des republikanischen Lagers, dass auf längere Sicht eine Separation geradezu zwingend erscheint. Gewiss, dies sind Negativszenarien, die keineswegs so eintreten müssen. Doch in einer Zeit, in der vieles wahr zu werden pflegt, was gerade noch für unmöglich gehalten wurde, tut man gut daran, auch den schlimmsten Fall nicht auszuschließen. Die Erfolgsgeschichte der USA seit dem Ende des Bürgerkrieges hat vielfach vergessen lassen, wie fragil die Konstruktion und die Balance der amerikanischen Gesellschaft stets gewesen ist. 

Seit ihrer Gründung vor nahezu 250 Jahren führen die USA ein einzigartiges weltgeschichtliches Experiment durch. Das von den Verfassungsvätern eingeführte Prinzip der "Regierung durch das Volk und für das Volk", damals ein unerhörtes geschichtliches Novum, ist auch heute weltweit alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Nicht weniger kühn war die Gründungsidee der USA, Menschen unabhängig von ihrer Abstammung und Religion in einer Gesellschaft von Bürgern mit gleichen Rechten zu vereinen. Durch schwerste innere Konflikte und Rückschläge hindurch haben die USA an dieser Grundorientierung festgehalten. 

Doch jetzt hat sich ein großer Teil der Nation, dessen Stimme Trump ist, von dem aufklärerischen, universalistischen Gründungsimpetus der amerikanischen Demokratie radikal losgesagt. Aber auch auf der äußersten Linken, deren Einfluss bis weit in die Demokratische Partei reicht, hat sich eine Ideologie verfestigt, die den klassischen Werten der amerikanischen Demokratie feindlich gesonnen ist. Im Namen einer an den Interessen unterdrückter Minderheiten orientierten "Identitätspolitik" denunzieren linke Radikale die universalistischen Grundwerte der USA als in ihrem Kern "rassistisch". 

Der Wertekonsens, der die US-Gesellschaft jahrhundertelang zusammengehalten hat, droht von zwei Seiten her zertrümmert zu werden. Sollte die US-Demokratie kollabieren oder das Land zumindest durch eine existenziell bedrohliche Staatskrise paralysiert werden, würde es auch für die europäischen Nationen sehr schwer, ihre demokratische Ordnung zu bewahren. Erliegt die US-Demokratie den Kräften des Irrationalismus und der autoritären Regression, wird das die übrige demokratischen Welt zutiefst demoralisieren. Ein Scheitern der Demokratie in den USA, dem Leitstern moderner demokratischer Gemeinwesen schlechthin, könnte somit gar das Ende der Epoche der liberalen Demokratie insgesamt einläuten. 

Nur ein überwältigender Erdrutschsieg Joe Bidens mit vielen Stimmen auch aus der republikanischen Wählerschaft könnte fürs erste sicherstellen, dass es nicht so weit kommt. Denn er würde signalisieren, dass die gesellschaftliche Mitte keine weitere Eskalation des Konflikts zwischen den beiden politisch-gesellschaftlichen Lagern, sondern deren Wiederannäherung wünscht. Dies würde die Republikaner zwingen, von ihrem Flirt mit der extremen Rechten abzulassen, und es würde zugleich die gemäßigten Kräfte in der Demokratischen Partei stärken. Doch eine solcher Wahlausgang ist kaum zu erwarten. Eher wird es zu einem knappen Ergebnis kommen - das die USA und mit ihr die Demokratien weltweit in eine existenzielle Krise stürzen könnte. 

 

aus: Perlentaucher, 15.10.2020