Freitag, 16. Oktober 2020

Die Krisen der USA

 J.Adam Tooze im Interview

„Die Bedingungen für einen kalten Bürgerkrieg existieren bereits“
 

Der amerikanische Historiker J. Adam Tooze über die wirtschaftliche Entwicklung während der Corona-Krise, die Polarisierung in den USA und peinliche Fehler der Europäer.

Professor Tooze, wird diese Wirtschaftskrise, die wir durch die Pandemie erleben, noch zum Desaster werden?

Hängt ganz davon ab, wo man gerade lebt. Im April befürchtete man in Europa ja bis in die Chefetagen hinein, dass es zu einer politischen und ökonomischen Katastrophe kommen könnte. Die gesundheitspolitische Lage war schwierig, Europa zutiefst zerstritten. Die Lage drehte sich im Sommer zum Besseren. Es ist natürlich noch offen, ob der EU-Gipfel im Sommer die drängendsten Probleme gelöst hat, zumindest war er ein positiver Schritt.

Und wie ist es in den USA?

Das ist der Gegenpart dazu. Gut möglich, dass die kumulierenden Krisen hier in den USA sich bis zum Ende des Jahres zu einer profunden Staatskrise auswachsen werden. Die Pandemie ist dafür nicht die alleinige Ursache, doch Covid-19 ist ein Schock, der alles andere potenziert und multipliziert und den Brennstoff für eine zunehmend brenzliger werdende Lage in Amerika liefert. Es ist nicht abzusehen, wie es sich nach dem 3. November entwickeln wird. Je näher der Wahltag kommt, desto angespannter ist die Stimmung. Ein Stützungspaket für die Wirtschaft steht noch aus.

Im April herrschte reine Panik, warum haben sich die ökonomischen Horrorszenarien nicht erfüllt?

Es wurden alle wirtschaftspolitischen Mittel eingesetzt. Fiskal- und geldpolitische Maßnahmen in riesigem Ausmaß. Möglich wurde dies zweifellos durch die Bereitschaft der Zentralbanken, wie schon 2008, die Finanzmärkte zu stützen. Dass damit nicht alle ökonomischen Fragen gelöst werden können, liegt auf der Hand. Trotzdem ist diese Politik der Zentralbanken entscheidend, zumindest aber ausreichend, um diese Gefahr eines schweren Infarkts der Wirtschaft abzuwehren.

In Ihrem Buch „Crashed“ betonten Sie die wichtige Rolle der USA, die die Welt nach dem Finanzcrash 2008 aus dem Sumpf herausgezogen hat. Was ist zu erwarten, wenn die USA nun als Rettungsakteur ausfallen?

Die US-Notenbank, die Fed hat wie schon 2008 die Führung übernommen und sichergestellt, dass es im privaten Finanzmarktsystem nicht an Dollars gefehlt hat. Im Februar und März stieg der Dollar im Kurs extrem an, vor allem die Schwellenländer standen da unter einem extremen Finanzdruck. Und auch die Versorgung der europäischen Finanzinstitute mit Dollars wurde im März eng. In März erlebten wir selbst im Markt für amerikanische Staatspapiere gefährliche Turbulenzen. Diese Probleme wurden durch die Fed gelöst. Eine heftige Krise ist nach der Finanzkrise 2008, der Eurokrise von 2010, nun zum dritten Mal durch die Fed gelöst worden. Dieser Teil des amerikanischen Staatsapparates funktioniert bisher ohne störende Eingriffe vonseiten der Politik, und das trotz der ungeheuer gespaltenen Parteipolitik Amerikas.

Das könnte sich während des Wahlkampfs noch ändern.

Trump scheut vor nichts zurück. 2016 hat Trump im Wahlkampf die Fed zum Objekt seiner Polemik gemacht. Zuletzt im März hat er gegen Jerome Powell und die „Schwachköpfe“ in der Fed gewettert. Derzeit ist er zufrieden mit der Politik der Fed. Eher dürften sich einige in der US-Zentralbank den Kopf kratzen und die Zwickmühlen verfluchen, die sie dazu zwingen, angesichts der nationalen Notlage mit ihrer generösen Geldpolitik Trumps Wahlchancen zu befördern.

Wie massiv ist die Krise in den USA? Der Historiker Fritz Stern hielt schon vor zehn Jahren einen Bürgerkrieg in den USA für möglich.

Angesichts der zunehmend Gewalttätigen in Amerika, angesichts der auf den Straßen offen zur Schau getragenen Waffen der Rechten, der offenen Zusammenarbeit zwischen Polizei und weißen Militanten, kann man das nicht so ohne Weiteres ausschließen. Die Bedingungen für einen kalten Bürgerkrieg existieren bereits seit Jahrzehnten. Sie gehen auf die Ära der Bürgerrechtsbewegung zurück. Parteipolitisch ist die Polarisierung seit der Ära Clinton extrem. Die Gräben sind derart tief, dass heute die Chancen, dass ein Weißer und eine Schwarze heiraten, höher sind, als dass ein Wähler der Republikaner einen demokratischen Wähler heiraten würde. Das ist ein Indiz für die Tiefe der Krise. Es gibt keinen gesellschaftlichen Umgang mehr untereinander bei den beiden Teilen Amerikas.

In Wirtschaftskrisen werden US-Präsidenten in der Regel nicht wiedergewählt. Wie könnte es diesmal ausgehen?

Sie haben recht. Aber die Polarisierung geht mittlerweile so weit, dass selbst in der Einschätzung der Wirtschaftslage die Meinungen weit auseinandergehen und zwar auch bei Menschen, die selbst arbeitslos sind. Wenn man Bürger nach der wirtschaftlichen Lage fragt, muss man die Zusatzfrage stellen, welche politische Partei sie wählen. Es ist eine Realitätsspaltung, die vermuten lässt, dass die gewohnten Korrelationen zwischen Beschäftigungszahlen, Bruttosozialprodukt und Wahlausgang nicht mehr in der gleichen Weise tragfähig sein werden.

Worüber man sich einig sein kann, hier stimmen auch einige aus dem linken Lager zu, ist, dass Trump und mit ihm der Kongress bewiesen haben, dass man mit einer außergewöhnlich massiven defizitorientierten makroökonomischen Politik tatsächlich die US-Wirtschaft anheizen kann. Und wenn man das macht, schafft man eine Vollbeschäftigung. Das hatte vor allem für die diskriminierten Minderheiten in den USA eine positive Wirkung. Vor allem die schwarzen Männer finden nicht zuletzt Beschäftigung. Wenn man die Wirtschaft heißlaufen lässt, profitieren sie davon, wenngleich nicht in gleichem Maße wie andere. Die Republikaner haben bewiesen, dass man die Wirtschaft heißlaufen lassen kann, ohne dass es zu einem inflationären Kollaps kommt. Daraus sollten auch die Demokraten ihre Schlüsse ziehen. Man ist in der Vergangenheit gerade unter Bill Clinton und Barack Obama viel zu zaghaft gewesen beim Streben nach Vollbeschäftigung. Man darf aber nicht vergessen, dass die Republikaner zugleich eine knallharte Umverteilungspolitik von unten nach oben betrieben haben. Sie haben die Ungleichheit angeheizt, obwohl es durch die Wirtschaftspolitik kompensierende Effekte gibt.

Die Europäer warten auf einen Wechsel im Weißen Haus. Machen sich die Europäer etwas vor, wenn sie glauben, dass die USA ohne Trump vollkommen anders agieren?

Der 3. November wird für Europa ein entscheidendes Datum sein. Eine Regierung unter Joe Biden wird nicht ein solch unmöglicher Partner sein wie die Trump-Regierung es ist. Auch sie werden amerikanische Interessen verfolgen, aber nicht in der wirklich zum Teil absurden Form, wie es unter Trump betrieben worden ist. Sicherlich werden auch die Demokraten eine harte Linie gegenüber China fahren, aber das ist bei den Europäern nicht anders. Eine Biden-Regierung wird stärker das versuchen, was man auch Trump geraten hätte, es nämlich mit den Europäern gemeinsam zu machen. Aber es wird auch nach Trump zu verhandelnde Fragen geben in Sachen Handelspolitik, Datenschutz, Klimapolitik.

Welche Lehren sollte Europa aus der Trump-Zeit ziehen?

Europa muss sich auch den Vorwurf gefallen lassen, und das ist durchaus peinlich, dass Amerikas Unzufriedenheit und Klagen gegenüber Europa erst da ernst genommen wurden, als Trump in seiner typischen Art gedroht hat, Ernst zu machen. Gegenüber Trump war man bereit, Konzessionen zu machen, die man Obama nicht eingeräumt hätte. Auch das sollte Europa eigentlich peinlich sein.

In Ihrem Buch „Crashed“ haben Sie bereits davon gesprochen, dass die massive Globalisierung zunächst an ihr Ende gekommen ist. Wird die Pandemie eine De-Globalisierung einleiten?

Eine Entkopplung der USA von Europa in Sachen Finanzwirtschaft fand nach 2008 statt. Was sich heute andeutet, ist eine selektive Entkopplung in Bezug auf China. Es ist unklar, wie lange Peking bereit sein wird, die Schläge einzustecken. Man vermutet, dass China auf den 3. November wartet und erst nächstes Jahr Entscheidungen treffen wird. Auch ohne die Wendung gegen China in den USA war aufgrund des Lohngefälles abzusehen, dass China zunehmend durch Niedriglohnländer wie Vietnam und Bangladesch als Produktionsstandort abgelöst wird. Es gibt also verschiedene Möglichkeiten, die nicht ein Ende der Globalisierung bedeuten, sondern eine neu organisierte Globalisierung.

Auch ohne China leben über drei Milliarden Menschen in Asien. Sehen Sie als Historiker eine massive Wohlstandsverschiebung Richtung Asien, die durch die Pandemie noch beschleunigt wird.

Sie wird eher bestätigt. Es ist kein Geheimnis, dass diese Gewichtsverschiebung stattfindet. Es entspricht auch den Tatsachen der globalen Demographie. Es ist nur ein Zurechtrücken, ein Zurückpendeln in dem Sinne, dass sich die ökonomischen Verhältnisse der Verteilung der Menschen anpassen – und das seit drei Jahrzehnten. Und dabei ist China führend. Man darf nicht vernachlässigen, dass andere Länder in Asien wie etwa Indien auf vielen Feldern bestimmend sein werden, was für die Klimapolitik gilt wie auch für die Entwicklung von Technik oder großen Märkten. Wir leben nicht mehr in einer G-7 oder G-20-Welt, sondern in einer G-30-Welt, in der große Staaten wie Malaysia oder im afrikanischen Bereich Nigeria oder Äthiopien, Riesenstaaten mit mehr Bevölkerung als die größten europäischen Staaten, für das nächste halbe Jahrhundert und damit die globalen Probleme eine erhebliche Rolle spielen. Als Historiker ist man mit einer Entwicklung konfrontiert, die eigentlich viel schneller hätte kommen müssen. Die Frage ist nicht, ob das stattfindet, sondern warum es so lange gedauert hat.

Wir erleben eine Neuordnung der Welt. Wo findet sich da Europa wieder?

Ich schwanke zwischen Frustration und Bewunderung. Es ist beklagenswert, wie gering das Gewicht der europäischen Politik in entscheidenden globalen Fragen ist, eben wegen der mangelnden Geschlossenheit Europas. Andererseits denke ich: Warum regen wir uns darüber auf? Europas Position ist im Grunde beneidenswert in vielerlei Hinsicht.

Bringt die Pandemie zugleich das Ende des Neoliberalismus, wie einige sagen?

Ob es ein Bruch mit dem Neoliberalismus ist, hängt davon ab, was man unter dem Neoliberalismus versteht. Wenn man unter ihm lediglich verstehen würde, dass Staatsausgaben reduziert werden, dann wäre diese Krise für den Neoliberalismus das Aus. Der real existierende Neoliberalismus beinhaltet seit den 70er Jahren jedoch eine Kombination aus Deregulierung und massiver Eingriffsfähigkeit des Staates, wann immer es zu Krisen kam. Man muss sich zunächst sehr grundsätzlich fragen, was dieser Neoliberalismus für eine Gesellschaftsform ist, welche Interessengruppen er stützt. Denn was wir in dieser Krise nicht gesehen haben, ist eine Herausforderung dieser Interessensgruppen, denen der Neoliberalismus dient. Im Grunde haben wir eine massiv interventionistische, aber zutiefst konservative Politik. Man stellt das Staatsbudget zur Verfügung, um die bestehende Struktur des Besitzes und Machtzentren in der Wirtschaft zu schützen. Die Eingriffe selbst stellen für mich keinen fundamentalen Bruch dar, sondern eine Kontinuität mit der Politik seit 2008. Es gibt jedoch eine Entzauberung, eine Desillusionierung, der Schleier ist weg, da man gesehen hat, wie der Neoliberalismus tatsächlich funktioniert. Die unverfrorene Behauptung, dass der Neoliberalismus ohne Staat funktionieren kann, lässt sich nicht weiter behaupten.

Interview: Michael Hesse, Frankfurter Rundschau 12.10.2020

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