Dienstag, 16. Februar 2016
Demokratie Öffentlichkeit Freiheit
Angriff auf die Freiheit. Emanzipations-Bewegungen haben weltweit die Autokraten aufgeschreckt. Doch auch Demokratien suspendieren Bürgerrechte
Vor den Terroranschlägen in Paris im November war es gesetzlich zulässig, auf einem öffentlichen Platz der Stadt eine Demonstration abzuhalten. Jetzt nicht mehr. In Uganda waren Bürger, die sich gegen Korruption oder für Schwulenrechte einsetzten, häufig öffentlichen Anfeindungen ausgesetzt, aber es drohte ihnen kein Gefängnis, wenn sie demonstrierten. Doch jetzt tut es das dank eines erschreckend vage formulierten neuen Gesetzes. In Ägypten führten die Behörden vor Kurzem Razzien in einigen bekannten kulturellen Einrichtungen – einer Kunstgalerie, einem Theater und einem Verlag, wo sich früher Künstler und Aktivisten trafen – durch und schlossen diese.
Weltweit, so scheint es, wachsen zunehmend Mauern um die Räume, die Menschen brauchen, um sich zu versammeln, zu vereinen, frei zu äußern und ihrer Opposition Ausdruck zu verleihen. Auch wenn Internet und Kommunikationstechnologie es technisch einfacher machen denn je, sich öffentlich zu Wort zu melden, gewährleistet die allgegenwärtige Überwachung durch Staat und Wirtschaftsunternehmen, dass freie Meinungsäußerung, Vereinigung und Protest eingeschränkt bleiben. Kurz gesagt: Sich öffentlich zu äußern hat noch nie so viel Mut erfordert wie heute.
Ich selbst könnte von dieser Veränderung nicht unmittelbarer betroffen sein. Im November wurden die Open Society Foundations (die von mir geleiteten globalen philanthropischen Stiftungen von George Soros) als zweite Organisation in Russland auf eine schwarze Liste gesetzt. Grundlage war ein im Mai verabschiedetes Gesetz, das dem russischen Generalstaatsanwalt erlaubt, ausländische Organisationen zu verbieten und ihre finanzielle Unterstützung lokaler Aktivisten zu stoppen. Weil jeder, der mit uns zu tun hat, Gefahr läuft, verhaftet und eingesperrt zu werden, hatten wir keine andere Wahl, als unsere Beziehungen zu Dutzenden russischer Bürger abzubrechen, die wir bei ihren Bemühungen unterstützt hatten, wenigstens einen Bruchteil von Demokratie in ihrem Lande zu bewahren.
Es ist natürlich völlig in Ordnung, den öffentlichen Raum und die Organisationen, die ihn nutzen, zu regulieren. Anfang der 90er-Jahre versäumten es einige neue Regierungen in Osteuropa, Afrika und Lateinamerika, die die Macht einer aktiven Bürgerschaft und Zivilgesellschaft unterschätzten, Lobbyorganisationen und den Raum, in dem diese tätig sind, zu regulieren. Doch als während der letzten zwei Jahrzehnte aktive Bürger Regime in Dutzenden von Ländern stürzten, haben sich viele Regierungen zu weit in die andere Richtung bewegt und überzogene Regeln für diese Organisationen und den öffentlichen Raum erlassen. Dabei kriminalisieren sie grundlegendste Formen demokratischer Praxis. In einigen Fällen machen sich Regierungen nicht mal die Mühe, eine rechtliche Grundlage für ihre Handlungen zu schaffen. Im vergangenen Frühjahr trat in Burundi Präsident Pierre Nkurunziza eine dritte Amtszeit an, obwohl die Verfassung eine Begrenzung auf zwei Amtszeiten vorsieht. Als die Bürger auf die Straße gingen, um zu protestieren, wurden die Proteste gewaltsam unterdrückt.
Selbst in Ländern mit weltweit besonders starker demokratischer Tradition verschärft sich das Vorgehen der Staatsorgane. Nach den Anschlägen von Paris haben Frankreich und Belgien (wo die Planung und Organisation stattfand) die bürgerlichen Freiheiten unbefristet ausgesetzt und sich selbst über Nacht – zumindest was die Gesetzeslage angeht – in Polizeistaaten verwandelt. In beiden Ländern wurden Demonstrationen verboten, Gotteshäuser geschlossen, und Hunderte von Menschen wurden verhaftet und verhört, weil sie eine unkonventionelle Meinung geäußert hatten. Dieser Ansatz hat einen hohen Preis. Tausende von Menschen, die im vergangenen Monat bei den UN-Klimaverhandlungen demonstrieren wollten, mussten sich damit begnügen, am geplanten Demonstrationsort ihre Schuhe zu hinterlassen. Es war ein bestürzendes Bild, das deutlich machte, wie Angst jene Selbstverpflichtungen hinwegfegen kann, die zur Aufrechterhaltung offener Gesellschaften und politischer Freiheiten erforderlich sind – selbst in Europa, dem Geburtsort des modernen Bürgerrechts.
Es gibt keine einfache Formel für die Regulierung des öffentlichen Raums oder den Schutz friedlicher politischer Opposition in einem Zeitalter des Terrorismus und der Globalisierung. Zwei Grundprinzipien freilich sind klar.
Erstens braucht die Welt stärkere internationale Regeln für den freien Verkehr von Menschen und Geld und weniger Beschränkungen der Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit und Opposition. Viele Regierungen bewegen sich in letzter Zeit in eine falsche Richtung. Doch bietet das Jahr 2016 viele Möglichkeiten für Korrekturen in Bereichen vom Handel bis hin zur Migration.
Zweitens brauchen nicht gewinnorientierte Organisationen, die auf die Verbesserung staatlicher Politik hinarbeiten, dieselben Rechte, um sich international Finanzmittel zu verschaffen, wie gewinnorientierte Unternehmer, die Waren und Dienstleistungen anbieten wollen. Ausländische Direktinvestitionen sollten ermutigt und nicht behindert werden, unabhängig davon, ob sie die Warenproduktion und die Schaffung von Arbeitsplätzen oder eine solidere staatliche Politik und aktivere staatsbürgerliche Betätigung fördern.
Die Verantwortung für einen Kurswechsel liegt nicht allein bei den Regierungen. Alle von uns, die offene öffentliche Räume wertschätzen, müssen im Schulterschluss die politischen Regelwerke und Institutionen unterstützen, die diese schützen. Dies ist eine Zeit der Solidarität über Bewegungen, Anliegen und Länder hinweg. Wenn staatsbürgerliches Engagement ausreicht, um einen ins Gefängnis zu bringen, und die Angst vor Überwachung massenhafte Passivität fördert, ist eine auf Einzelinteressen gründende Politik keine Erfolg versprechende Strategie. Der beste Weg, den öffentlichen Raum zu verteidigen, besteht darin, ihn zu besetzen, selbst wenn man sich für eine andere Sache engagiert als die neben einem stehende Person. Im Jahr 2016 müssen wir diesen Raum gemeinsam füllen – und auf diese Weise schützen.
Die Welt, 16. Feb. 2016
Donnerstag, 7. August 2014
Rechtsstaat Österreich
Das ist Legesthenie
Ilija Trojanow: Josef S. war kein Einzelfall: Wie die Gerichte immer wahnsinniger werden (taz, 7.8.2014)
Die Farce ist bekanntlich ein schwieriges Genre, wird sie doch von Literaten weniger gut beherrscht als von Bürokraten, vor allem von Justizbeamten.Wer sich mit dem real existierenden Wahnsinn vertraut machen will, der muss nur die Urteile der Legestheniker (Latein: jene, die Schwierigkeiten haben, das Alphabet der Gerechtigkeit zu entziffern) studieren. Zum Beispiel jene des Obersten Gerichtshofes der USA, die zum Beispiel die oligarchische Zerstörung demokratischer Strukturen durch Konzerne unter "Meinungsfreiheit" subsumieren. Mit anderen Worten: Zur Meinungsfreiheit gehört auch, dass man sich die passende Meinung kaufen kann. "Die Gedanken sind frei, wer kann sie ersteigern", pfeifen die Spatzen von den Kuppeln Washingtons.
Der Rechtsstaat als Spucknapf
Aber warum denn in die Ferne schweifen, wenn das Absurde in unseren Gefilden ebenso emsig gepflegt wird? Wie schwierig es sein kann, in Österreich zu leben, kann nur ermessen, wer in Österreich lebt. Gemütlich sitzt man im Schanigarten, alles scheint lebensbejahend kommod zu sein, da greift der eigene Bürgersinn nach der Zeitung, schlägt sie auf, und man gerät stante pede in eine Schockstarre. Oder bekommt einen Tobsuchtsanfall. Denn der Staatsapparat der Alpenrepublik offenbart immer öfter, dass er mit Idealen wie Recht und Freiheit auf dem Kriegsfuß steht. Der Rechtsstaat, oft ohnehin nur ein Feigenblatt, ist inzwischen zu einem Spucknapf verkommen, in den die Richter ihre Urteile speien.
So erst letzte Woche eine Richterin am Wiener Landesgericht für Zivilrechtssachen, die über folgenden Fall zu urteilen hatte: Martin Balluch, hochgeschätzter Philosoph und Tierschutzaktivist, wurde zusammen mit einigen anderen Mitgliedern des Vereins gegen Tierfabriken von 2008 an mit einer auf dem Papier lächerlichen, in ihrer Wirkung aber brutalen Klage terrorisiert. Die Justiz wollte mit einem neuen Paragrafen (§ 278a StGB), der gegen mafiöse und terroristische Gruppen zum Einsatz kommen sollte, auf Spritztour gehen, und da es Felix Austria offensichtlich sowohl an Mafiosi wie auch an Terroristen mangelt, mussten die Veganer herhalten. Der Prozess endete, wie er enden musste (jede Farce hat ihr Ablaufdatum), die Angeklagten wurden freigesprochen, und Martin Balluch klagte danach auf Schadenersatz (100 Tage U-Haft, mehrere Jahre berufliche Paralysierung, etwa 1 Million Euro Rechtsanwaltskosten - derart gesalzen und gepfeffert sind die Kosten einer Groteske). Nun urteilte das hohe Gericht, die Klage sei verjährt (anschnallen bitte, es folgt Monty Python auf Speed), weil Martin Balluch ja gewusst habe, dass er unschuldig sei und daher schon zum Zeitpunkt seiner Verhaftung diese Klage auf Schadenersatz für eventuelles Fehlverhalten von Polizei und Justiz hätte einreichen müssen.
Auftritt: die Präventivklage
Wenn Sie also, liebe Leserin, lieber Leser, in Österreich in Untersuchungshaft sitzen sollten, reichen Sie sofort prophylaktisch Ihre Schadenersatzklage ein. So unwahrscheinlich sich das anhört, ist es nicht. Das kann der Student Josef S. bezeugen. Der 23-Jährige lebt in Jena, hatte aber die Unverfrorenheit, in Wien gegen den Akademikerball einer rechtsextremen Burschenschaft protestieren zu wollen.
Solcher "Krawalltourismus" ist den einheimischen Polizisten höchst verdächtig, die allerdings beim Prozess unisono bestätigten, eine Identifizierung von gewalttätigen Demonstranten sei unmöglich, weil diese "alles tun, um eine Identifizierung zu verhindern" (schwarze Bekleidung, Vermummung etc.). Ein bei der Beweisaufnahme vorgelegtes Foto des Angeklagten beweist somit eher, dass er nicht zu den gewalttätigen Teilnehmern gehörte. Keiner der insgesamt 2.500 anwesenden Polizisten hat den Angeklagten (obwohl dieser konspirativ ungeschickt einen auffälligen Pullover und eine reflektierende Hose trug) bei einer strafbaren Handlung beobachtet.
Aber solche erkennungsdienstlichen Details können geübte Legestheniker nicht aufhalten. Weil es den Paragrafen des Landfriedensbruchs gibt (ein Relikt aus Zeiten des Feudalismus und Absolutismus), konnte der Staatsanwalt munter fabulieren, es sei zu bestrafen, wer "in einer Menschenmenge verharrt und daraus heraus entsprechende Straftaten begeht".
Sippenhaft mal anders
Gemeint war eher: Wenn aus einer Menge heraus eine Straftat begangen wird, sind all jene, die sich in der Menge aufhalten, schuldig. So wurde der deutsche Student zu einem Jahr teilbedingter Haft verurteilt und gleich entlassen, weil er zuvor knapp sechs Monate in Untersuchungshaft gesessen hatte. Selber schuld, oder wie der Wiener Polizeipräsident im Fernsehen von sich gab: "Wer sich mit Hunden ins Bett legt, darf sich nicht wundern, wenn er mit Flöhen aufwacht."
Eine Woche später räumten unzählige - manche Quellen sprechen von 1.700 - Polizisten ein besetztes Haus im Wiener Bezirk Leopoldstadt. Ausgerüstet wie für einen Einsatz im Bürgerkrieg, überfiel diese Kampftruppe einige anarchistisch gesinnte Hausbesetzer, um Recht und Ordnung (ergo: Spekulation) wieder in Kraft zu setzen. Die demokratische Einstellung der Beamten wird selbst von nüchternen Fachleuten infrage gestellt. "Es herrscht eine Freund-Feind-Wagenburgmentalität", erklärte Reinhard Kreissl, Leiter des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie, der ZeitungDer Standard, "die Polizei rechnet immer mit dem Worst Case und ist nicht imstande, Probleme anders zu sehen als einen Angriff von Feinden."
Das Volk ist der Feind: Das klingt nicht gut, entspricht aber neuesten Entwicklungen, auch auf EU-Ebene. Versteckt hinter dem Feuerwerk der Fußball-WM fasste der EU-Ministerrat einen Beschluss, der den europaweiten Einsatz von Polizei und Armee gegen aufmüpfige Bürgerinnen und Bürger eines Landes ermöglicht (die Umsetzung des § 222 des Lissaboner Vertrags). Es sieht so aus, als würden Protest und Widerstand, der Kampf für eine gerechtere Gesellschaft, zunehmend kriminalisiert werden. Und Österreich befindet sich, selten genug, an vorderster Front dieser Entwicklung.