Montag, 29. Juni 2015

Die Auflösung von Politik in Marktkonformität

Jürgen Habermas

Warum Merkels Griechenland-Politik ein Fehler ist


Nicht Banken, sondern Bürger müssen über Europa entscheiden, das fordert der berühmte Philosoph Jürgen Habermas. Angela Merkel habe die Krise mitverursacht. Der Kanzlerin seien die Anlegerinteressen wichtiger als die Sanierung der griechischen Wirtschaft.
Von Jürgen Habermas

Das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofes wirft ein grelles Licht auf die Fehlkonstruktion einer Währungsgemeinschaft ohne politische Union. Alle Bürger mussten im Sommer 2012 Mario Draghi dafür dankbar sein, dass er sie mit einem einzigen Satz vor den desaströsen Folgen eines unmittelbar drohenden Kollapses ihrer Währung bewahrt hat.

Mit der Ankündigung, notfalls Staatsanleihen in unbegrenzter Höhe anzukaufen, hatte er für die Euro-Gruppe die Kastanien aus dem Feuer geholt. Er musste vorpreschen, weil die Regierungschefs unfähig waren, im europäischen Gemeininteresse zu handeln; sie blieben ihren jeweils nationalen Interessen verhaftet und verharrten in Schockstarre.
EZB-Präsident Mario Draghi am Montag auf dem Weg zum Krisentreffen der Euro-Finanzminister in Brüssel.

Die Finanzmärkte reagierten damals mit Entspannung auf einen einzigen Satz, mit dem der Chef der Europäischen Zentralbank eine Fiskalsouveränität simulierte, die er gar nicht besaß. Denn es sind nach wie vor die Zentralbanken der Mitgliedstaaten, die für Kredite in letzter Instanz haften.

Diese Kompetenz hat der Europäische Gerichtshof zwar nicht gegen den Wortlaut der Europäischen Verträge bestätigen können; aber es liegt in der Konsequenz seines Urteils, dass die Europäische Zentralbank mit wenigen Einschränkungen den Handlungsspielraum eines Kreditgebers der letzten Hand ausfüllen darf.

Das Gericht hat die nicht ganz verfassungskonforme Rettungsaktion abgesegnet, und das Bundesverfassungsgericht wird wohl mit den gewohnten Zuspitzungen dem Urteil folgen.

Man ist versucht zu sagen, das Recht der Europäischen Verträge muss von deren Hütern nicht direkt gebeugt, aber doch gebogen werden, um von Fall zu Fall missliche Konsequenzen jener Fehlkonstruktion der Währungsgemeinschaft auszubügeln, die - wie Juristen, Politologen und Ökonomen seit vielen Jahren immer wieder nachgewiesen haben - nur durch eine Reform der Institutionen behoben werden kann.

Der zwischen Karlsruhe und Luxemburg hin- und her geschobene Fall beleuchtet in der Konstruktion der Währungsgemeinschaft eine Leerstelle, die die Europäische Zentralbank auf dem Wege der Nothilfe ausgefüllt hat. Aber die fehlende Fiskalsouveränität ist nur eine der vielen verwundbaren Stellen. Die Währungsgemeinschaft bleibt instabil, solange sie nicht um eine Banken-, Fiskal- und Wirtschaftsunion ergänzt wird. Das bedeutet aber, wenn wir die Demokratie nicht unverhohlen zur Dekoration erklären wollen, den Ausbau der Währungsgemeinschaft zu einer politischen Union.

Jene dramatischen Ereignisse von 2012 erklären, warum Mario Draghi gegen den trägen Strom einer kurzsichtigen, ja kopflosen Politik schwimmt. Nach dem Regierungswechsel in Griechenland meldete er sich sogleich zu Wort: "Wir brauchen einen Quantensprung bei der institutionellen Konvergenz. . . . Wir müssen wegkommen von einem Regelsystem für nationale Wirtschaftspolitik und stattdessen mehr Souveränität an gemeinsame Institutionen abgeben"; auch wenn man es von einem ehemaligen Goldman-Sachs-Banker nicht erwarten konnte, wollte er diese überfälligen institutionellen Reformen sogar mit "mehr demokratischer Rechenschaft" verbunden sehen (siehe Süddeutsche Zeitung vom 17. März 2015, Seite 15).

Hier sprach jemand, der erfahren hatte, dass das Gerangel hinter verschlossenen Türen zwischen Regierungschefs, die nur an ihre nationale Wählerklientel denken, nicht ausreicht, um zu notwendigen fiskal-, wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen zu gelangen. Heute, drei Monate später, ist die Europäische Zentralbank schon wieder dabei, mit Notkrediten für handlungsunfähige Regierungen Zeit zu kaufen.

Weil für die deutsche Bundeskanzlerin schon im Mai 2010 die Anlegerinteressen wichtiger waren als ein Schuldenschnitt zur Sanierung der griechischen Wirtschaft, stecken wir wieder in einer Krise. Jetzt kommt die Blöße eines anderen institutionellen Defizits zum Vorschein.

Das griechische Wahlergebnis ist das Votum einer Nation, die sich mit deutlicher Mehrheit gegen das ebenso erniedrigende wie niederdrückende soziale Elend einer dem Land oktroyierten Sparpolitik zur Wehr setzt. An dem Votum selbst gibt es nichts zu deuteln: Die Bevölkerung lehnt die Fortführung einer Politik ab, deren Fehlschlag sie am eigenen Leibe drastisch erfahren hat. Mit dieser demokratischen Legitimation ausgestattet, macht die griechische Regierung den Versuch, einen Politikwechsel in der Euro-Zone herbeizuführen.

Dabei stößt sie in Brüssel auf die Repräsentanten von 18 anderen Regierungen, die ihre Ablehnung mit dem kühlen Hinweis auf ihr eigenes demokratisches Mandat rechtfertigen. Man erinnert sich an jene ersten Begegnungen, als sich die präpotent auftretenden Novizen in der Hochstimmung ihres Triumphes mit den teils paternalistisch-onkelhaft, teils routiniert-abfällig reagierenden Eingesessenen einen grotesken Schlagabtausch lieferten: Beide Seiten pochten papageienhaft darauf, vom jeweilig eigenen "Volk" autorisiert worden zu sein.

Die ungewollte Komik ihres einträchtig nationalstaatlichen Denkens führte der europäischen Öffentlichkeit unübertrefflich vor Augen, was wirklich fehlt - ein Fokus für eine gemeinsame politische Willensbildung der Bürger über folgenreiche politische Weichenstellungen in Kerneuropa.

Aber der Schleier über diesem institutionellen Defizit ist noch nicht wirklich zerrissen. Die griechische Wahl hat Sand ins Brüsseler Getriebe gestreut, weil in diesem Fall die Bürger selbst über eine europapolitische Alternative entschieden haben, die ihnen auf den Nägeln brennt.

Andernorts machen ja die Regierungsvertreter solche Entscheidungen technokratisch unter sich aus und verschonen ihre nationalen Öffentlichkeiten mit beunruhigenden Themen. Die Kompromissverhandlungen in Brüssel stocken wohl eher deshalb, weil beide Seiten die Fruchtlosigkeit der Verhandlungen gerade nicht der Fehlkonstruktion von Verfahren und Institutionen, sondern dem falschen Verhalten ihrer Partner zur Last legen.

Gewiss, in der Sache geht es um das sture Festhalten an einer Sparpolitik, die nicht nur in der internationalen Wissenschaft überwiegend auf Kritik stößt, sondern in Griechenland barbarische Kosten verursacht hat und hier nachweislich gescheitert ist. Aber in dem Grundkonflikt, dass die eine Seite einen Wechsel dieser Politik herbeiführen möchte, während sich die andere Seite hartnäckig weigert, sich überhaupt auf politische Verhandlungen einzulassen, verrät sich eine tiefer liegende Asymmetrie.

Man muss sich das Anstößige, ja Skandalöse dieser Weigerung klarmachen: Der Kompromiss scheitert nicht an ein paar Milliarden mehr oder weniger, nicht einmal an dieser oder jener Auflage, sondern allein an der griechischen Forderung, der Wirtschaft und der von korrupten Eliten ausgebeuteten Bevölkerung mit einem Schuldenschnitt - oder einer äquivalenten Regelung, beispielsweise einem wachstumsabhängigen Schuldenmoratorium - einen neuen Anfang zu ermöglichen.

Stattdessen bestehen die Gläubiger auf der Anerkennung eines Schuldenberges, den die griechische Wirtschaft niemals wird abtragen können. Wohlgemerkt, es ist unstrittig, dass ein Schuldenschnitt über kurz oder lang unvermeidlich ist. Die Gläubiger bestehen also wider besseres Wissen auf der formellen Anerkennung einer tatsächlich untragbaren Schuldenlast.

Bis vor Kurzem beharrten sie sogar auf der buchstäblich fantastischen Forderung eines Primärüberschusses von mehr als vier Prozent. Diese ist zwar auf eine immer noch unrealistische Forderung von einem Prozent gesenkt worden; aber bislang scheitert eine Einigung, an der das Schicksal der Europäischen Union hängt, an der Forderung der Gläubiger, eine Fiktion aufrechtzuerhalten.

Natürlich gibt es für die "Geberländer" politische Gründe für das Festhalten an dieser Fiktion, mit der sich eine unangenehme Entscheidung kurzfristig aufschieben lässt. Sie befürchten beispielsweise einen Dominoeffekt in anderen "Nehmerländern"; und Angela Merkel ist sich einer eigenen Mehrheit im Bundestag nicht sicher. Aber eine falsche Politik muss im Lichte ihrer kontraproduktiven Folgen so oder so revidiert werden. Andererseits darf man die Schuld für das Patt auch nicht nur der einen Seite in die Schuhe schieben.

Ich kann nicht beurteilen, ob dem taktischen Vorgehen der griechischen Regierung eine überlegte Strategie zugrunde liegt, und was daran mit politischen Zwängen, was mit der Unerfahrenheit oder der Inkompetenz des handelnden Personals zu erklären ist. Über die verbreiteten Praktiken und die gesellschaftlichen Strukturen, die möglichen Reformen entgegenstehen, bin ich unzureichend informiert.

Offensichtlich ist jedenfalls, dass die Wittelsbacher keinen funktionierenden Staat aufgebaut haben. Allerdings können solche schwierigen Umstände nicht erklären, warum es die griechische Regierung selbst ihren Sympathisanten schwer macht, eine Linie in ihrem erratischen Verhalten zu erkennen. Man sieht keinen vernünftigen Versuch, Koalitionen zu bilden; man weiß nicht, ob die Linksnationalisten nicht doch einer etwas ethnozentrischen Vorstellung von Solidarität anhängen und den Verbleib in der Euro-Zone nur aus Klugheitsgründen betreiben - oder ob ihre Perspektive doch über den Nationalstaat hinausreicht.

Die Forderung nach einem Schuldenschnitt als der Basso continuo ihrer Verhandlungen reicht jedenfalls nicht aus, um auf der Gegenseite wenigstens die Zuversicht zu wecken, dass die neue Regierung anders ist - dass sie energischer und verantwortungsvoller handeln wird als die klientelistischen Regierungen, die sie abgelöst hat.

Tsipras und Syriza hätten das Reformprogramm einer linken Regierung entwickeln und damit ihre Verhandlungspartner in Brüssel und Berlin "vorführen" können. Amartya Sen hat die von der deutschen Bundesregierung durchgesetzte Sparpolitik noch im vergangenen Monat mit einem Medikament verglichen, das eine toxische Mischung aus Antibiotika und Rattengift enthält.

Die linke Regierung hätte ganz im Sinne des wirtschaftswissenschaftlichen Nobelpreisträgers eine keynesianische Entmischung der Merkel'schen Medizin vornehmen und alle neoliberalen Zumutungen konsequent zurückweisen können; aber gleichzeitig hätte sie ihre Absicht glaubhaft machen müssen, die fällige Modernisierung von Staat und Wirtschaft durchzuführen, einen Lastenausgleich vorzunehmen, Korruption und Steuerflucht zu bekämpfen usw.

Stattdessen hat sie sich aufs Moralisieren verlegt - auf ein blame game, das die deutsche Regierung unter den gegebenen Umständen in die vorteilhafte Lage versetzt hat, in neu-deutscher Robustheit die völlig berechtigte Klage Griechenlands über den cleveren Schlussstrich in den Zwei-plus-vier-Verhandlungen abzuschmettern.

Das schwache Auftreten der griechischen Regierung ändert nichts an dem Skandal, der darin besteht, dass sich die Politiker in Brüssel und Berlin weigern, ihren Kollegen aus Athen als Politiker zu begegnen. Sie sehen zwar wie Politiker aus, lassen sich aber nur in ihrer ökonomischen Rolle als Gläubiger sprechen. Diese Verwandlung in Zombies hat den Sinn, der verschleppten Insolvenz eines Staates den Anschein eines unpolitischen, vor Gerichten einklagbaren privatrechtlichen Vorgangs zu geben.

Denn dann lässt sich eine politische Mitverantwortung umso leichter verleugnen. Unsere Presse macht sich über den Akt der Umbenennung der Troika lustig; er ist tatsächlich so etwas wie eine magische Handlung. Aber darin äußert sich der legitime Wunsch, dass hinter der Maske der Geldgeber doch das Gesicht der Politiker hervortreten möge. Denn nur als Politiker können diese für einen Misserfolg, der sich in massenhaft vertanen Lebenschancen, in Arbeitslosigkeit, Krankheit, sozialem Elend und Hoffnungslosigkeit ausgebreitet hat, zur Rechenschaft gezogen werden.
Der Skandal im Skandal ist die Hartleibigkeit

Angela Merkel hat für ihre zweifelhaften Rettungsaktionen von vornherein den Internationalen Währungsfonds ins Boot geholt. Dieser ist für Dysfunktionen des internationalen Finanzsystems zuständig; als Therapeut sorgt er für dessen Stabilität und handelt daher im Gesamtinteresse der Anleger, insbesondere der institutionellen Investoren.

Als Mitglieder der Troika verschmelzen auch europäische Institutionen mit diesem Akteur, sodass sich Politiker, soweit sie in dieser Funktion handeln, in die Rolle strikt regelgebunden handelnder und unbelangbarer Agenten zurückziehen können.

Diese Auflösung von Politik in Marktkonformität mag die Chuzpe erklären, mit der Vertreter der deutschen Bundesregierung, ausnahmslos hochmoralische Menschen, ihre politische Mitverantwortung für die verheerenden sozialen Folgen leugnen, die sie als Meinungsführer im Europäischen Rat mit der Durchsetzung der neoliberalen Sparprogramme doch in Kauf genommen haben.

Der Skandal im Skandal ist die Hartleibigkeit, mit der die deutsche Regierung ihre Führungsrolle wahrnimmt. Deutschland verdankt den Anstoß zu dem ökonomischen Aufstieg, von dem es heute noch zehrt, der Klugheit der Gläubigernationen, die ihm im Londoner Abkommen von 1953 ungefähr die Hälfte seiner Schulden erlassen haben.

Aber es geht nicht um eine moralische Peinlichkeit, sondern um den politischen Kern: Die politischen Eliten in Europa dürfen sich nicht länger vor ihren Wählern verstecken und selber den Alternativen ausweichen, vor die uns eine politisch unvollständige Währungsgemeinschaft stellt. Es sind die Bürger, nicht die Banken, die in europäischen Schicksalsfragen das letzte Wort behalten müssen.

Zur postdemokratischen Einschläferung der Öffentlichkeit trägt auch der Gestaltwandel der Presse zu einem betreuenden Journalismus bei, der sich Arm in Arm mit der politischen Klasse um das Wohlbefinden von Kunden kümmert.

Die Regeln des Spiels. Kapital gegen Politik


Frank Lübberding

Schlafwandler auf dem Weg in die Katastrophe


Eigentlich soll das eine TV-Kritik sein, aber der folgende Text zur Talk Show über den Konflikt um Griechenland unter der Leitung Günter Jauch vom 28. Juni 2015 ist eine veritable Analyse des Konflikts - und geht auf die TV-Sendung so gut wie nicht ein.

Vielleicht gibt es in Zukunft einen Historiker, der über die „Schlafwandler“ in der Europäischen Union ein vergleichbares Buch schreibt, wie Christopher Clark über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Wie das europäische Projekt mit Volldampf vor die Wand gefahren ist, weil alle Akteure im Gegensteuern keine Alternative mehr sahen. Sie waren von ideologischen Überzeugungen und innenpolitischen Zwängen geprägt, zudem mit der Funktionslogik europäischer Institutionen heillos überfordert. Ob dieses Mal Weihnachten alles vorbei sein wird? Solche Krisen lebten schon immer von der fehlenden Vorstellungskraft über mögliche Konsequenzen.
Politiker und Technokraten

Dieser fiktive Historiker sollte sich Jauchs Sendung von gestern Abend ansehen. Dort wurde deutlich, was in der eskalierenden Griechenland-Krise dieser Tage das Problem ist. Das machte sich an zwei Gäste fest: Am Syriza-Berater Theodoros Paraskevopoulos und an Klaus Regling, geschäftsführender Direktor der europäischen Rettungsschirme ESM und EFSF. Es war der Konflikt zwischen einem Politiker und einem Technokraten. Für Paraskevopoulos ist Syriza die Vertretung der „Armen und Ausgegrenzten“ in Europa. Zudem stritt er sich mit Regling über die Rolle des IWF in den vergangenen Jahrzehnten. Es geht somit keineswegs nur um Griechenlands Zukunft in der Eurozone, sondern um eine Grundsatzfrage europäischer Politik. Regling war bei den Verhandlungen in Brüssel dabei gewesen. Bei Paraskevopoulos kam für Regling das Problem zum Ausdruck, was die Eurogroup seit Februar mit der neuen Regierung in Athen hat.

Es ginge ihr nicht „um Mehrwertsteuersätze“, sondern um das „Wirtschaftssystem“, so Regling, wogegen die anderen Ministern in der Eurogroup etwas völlig anderes erreichen wollten. Nämlich wie Griechenland die verbindlichen Zusagen zur Haushaltskonsolidierung in den kommenden Jahren einhalten will. Regling ist dabei nicht der unpolitische Technokrat seligen Angedenkens. Die Grundlage seiner Argumentation ist schließlich die Öffnung von Märkten als Funktionsmechanismus der europäischen Integration. Das kann man Neoliberalismus nennen, ihn auch ökonomisch und politisch kritisieren. Aber das Argument des früheren bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU) der Regelgebundenheit kann man nicht einfach ignorieren, selbst wenn man diese Regeln für falsch hält. Stoiber nannte dafür zwei Kennziffern: Die Höchstgrenze der jährlichen Nettoneuverschuldung von 3 % und ein Staatsdefizit von 60 %, beides im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt.

Wie gesagt: Diese Regeln beruhen auf einer politischen Entscheidung und sind nicht das Ergebnis der höheren Weisheit technokratischer Logik. Aber sie können nur einvernehmlich geändert werden, während es in der Umsetzung dieser Regeln durchaus gewisse Interpretationsspielräume gibt. Diese wurden bekanntlich in der Vergangenheit vielfältig genutzt. Aber jede Regierung leidet an einer grotesken Selbstüberschätzung, wenn sie diese Grundsatzentscheidung im Alleingang zu ändern versuchen sollte. Da kann man sich als Sachwalter der Mühseligen und Beladenen begreifen: Es ist sinnlos, wenn nicht die Schwesterparteien von Syriza im übrigen Europa ebenfalls die Regierungen stellen sollten. Da nützt es nichts auf die Situation in Deutschland hinzuweisen, wie es Paraskevopoulos machte, als er auf Lohnzurückhaltung und Rentenkürzungen hingewiesen hatte.

Man kann diese Kürzungen sogar für einen politischen Fehler halten. Nur wird sich bei den Brüsseler Verhandlungen über Griechenlands zukünftige Refinanzierung niemand für solche Argumente interessieren, weil sie zum Eingangstor für ideologische Konflikte werden. Anschließend könnte man nur noch den Dissens feststellen. Jeder, der das versucht, wird sich am Ende isolieren.
Hinweis an Washington

Das ist Syriza passiert, spätestens mit der Ankündigung des Referendums am kommenden Sonntag. Es ginge dort „um die Frage, ob das Ultimatum angenommen wird oder nicht“, so Paraskevopoulos. Er meinte damit die Vorschläge der Eurogroup aus der vergangenen Woche. Der Syriza-Berater kritisierte zudem den vorherigen ARD-Brennpunkt zum Streit in der EU als „Propaganda“ der deutschen Politik. Den mag man kritisieren, allerdings gibt es in diesem Konflikt eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Konfliktparteien: Das ist ihre wechselseitige Verlogenheit. Oder glaubt jemand ernsthaft, dem Ministerpräsidenten in Athen geht es beim Referendum um die Rettung der Demokratie?

In Wirklichkeit fürchtete Alexis Tsipras die innerparteilichen Konflikte, wenn er sich auf die Forderungen der EU-Technokraten einlässt. Es wäre das Eingeständnis gewesen, die Bedingungen des Eurosystems anerkennen zu müssen, selbst wenn man die Regeln für falsch hält. Die Revolution fällt anschließend mit einer Konsequenz aus: Man muss das System verlassen, hier „Grexit“ genannt.

Paraskevopoulos bemühte sich darum, diesen Eindruck zu zerstreuen. Es ginge beim Referendum gar nicht „um Euro oder Nicht-Euro.“ Außerdem werde man danach weiterverhandeln. Es ginge schließlich „um viel Geld“, nämlich die Bürgschaften der europäischen Steuerzahler. Zudem habe niemand ein Interesse an „außen- und sicherheitspolitische Turbulenzen, gerade im östlichen Mittelmeer.“ Ein Hinweis, der in Washington sicher verstanden worden ist.

Tsipras ist mit der Ankündigung des Referendums in der Sackgasse gelandet. Davon wollte Paraskevopoulos nichts wissen. Die Schließung der Banken und die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen versuchte er nach Kräften zu relativieren. Diesen Versuch der Entdramatisierung könnte man Realitätsverlust nennen - oder auch geschickte Propaganda. Regling wollte dagegen keine Prognose abgeben. Es gebe „in den nächsten Tagen soviel Unsicherheiten“, das er nicht wisse, „was in acht Tagen passiert“. Nur repräsentierte Regling zugleich die andere Seite dieses Dramas, die es an Verlogenheit durchaus mit Athen aufnehmen kann.

Selbstredend beharrte man nicht nur aus technokratischen Argumenten auf die strikte Erfüllung der griechischen Haushaltsziele. Es ging auch immer um die politische Symbolik für mit Syriza vergleichbare Bewegungen in anderen europäischen Ländern. Oder warum haben die sogenannten „Institutionen“ nicht die Möglichkeiten einer flexiblen Interpretation der bekannten Regeln besser genutzt? Griechenland hatte bis zum Jahr 2010 weit über seine Verhältnisse gelebt, aber mittlerweile die „hauptsächlichen Anpassungsleistungen“ schon gemacht, so Regling. Da brauche „nicht mehr soviel passieren“. Aber dafür müsse man Zusammenarbeiten und „kann nicht das Wirtschaftssystem ändern“. Auf dieser Grundlage soll man sich nicht einigen können?

Aber es ging eben beiden Seiten nur noch um dieses „Wirtschaftssystem“, oder was sie darunter verstanden. Bei den politischen Dilettanten in Athen, weil sie ihren Verhandlungsspielraum überschätzten. Niemand, und ganz sicher nicht eine bankrotte Volkswirtschaft wie Griechenland, kann per Handstreich die Funktionslogik einer Währungsunion ändern. Dieser linke Voluntarismus ist abenteuerlich und muss zwangsläufig außerhalb der Eurozone enden. Das gilt aber in gleicher Weise für die anderen Eurogroup-Staaten. Jede Kritik an der bisherigen Politik wird von deren Ministern für sakrosankt erklärt als läge ihr eine päpstliche Enzyklika zugrunde.

Nur hört kaum noch jemand auf den Papst. So sprechen beide Seiten von „Ultimaten“ und „Erpressung“. Werfen sich wechselseitig „Lügen“ und „Propaganda“ vor. In dieser Krise ist Europa zum Schauplatz ideologischer Grabenkämpfe und innerpolitischer Zwänge geworden. Die aufgeputschte Stimmung auf beiden Seiten ist ja nicht zu überhören. Es reduziert für beide Seiten den Handlungsspielraum, um sich anschließend nur noch Grundsatzerklärungen vorzulesen. So wird das enge Korsett der Europäischen Union gesprengt, weil solche Konflikte in Verhandlungen wie jetzt in Brüssel nicht gelöst werden können. Sie muss man schon im Vorfeld verhindern. Genau das wurde versäumt.

Seit Freitag Nacht sind wieder moderne „Schlafwandler“ unterwegs. Ein Kompromiss gilt als Gesichtsverlust. Die Eskalation als Ausweg aus der verfahrenen Lage, die schon lange nur noch für Überdruss sorgt. Insoweit kann niemand wissen, was an diesem Montag passiert, geschweige denn in einer Woche. Niemand sollte aber auf den großen Befreiungsschlag hoffen. Solche Kalkulationen haben noch nie funktioniert. Leider macht das gegenwärtige politische Personal keinen besseren Eindruck als das von 1914. Aber wir sind auch erst am Beginn der Krise. Wer weiß das schon? Vielleicht findet sich ja noch jemand mit ungeahnten Führungsqualitäten.

Samstag, 20. Juni 2015

Woody Allen über den Klimawandel

Verzweifeln angesichts des Klimawandels gilt nicht und zum Puritaner muss man deshalb auch nicht werden, das lehrt schon Woody Allen: "In 'Der Stadtneurotiker' hört der junge Alvy Singer auf, seine Hausaufgaben zu machen, weshalb ihn seine Mutter zu einem Psychiater schickt. Es stellt sich heraus, dass Alvy gelesen hat, dass sich das Universum ausdehnt, sodass es eines Tages gewiss auseinanderbrechen wird, und für ihn war das ein Grund, keine Hausaufgaben mehr zu machen: 'Was hat das noch für einen Sinn?' Im Schatten gewaltiger globaler Probleme und gewaltiger globaler Mittel können kleinere Aktionen zum Schutz der Natur bedeutungslos erscheinen. Aber Alvys Mutter will davon nichts hören. 'Du bist hier in Brooklyn!', sagt sie. 'Brooklyn dehnt sich nicht aus!'"

Fund im Perlentaucher 

Freitag, 5. Juni 2015

Offene Gesellschaft

David Cameron: "Zu lange Zeit waren wir eine passiv tolerante Gesellschaft und sagten zu unseren Bürgern: Solange ihr unseren Gesetzen folgt, lassen wir euch in Ruhe." Edward Snowdens dazu: "Bei der Jahrtausendwende sagten wenige voraus, dass die Bürger demokratischer und entwickelter Länder demnächst gezwungen wären, den Begriff der offenen Gesellschaft gegen ihre Politiker zu verteidigen."