Montag, 29. Juni 2015

Die Regeln des Spiels. Kapital gegen Politik


Frank Lübberding

Schlafwandler auf dem Weg in die Katastrophe


Eigentlich soll das eine TV-Kritik sein, aber der folgende Text zur Talk Show über den Konflikt um Griechenland unter der Leitung Günter Jauch vom 28. Juni 2015 ist eine veritable Analyse des Konflikts - und geht auf die TV-Sendung so gut wie nicht ein.

Vielleicht gibt es in Zukunft einen Historiker, der über die „Schlafwandler“ in der Europäischen Union ein vergleichbares Buch schreibt, wie Christopher Clark über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Wie das europäische Projekt mit Volldampf vor die Wand gefahren ist, weil alle Akteure im Gegensteuern keine Alternative mehr sahen. Sie waren von ideologischen Überzeugungen und innenpolitischen Zwängen geprägt, zudem mit der Funktionslogik europäischer Institutionen heillos überfordert. Ob dieses Mal Weihnachten alles vorbei sein wird? Solche Krisen lebten schon immer von der fehlenden Vorstellungskraft über mögliche Konsequenzen.
Politiker und Technokraten

Dieser fiktive Historiker sollte sich Jauchs Sendung von gestern Abend ansehen. Dort wurde deutlich, was in der eskalierenden Griechenland-Krise dieser Tage das Problem ist. Das machte sich an zwei Gäste fest: Am Syriza-Berater Theodoros Paraskevopoulos und an Klaus Regling, geschäftsführender Direktor der europäischen Rettungsschirme ESM und EFSF. Es war der Konflikt zwischen einem Politiker und einem Technokraten. Für Paraskevopoulos ist Syriza die Vertretung der „Armen und Ausgegrenzten“ in Europa. Zudem stritt er sich mit Regling über die Rolle des IWF in den vergangenen Jahrzehnten. Es geht somit keineswegs nur um Griechenlands Zukunft in der Eurozone, sondern um eine Grundsatzfrage europäischer Politik. Regling war bei den Verhandlungen in Brüssel dabei gewesen. Bei Paraskevopoulos kam für Regling das Problem zum Ausdruck, was die Eurogroup seit Februar mit der neuen Regierung in Athen hat.

Es ginge ihr nicht „um Mehrwertsteuersätze“, sondern um das „Wirtschaftssystem“, so Regling, wogegen die anderen Ministern in der Eurogroup etwas völlig anderes erreichen wollten. Nämlich wie Griechenland die verbindlichen Zusagen zur Haushaltskonsolidierung in den kommenden Jahren einhalten will. Regling ist dabei nicht der unpolitische Technokrat seligen Angedenkens. Die Grundlage seiner Argumentation ist schließlich die Öffnung von Märkten als Funktionsmechanismus der europäischen Integration. Das kann man Neoliberalismus nennen, ihn auch ökonomisch und politisch kritisieren. Aber das Argument des früheren bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU) der Regelgebundenheit kann man nicht einfach ignorieren, selbst wenn man diese Regeln für falsch hält. Stoiber nannte dafür zwei Kennziffern: Die Höchstgrenze der jährlichen Nettoneuverschuldung von 3 % und ein Staatsdefizit von 60 %, beides im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt.

Wie gesagt: Diese Regeln beruhen auf einer politischen Entscheidung und sind nicht das Ergebnis der höheren Weisheit technokratischer Logik. Aber sie können nur einvernehmlich geändert werden, während es in der Umsetzung dieser Regeln durchaus gewisse Interpretationsspielräume gibt. Diese wurden bekanntlich in der Vergangenheit vielfältig genutzt. Aber jede Regierung leidet an einer grotesken Selbstüberschätzung, wenn sie diese Grundsatzentscheidung im Alleingang zu ändern versuchen sollte. Da kann man sich als Sachwalter der Mühseligen und Beladenen begreifen: Es ist sinnlos, wenn nicht die Schwesterparteien von Syriza im übrigen Europa ebenfalls die Regierungen stellen sollten. Da nützt es nichts auf die Situation in Deutschland hinzuweisen, wie es Paraskevopoulos machte, als er auf Lohnzurückhaltung und Rentenkürzungen hingewiesen hatte.

Man kann diese Kürzungen sogar für einen politischen Fehler halten. Nur wird sich bei den Brüsseler Verhandlungen über Griechenlands zukünftige Refinanzierung niemand für solche Argumente interessieren, weil sie zum Eingangstor für ideologische Konflikte werden. Anschließend könnte man nur noch den Dissens feststellen. Jeder, der das versucht, wird sich am Ende isolieren.
Hinweis an Washington

Das ist Syriza passiert, spätestens mit der Ankündigung des Referendums am kommenden Sonntag. Es ginge dort „um die Frage, ob das Ultimatum angenommen wird oder nicht“, so Paraskevopoulos. Er meinte damit die Vorschläge der Eurogroup aus der vergangenen Woche. Der Syriza-Berater kritisierte zudem den vorherigen ARD-Brennpunkt zum Streit in der EU als „Propaganda“ der deutschen Politik. Den mag man kritisieren, allerdings gibt es in diesem Konflikt eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Konfliktparteien: Das ist ihre wechselseitige Verlogenheit. Oder glaubt jemand ernsthaft, dem Ministerpräsidenten in Athen geht es beim Referendum um die Rettung der Demokratie?

In Wirklichkeit fürchtete Alexis Tsipras die innerparteilichen Konflikte, wenn er sich auf die Forderungen der EU-Technokraten einlässt. Es wäre das Eingeständnis gewesen, die Bedingungen des Eurosystems anerkennen zu müssen, selbst wenn man die Regeln für falsch hält. Die Revolution fällt anschließend mit einer Konsequenz aus: Man muss das System verlassen, hier „Grexit“ genannt.

Paraskevopoulos bemühte sich darum, diesen Eindruck zu zerstreuen. Es ginge beim Referendum gar nicht „um Euro oder Nicht-Euro.“ Außerdem werde man danach weiterverhandeln. Es ginge schließlich „um viel Geld“, nämlich die Bürgschaften der europäischen Steuerzahler. Zudem habe niemand ein Interesse an „außen- und sicherheitspolitische Turbulenzen, gerade im östlichen Mittelmeer.“ Ein Hinweis, der in Washington sicher verstanden worden ist.

Tsipras ist mit der Ankündigung des Referendums in der Sackgasse gelandet. Davon wollte Paraskevopoulos nichts wissen. Die Schließung der Banken und die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen versuchte er nach Kräften zu relativieren. Diesen Versuch der Entdramatisierung könnte man Realitätsverlust nennen - oder auch geschickte Propaganda. Regling wollte dagegen keine Prognose abgeben. Es gebe „in den nächsten Tagen soviel Unsicherheiten“, das er nicht wisse, „was in acht Tagen passiert“. Nur repräsentierte Regling zugleich die andere Seite dieses Dramas, die es an Verlogenheit durchaus mit Athen aufnehmen kann.

Selbstredend beharrte man nicht nur aus technokratischen Argumenten auf die strikte Erfüllung der griechischen Haushaltsziele. Es ging auch immer um die politische Symbolik für mit Syriza vergleichbare Bewegungen in anderen europäischen Ländern. Oder warum haben die sogenannten „Institutionen“ nicht die Möglichkeiten einer flexiblen Interpretation der bekannten Regeln besser genutzt? Griechenland hatte bis zum Jahr 2010 weit über seine Verhältnisse gelebt, aber mittlerweile die „hauptsächlichen Anpassungsleistungen“ schon gemacht, so Regling. Da brauche „nicht mehr soviel passieren“. Aber dafür müsse man Zusammenarbeiten und „kann nicht das Wirtschaftssystem ändern“. Auf dieser Grundlage soll man sich nicht einigen können?

Aber es ging eben beiden Seiten nur noch um dieses „Wirtschaftssystem“, oder was sie darunter verstanden. Bei den politischen Dilettanten in Athen, weil sie ihren Verhandlungsspielraum überschätzten. Niemand, und ganz sicher nicht eine bankrotte Volkswirtschaft wie Griechenland, kann per Handstreich die Funktionslogik einer Währungsunion ändern. Dieser linke Voluntarismus ist abenteuerlich und muss zwangsläufig außerhalb der Eurozone enden. Das gilt aber in gleicher Weise für die anderen Eurogroup-Staaten. Jede Kritik an der bisherigen Politik wird von deren Ministern für sakrosankt erklärt als läge ihr eine päpstliche Enzyklika zugrunde.

Nur hört kaum noch jemand auf den Papst. So sprechen beide Seiten von „Ultimaten“ und „Erpressung“. Werfen sich wechselseitig „Lügen“ und „Propaganda“ vor. In dieser Krise ist Europa zum Schauplatz ideologischer Grabenkämpfe und innerpolitischer Zwänge geworden. Die aufgeputschte Stimmung auf beiden Seiten ist ja nicht zu überhören. Es reduziert für beide Seiten den Handlungsspielraum, um sich anschließend nur noch Grundsatzerklärungen vorzulesen. So wird das enge Korsett der Europäischen Union gesprengt, weil solche Konflikte in Verhandlungen wie jetzt in Brüssel nicht gelöst werden können. Sie muss man schon im Vorfeld verhindern. Genau das wurde versäumt.

Seit Freitag Nacht sind wieder moderne „Schlafwandler“ unterwegs. Ein Kompromiss gilt als Gesichtsverlust. Die Eskalation als Ausweg aus der verfahrenen Lage, die schon lange nur noch für Überdruss sorgt. Insoweit kann niemand wissen, was an diesem Montag passiert, geschweige denn in einer Woche. Niemand sollte aber auf den großen Befreiungsschlag hoffen. Solche Kalkulationen haben noch nie funktioniert. Leider macht das gegenwärtige politische Personal keinen besseren Eindruck als das von 1914. Aber wir sind auch erst am Beginn der Krise. Wer weiß das schon? Vielleicht findet sich ja noch jemand mit ungeahnten Führungsqualitäten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen