Sonntag, 8. Juli 2018

Nichteinreise

Isolde Charim

Die Fiktion von der Nichteinreise


Eine deutsche Farce, dass dank des unbeirrten Einsatzes von Innenminister Seehofer nun tatsächlich ganze fünf (in Zahlen 5) Asylsuchende täglich rückgeführt werden. Deutscher Hohn, diese ausgerechnet und ungefragt seinem solcherart gelackmeierten Freund Kurz aufzuhalsen. Deutscher Humor aber ist es, wenn man dies "einen ganz wesentlichen Beitrag, illegale Migration zu stoppen" nennt.

Trotz dieses geballten Wahnwitzes hat die ganze Sache jedoch auch etwas Ernstes in Gang gesetzt. Oder zumindest beschleunigt: ein ganz spezielles Grenzregime.

Dieses lautet: Die konsequente Sicherung der EU-Außengrenzen soll die grenzenlose Reisefreiheit im Schengen-Raum garantieren. Europa hat also zwei unterschiedliche Grenzregimes, zwei Grenzlogiken. Die Festung Europa funktioniert nach einer strikten Militärlogik der befestigten Grenzen - während Schengen ein offener Raum sein soll. Das heißt: Europa ist nicht einfach eine Festung, sondern Festung und offener Raum zugleich. Es besteht also nicht nur aus zwei Arten von Grenzen, sondern auch aus zwei Arten von Räumen. Einleuchtend wäre dies, wenn es sich mit der Innen-Außen-Unterscheidung decken würde: Festung nach außen, Freiraum nach innen. Der deutsche Asylkompromiss hat nun aber gezeigt, dass es sich genau so nicht verhält. Dieser Kompromiss beruht auf einer kreativen Wortschöpfung - der Fiktion von der Nichteinreise. Dies bedeutet: Die Menschen sind zwar da, aber ihre Einreise wird rechtlich nicht anerkannt. Irgendwo müssen sie sich aber physisch aufhalten - das sind dann die "Transitzentren", die dank dem beherzten Eingreifen der SPD nun "Transferzentren" heißen. Diese sind, um die Fiktion aufrechtzuerhalten, exterritorial. Weshalb man die rechtlich Nichteingereisten nun auch wieder physisch rückführen kann. Diese sophistische Konstruktion besagt also: Es reicht nicht, die Außengrenze physisch zu überwinden, um im Rechtsraum anzukommen. Die Festung ist damit nicht nur am Rand von Europa - sie setzt sich auch im Inneren fort.

Damit vollzieht man aber eine große Verschiebung: eine Loslösung vom Territorium. Grenze, Festung, Rechtsraum sind nicht mehr territorial bestimmt. Man kann nicht mehr sagen: Ab hier beginnt Schengen, ab hier beginnt das offene Europa. Die Grenzen werden vielmehr vom Territorium abgelöst und an die Person gebunden. Die Personen werden damit zu Trägern der Grenze. Recht und Rechtlosigkeit sind nicht mehr an den Ort, sondern an den Status der Person geknüpft. Festung oder Schengen-Raum - wir tragen sie gewissermaßen am Köper. So können sie direkt nebeneinander bestehen.

Diese zwei Arten von Grenzen, diese zwei Arten von Räumen erzeugen somit auch zwei Arten von Individuen. Der Soziologe Zygmunt Baumann unterscheidet Touristen, als "freiwillige Vagabunden", und Vagabunden, die "Touristen wider Willen" seien. Letztere sind heute die Asylsuchenden. Daran zeigt sich, wie absurd der Begriff des "Asyltourismus" ist, der derzeit getrommelt wird: Absurd, denn das neue Grenzregime dient genau dazu, eine Grenze zwischen Asylanten und Touristen zu ziehen - also zwei Arten von Personen zu unterscheiden: Rechtsträger und Rechtlose.

Wiener Zeitung 6.7.2018

Krise, die

Bernd Ulrich

Wie radikal ist realistisch?


Über die verlorene Magie der politischen Mitte, den Niedergang der Merkel-Republik, den Realitätsverlust der Medien – und darüber, wie das Land wieder stabil werden könnte.


In der Mitte läge die Wahrheit? Keineswegs. Nur in der Tiefe.

Arthur Schnitzler

Kürzlich stellte die Bundeskanzlerin fest: Das Land ist gespalten. Das, so möchte man ihr entgegnen, ist schon keine Untertreibung mehr, es ist eine Beschönigung. Denn die Deutschen sind außerdem furchtbar nervös und gereizt, und auch dieser Befund kratzt nur an der Oberfläche. Was wirklich geschieht, ist dramatisch, weil es nicht mehr um diese oder jene Politik geht, sondern um die Art und Weise, wie hierzulande überhaupt Politik gemacht wird: Die politische Mitte büßt ihre Dominanz ein, die mittlere Vernunft beruhigt immer weniger, und die Politik der kleinen Schritte verliert mehr und mehr den Bezug zur Realität der großen Probleme. Die normative Kraft der deutschen Normalität nimmt ab, die Medien treten der Krise des politischen Systems nicht wirkungsvoll entgegen, vielmehr sind sie selbst davon erfasst. Und Angela Merkel – die anfangs eine Fremde im politischen System war, es dann erneuert hat, schließlich zur Verkörperung der Republik wurde – hat die Krise so lange gemanagt und zugleich verschleppt, bis sie sich in ganzer Wucht entfalten konnte. Dies geschieht nun.

Was die Kanzlerin nicht gesagt hat: Die neue große Koalition vermag an alldem bislang nichts zu ändern, ja sie trägt sogar ihren Teil zur allgemeinen Gereiztheit bei. Anscheinend ist etwas im Gange, das größer ist als die große Koalition, etwas, das mit den normalen Bordmitteln der Berliner Republik nicht mehr zu bewältigen ist.

Es ist wichtig, sich über dieses Etwas zu verständigen, auch damit die wechselseitigen Aggressionen, die neuerdings das Land durchpeitschen, nicht als bloßer Charakterabsturz des jeweils anderen Lagers oder Flügels oder Milieus interpretiert werden, sondern als verschiedene Reaktionen auf Prozesse, die von keinem so leicht zu verarbeiten sind.

Die naheliegendste Interpretation der hiesigen Stimmungslage lautet: Mit ihrer Entscheidung vom September 2015, etwa eine Million muslimische Flüchtlinge ins Land zu lassen, habe Angela Merkel den deutschen Hausfrieden gebrochen, seitdem sei alles anders. Falsch ist das nicht, aber es ist viel zu wenig und viel zu klein. Der gute alte strunzgesunde Provinzialismus der deutschen Politik hilft hier leider auch nicht weiter. Stattdessen muss man zuerst in die Welt schauen, um das heutige Deutschland zu verstehen.

In den USA beispielsweise sind es kaum muslimische Flüchtlinge, die zur inneramerikanischen Aggression beitragen, sondern einwandernde Lateinamerikaner. Der Brexit wiederum bezog seine Anschubenergie daraus, dass sich viele Briten von polnischen Handwerkern bedroht fühlten. In Frankreich schließlich befeuern tatsächlich auch muslimische Einwanderer die Spaltung, allerdings handelt es sich bei ihnen nicht um Flüchtlinge, sondern um Menschen aus dem ehemaligen französischen Kolonialreich, die hat man sich sozusagen selbst erobert.

Es ist, als ob sich die Welt für etwas rüsten würde. Nur wofür?

Der politisch und kulturell bislang unbewältigte Epochenbruch ist eigentlich leicht zu erkennen, er verbindet sich mit Christoph Kolumbus’ Reise nach Amerika und mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg: 500 Jahre europäische beziehungsweise 100 Jahre westlich-amerikanische Dominanz gehen zu Ende – und schlagen zurück. Mehr und mehr wird die vom Westen betriebene Globalisierung dialektisch, das heißt: Früher konnten Europäer und Nordamerikaner exportieren, was sie wollten – Waffen, Müll, Tourismus, Autos –, sie konnten importieren, was sie wollten – Öl, Nahrungsmittel aller Art, Halbfertigprodukte –, sie hatten es im Griff. Doch seit einiger Zeit kehrt die Globalisierung unkontrolliert heim in Gestalt von: Flüchtlingen, Terrorismus und ernst zu nehmender ökonomischer Konkurrenz. Zugleich steigen die Nebenkosten der Globalisierung, während die Gewinne abnehmen. In der Konsequenz ist der Westen dabei, die Kontrolle zu verlieren und sich unterdessen womöglich selbst als politische Formation aufzulösen, man geht hier und da schon aufeinander los, wie zuletzt beim G7-Treffen, das eher ein Gipfel der Feinde war als ein Gipfel der Freunde.

Dieser historische Wandel wirft eine Reihe von zutiefst beunruhigenden Fragen auf, auch für die Deutschen, die beim Kolonialismus zwar eher eine Nebenrolle gespielt haben, aber zu den Hauptprofiteuren westlich dominierter Globalisierung gehören:

• Können die westlichen Demokratien auch dann noch demokratisch bleiben, wenn sie ihre bevormundende, teils autokratische Stellung gegenüber dem Rest der Welt verlieren?

• Kann die demokratische Fasson gewahrt werden, wenn die sinkenden Surplus-Gewinne aus der Globalisierung nicht mehr ausreichen, um die innergesellschaftlichen Ungleichheiten auszupolstern?

• Ist der Liberalismus wirklich eine Lebensweise für alle oder doch bloß die Herrschaftsideologie einer globalisierten Klasse?

Nicht zuletzt stehen jahrzehntelang erfolgreich abgewehrte oder durch karitative Kompensation abgepolsterte moralische Vorwürfe zwischen ehemals erster und ehemals dritter Welt im Raum. Sie werden neuerdings auch ganz direkt an die westlichen Gesellschaften gerichtet, weil die Sprecher der ehemaligen "Entwicklungsländer", weil Chinesen, Lateinamerikaner, Afrikaner und Araber nun in die westliche Öffentlichkeit hineinfunken können, via Internet oder weil viele von ihnen an den westlichen Universitäten studieren oder lehren.
Der Westen erleidet einen epochalen Machtverlust

Mit einem Mal ist klar: Den Kolonialismus für beendet zu erklären ist selbst ein kolonialer Akt. Diejenigen, die dessen Folgen bis heute zu tragen haben, stimmen darin nicht überein, sie fangen mit der Diskussion um Schuld und Verantwortung gerade erst an.

Emmanuel Macron hat das verstanden. Bei einer Rede in Ouagadougou, Burkina Faso, nahm er letztens ein Wort in den Mund, das sogleich Dutzende europäische Museumsdirektoren in Ohnmacht fallen ließ: Restitution. Und, ja, vieles von dem, was in westlichen, auch in deutschen Museen ausgestellt wird, ist einfach nur: geklaut. Und nicht allein das, was in Museen steht. Gewiss, Schuld ist kein guter Ratgeber, sie jedoch zu verdrängen, die Debatte darüber komplett zu verweigern, das ist furchtbar anstrengend, auch dies trägt zur neuen Gereiztheit bei.

Der westliche Macht- und Moralverlust, die neue ökonomische Konkurrenz, explodierende Hegemonialkosten – all das führt unweigerlich zu gewaltigen, teils gewaltbereiten Gegenkräften in den hiesigen Gesellschaften. Die autoritäre Welle speist sich aus dem Wunsch, die Dialektik der Globalisierung wieder rückgängig zu machen. Das geht aber nur auf zwei Weisen: Entweder man versucht, mittels Abschottung, Handels- und echten Kriegen brachial die Rückwirkungen auf den Westen zu stoppen – oder man führt die Globalisierung insgesamt zurück, was aber bedeuten würde: keine Seltenen Erden mehr aus dem Kongo, keine Panzer nach Saudi-Arabien, keine Billigreisen auf die Malediven und kein Koks mehr aus Lateinamerika.

Letztere Variante klingt nicht sonderlich realistisch, weshalb die autoritäre Bewegung auf Abschottung, Aggression und Leugnung setzt, während die etablierte Politik diesen ganzen Diskurs weitgehend verweigert, vermurmelt oder umschifft.

Der epochale Machtverlust des Westens, also das Ende der 500/100 Jahre, würde allein schon die tiefe Beunruhigung in den westlichen Gesellschaften erklären. Es kommt jedoch noch eine zweite, mindestens ebenso bedeutende historische Entwicklung hinzu: Der Flaschenhalseffekt, in dem sich die ganze Menschheit, aber natürlich auch Deutschland befindet. Das heißt konkret: Immer mehr Menschen mit immer mehr Bedürfnissen müssen sich mit immer weniger belastbarer und ausbeutbarer Natur begnügen.

In den achtziger Jahren stand die damalige ökologische Avantgarde in den westlichen Gesellschaften vor einem gravierenden demokratischen Problem: Wie kann man die Menschen davon überzeugen, jetzt ihr Verhalten zu ändern wegen Problemen, die erst in dreißig Jahren auftreten? Letztlich haben die Ökologen von damals dieses Problem nicht lösen können. Zwar haben sie viel Umdenken bewirkt, doch ging zugleich die Schere zwischen ökologisch Gebotenem und ökologischem Tun immer weiter auseinander. Nun aber sind diese dreißig Jahre vorbei, der Klimawandel hat eingesetzt, die Meere befinden sich in einem äußerst kritischen Zustand, das Artensterben galoppiert. Der Menschheit wird hier und heute der ökologische Kragen eng, sie hat zu lange zu wenig getan und muss sich jetzt sputen, wenn die Erde, wie wir sie kennen, noch leidlich gerettet werden soll. Und wenn die Deutschen auch in zehn Jahren ihre Heimat noch wiedererkennen wollen.

Hinzu kommt, dass die Weltbevölkerung nicht nur weiter wächst, sondern dass die materiellen Bedürfnisse pro Kopf immer noch zunehmen. Und auch die ideellen Ansprüche explodieren, die Konkurrenz der sinnstiftenden Erzählungen (vulgo: Religionen) verschärft sich, das Recht auf Mitsprache und Gehörtwerden wird offensiv wahrgenommen; der Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit nimmt ungeahnte Züge an. Auch der Ordnungsverlust des Westens trägt zum Flaschenhalseffekt bei, weil nun eine neue Ordnung geschaffen werden muss, rasch und unter hohem politischen und finanziellen Einsatz.

Das Ende der europäischen und amerikanischen Dominanz im Verbund mit dem globalen Flaschenhalseffekt stellen eine fundamentale Herausforderung dar, die wiederum die Menschen im Westen fundamental verunsichert. Manche Länder reagieren vorwiegend autoritär darauf, Deutschland wiederum sehr deutsch: Hier antwortet die etablierte Politik auf die fundamentalen Probleme und die fundamentale Verunsicherung fast ausschließlich mit gradueller Politik und Rhetorik. Die große Koalition stellt gewissermaßen das letzte Aufgebot der alten Normalität dar.

Um es klar zu sagen: Es gibt zurzeit nur eine einzige Partei, deren Radikalität symmetrisch ist zur Radikalität der Herausforderungen – und das ist die AfD. Unglücklicherweise bietet sie keine Lösungen an, sondern nur Regression und Aggression.
Woanders ist neuerdings immer öfter: hier

Nun könnte es durchaus sein, dass sich die große Koalition mit ihrem reinen Gradualismus, also einer Politik der kleinsten Schritte, noch einmal über die Zeit rettet, immerhin wünschen sich auch viele Wählerinnen und Wähler innig und bang, dass es damit getan sein möge. Und tatsächlich gibt es noch viele Politikfelder, wo ein bisschen mehr oder weniger genügt, auf wesentlichen Feldern gilt das jedoch nicht mehr. Auch die Methode von Angela Merkel, in Wahlprogrammen und Koalitionsverträgen jeweils nur graduelle Politik anzukündigen, um dann mit der Kraft der Krisen qualitative Veränderungen durchzusetzen – etwa bei der Energiewende oder in der Flüchtlingspolitik –, hat in der Summe zwei Effekte gehabt: Die Krisen nehmen zu, weil sie ihnen nicht zuvorkommen kann; und die Legitimation nimmt ab, weil sie Entscheidungen trifft, ohne vorher um demokratische Zustimmung zu bitten.

Immer öfter führt Merkels und Scholz’ dogmatischer Gradualismus geradewegs in die Disruption und in die weitere Delegitimierung herkömmlicher Politik. Der Versuch etwa, die deutsche Autoindustrie vor den klimapolitischen Sachzwängen so gut wie möglich zu schützen, zeitigt gerade folgende Konsequenzen: Staatsanwälte als Dauergäste bei deutschen Autokonzernen; Vorstandsvorsitzende, die nicht mehr in die USA reisen dürfen, wenn sie nicht verhaftet werden wollen; Milliarden für die Entschädigung betrogener (amerikanischer) Autofahrer; Fahrverbote in deutschen Städten; massive Entwertung von Millionen Diesel-Autos; gesundheitliche Schäden von Anwohnern; eine offizielle Klage der EU gegen die Bundesrepublik Deutschland.

Ein anderes Beispiel: Seit Jahren drückt sich die Bundesregierung um das Problem herum, dass sich die USA zur Senkung ihrer Hegemonialkosten mehr und mehr aus der Subventionierung europäischer, insbesondere deutscher Sicherheit verabschieden. Zu keinem Zeitpunkt haben Union und SPD die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, auch nur ernstlich diskutiert, geschweige denn gezogen. Das Ergebnis ist auch hier Delegitimierung und Disruption: Eine in weiten Teilen untaugliche Bundeswehr sowie ein dramatischer Machtverlust im Mittleren Osten, weil dort nicht etwa die Europäer in das von den USA hinterlassene Vakuum gehen, sondern die Russen.

Wortkarger Gradualismus à la Merkel und Scholz führt hier wie an vielen anderen Stellen zu einem Gefühl der Verunsicherung und der Hilflosigkeit. Hinter alldem lauert eine verstörende Wahrheit über die gegenwärtige deutsche Lage: Die Magie der Mitte geht allmählich verloren. Sie bestand (und besteht zum Teil noch) aus drei Elementen: 1. Die mittlere Tonlage. Es gehörte zu den gesunden, Demokratie erhaltenden Reflexen der politischen Öffentlichkeit, Stimmen, die zu laut, zu dringlich oder zu extrem klangen, zu marginalisieren, weitgehend unbeschadet von dem, was sie denn sagten. 2. In der Mitte lag die Macht, Wahlen wurden in der Mitte gewonnen. 3. Auch in der Sache genügten mittlere Lösungen, radikalere Varianten schienen unnötig und allenfalls etwas für Experimentierländer wie Schweden, Finnland oder die Niederlande. Mittlerweile schafft es sogar das angeblich so reformfeindliche Frankreich über Nacht das Einwegplastik schlicht zu verbieten, während Deutschland ängstlich nach dem letzten Strohhalm greift.

Alle drei magischen Mitte-Elemente haben neuerdings angesichts des Epochenbruchs der 100 Jahre und des Flaschenhalseffekts dramatisch an Wirkkraft eingebüßt. 1. Wenn jemand schreit – kann sein, dass es brennt; wenn jemand sehr dringlich spricht – kann sein: Es drängt. 2. Wahlen werden nicht mehr zuverlässig in der Mitte gewonnen, jedenfalls nicht von den dafür vorgesehenen Volksparteien. Die SPD, bei der die Mittepolitik schon zur Ersatzideologie geworden ist, büßt allmählich ihren Charakter als Volkspartei ein, während die CSU den Extremismus bekämpft, indem sie ihn in leicht abgeschwächter Form kopiert. 3. Probleme wurden in Deutschland meist so gelöst, dass dabei zwei neue Probleme entstanden – nur später und woanders. Doch nun ist das später heute, und selbst die Chinesen schicken den Deutschen ihren Plastikmüll zurück, während die Gülle, die bei der Produktion von Schweinefleisch für chinesische Verbraucher anfällt, im Lande verbleibt und die hiesigen Gewässer gefährdet. Woanders ist neuerdings immer öfter: hier.

Es liegt angesichts des Flaschenhalseffekts eigentlich auf der Hand, dass nun nicht länger Lösungen gebraucht werden, die zwei neue Probleme schaffen, sondern solche, die zehn Probleme auf einmal lösen. Für den sogenannten Dieselskandal, der in Wahrheit ja nur ein Ausfluss des unbewältigten Konflikts zwischen Mobilität und Umwelt ist, lautet die Antwort natürlich nicht Elektroauto, sondern: eine fahrrad- und fußgängergerechte Stadt. Welche Probleme damit gelöst würden? Massive Lebenserleichterung für die sozial Schwachen, die an den lauten und dreckigen Straßen wohnen; Befreiung des befremdlichen Gefühls, seinen Kindern eine leichte Todesangst anerziehen zu müssen, damit sie nicht zu leicht verunfallen; doch endlich das Erreichen der lange versprochenen Emissionsziele; Befriedung und Beruhigung der immer dichter besiedelten Städte; Befreiung der Straßen von den zwei blechernen Barrikaden; Humanisierung des Radfahrens – um nur die wichtigsten zu nennen. Auf der anderen Seite hieße das natürlich: Das geliebte Biest zu bändigen und das Auto dem autolosen Menschen unterzuordnen, das wäre dann wohl das Radikale daran. Wobei: Ist es eigentlich wirklich so schwer zu machen?

Zweites Beispiel: Eine der tiefen Sorgen dieser Gesellschaft gilt der Frage: Geht es meinen Eltern im Altenheim gut? Was, wenn ich selbst da rein muss? Die Bundesregierung hat beschlossen, 13.000 neue Pflegestellen zu schaffen, was pro Altenheim einen Zuwachs von weniger als einer Pflegekraft bedeutet, mehr Hohn als Hilfe. Doch nicht einmal diese Zahl wird sie auftreiben können, weil die Arbeitsbedingungen zu schlecht sind und der Lohn zu niedrig ist. Eine rasche Angleichung der Löhne von Frauen, die Alte pflegen, an die Löhne von Männern, die Maschinen zusammenbauen, würde in den Heimen gleich einen ganzen Schwung von handfesten Problemen beseitigen, außerdem Gerechtigkeit schaffen und diesen existenziellen Stress der Menschen (wohin mit den Eltern?) vermindern. Der Staat könnte das durchaus schaffen, wo doch die Pflege ohnehin ein weithin regulierter Teil der Wirtschaft ist.

Man kann solche Lösungen radikal nennen – oder auch realistisch, je nach Blickwinkel. Die Frage ist, warum sie politisch nicht aus der Mitte heraus angeboten werden. Wie kann es sein, dass sich die politische Mitte weiterhin an den reinen Gradualismus klammert, obwohl sie damit weder die realen Herausforderungen meistern noch die fundamentale Beunruhigung der Menschen lindern kann? Warum gibt es keine radikal-realistische Alternative?
Wo sind die Medien als kritische Instanz?

An dieser Stelle kommen die Medien ins Spiel, denen ja als kritische Instanz die Aufgabe zufiele, in diese klaffende Lücke zu gehen. Unglücklicherweise tun die etablierten Medien in aller Regel genau das Gegenteil. Statt die Mitte aus ihrem resignativen Gradualismus zu vertreiben, bewähren sie sich als seine Wächter:

1. Mitte-Mechanik: Wenn ein politischer Journalist für die Linke zuständig ist, so wird er die Radikalen in der Partei (wie Sahra Wagenknecht) zwar interessant finden, aber immer für die dortigen "Realpolitiker" (wie Bernd Riexinger oder Bodo Ramelow) plädieren; ist derselbe Journalist auch für die SPD zuständig, so wird er ebenfalls die radikaleren Kräfte (also etwa Kevin Kühnert) aufregend finden, aber stets den Mitte-Kurs von Olaf Scholz und Andrea Nahles befürworten. Nun ist es aber so, dass die "Vernünftigen" bei der Linkspartei inhaltlich exakt dieselben Positionen vertreten wie die "Unvernünftigen" bei der SPD, was zeigt: Der Mitte-Reflex blickt nicht auf die Inhalte, er funktioniert rein mechanisch.

2. Sehendes Verdrängen: Die existenziellen Oberthemen Ökologie, Ernährung, Natur, Landwirtschaft werden von der Politik seit Jahren unterspielt, mit dem Ergebnis, dass es auf diesen Gebieten zu Vertragsverletzungen kommt (Pariser Klimaabkommen), zu Systemkrisen (Insektensterben) und zu einer Verheerung der deutschen Landschaft und ihrer Biodiversität. Doch statt diese Themen nach vorn zu schieben, hilft der Journalismus mit beim gewissermaßen "sehenden Verdrängen" dieser Fragen, indem er sie in den Zeitungen überwiegend im Ressort Wirtschaft oder im Wissen behandelt, weniger im politischen Teil. Und sollten die materiellsten und existenziellsten aller Fragen – Ökologie, Landwirtschaft, Ernährung – doch einmal ins Zentrum der Politik vordringen, so wird auch dabei die Mitte stets nur in einem gegebenen Raster, also zwischen den Parteien gesucht und nicht etwa zwischen den realen Problemen und der Politik, zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung. Und dies geschieht keineswegs mit Rücksicht auf die Leser, die sich ausweislich der aktuellen Bestsellerlisten und vieler Umfragen durchaus für diese Themen interessieren. Nein, Journalismus und Politik bilden hier gemeinsam eine hauptstädtische Mitte-Blase.

3. Geistige Schonräume: Der mittezentrierte Journalismus schützt die gradualistische Politik durch einen Kordon nicht oder fast nicht gestellter Fragen – an die Verteidigungsministerin: Gibt es den nuklearen Schutzschirm der Amerikaner noch? (Wenn die Antwort "Nein" lautet oder "vielleicht nicht", dann sind die Konsequenzen grundstürzend, was nicht sein darf.)

– An die Umweltministerin: Bis wann wollen Sie das Artensterben in Deutschland stoppen? (Weil als heimlicher Konsens gilt, dass das Artensterben weitergehen muss zum Schutz der konventionellen Landwirtschaft und des Fleischkonsums.)

– An den Arbeitsminister: Warum verdienen Frauen, die Menschen helfen, weniger als Männer, die Metall bearbeiten? (Diese Frage haben Kollegen der ZEIT kürzlich Hubertus Heil gestellt, dessen Antwort dann auch gleich systemsprengend war: "Das ist eigentlich irre.")

– An die Landwirtschaftsministerin: Warum darf man Tiere töten und dann noch in solcher Zahl und bei solcher Qual? (Eine Antwort darauf ist so schwierig, dass es zumeist als ungehörig gilt, die entsprechende Frage überhaupt zu stellen.)

Dabei müssten schon aus sportlich-hermeneutischen Gründen oder einfach, um es spannender zu machen, immer mal wieder auch die ungestellten Fragen aufgeworfen und die spiegelverkehrten Gedanken oder Recherchepfade ausprobiert werden.

Üblicherweise wird der allgegenwärtige politische Gradualismus durch den Journalismus weniger hinterfragt als vielmehr eskortiert. Der Grund dafür liegt darin, dass sich dieses Verfahren jahrzehntelang bewährt hat. Darum kostet es die Medien, auch die ZEIT, auch den Autor dieser Zeilen viel Kraft, sich aus dem Gelernten und Gelungenen zu lösen, selbst dann, wenn es immer öfter misslingt.

Erst neuerdings spürt man so richtig, dass die mediengestützte Magie der Mitte auf einem unhinterfragten Dogma beruht: dass nämlich die gelebte Normalität dieser Gesellschaft vor Extremen schützt und nicht selbst extrem sein kann. Dies erweist sich im doppelten Epochenbruch immer öfter als falsch: Diese Gesellschaft produziert extremen Reichtum; sie erzeugt massive Nebenwirkungen im Rest der Welt; sie verbraucht sechzig Kilo Fleisch pro Kopf und Jahr (Vegetarier, Veganer und Säuglinge mit eingerechnet) und opfert dabei die uns bekannte Heimat; sie hinterlässt jährlich 40 Milliarden Plastikhalme; sie steigert immer wieder die Pkw-Dichte; sie lässt diejenigen mit der härtesten Arbeit mit den geringsten Löhnen zurück; sie verbraucht immer mehr Flächen; sie rottet immer mehr Vogelarten aus. Und so weiter.

Es gibt offenbar einen Extremismus der Normalität.
Der innere Schweinehund und der "bessere Engel unserer Selbst"

Die Öffentlichkeit müsste es als ihre größte und dringendste Aufgabe begreifen, diesen Schleier der Normalität zu lüften, schlicht gesagt: aufzuklären. Doch haben wir nur gelernt, die Macht zu entlarven, das Böse aber nicht: das Normale. Das jedoch würde auch den Medien wieder mehr Glaubwürdigkeit und Kraft verleihen. Nicht zuletzt würde es politische Glutkerne neben der Flüchtlingspolitik entstehen lassen, was für diese Demokratie überlebenswichtig ist. Denn die Fixierung auf die Flüchtlinge wird diese Gesellschaft allein niemals beruhigen, es gibt da einfach keine perfekte Lösung, und die fast ausschließliche Beschäftigung mit dem Thema erschafft selbst genau die Beunruhigung stets neu, die sie doch heilen soll. Auch das Gefühl wachsender Fragmentierung ließe sich allenfalls über große Projekte konterkarieren, die viele Menschen be- und entgeistern und die das Gefühl von Hilflosigkeit überwinden könnten. Deutschland braucht eine Polarisierung in der Mitte und ein neues Rendezvous mit der Wirklichkeit. Stattdessen begrenzt die überkommene Vorstellung davon, was politisch machbar ist, die Wirklichkeitswahrnehmung. Reale Probleme (und Chancen), die viel größer sind als die angebotene Politik, rücken an den Rand des Blickfeldes.

Was wäre wohl los im Staate Deutschland, wenn die vormalige Arbeiterpartei SPD sagen würde, dass die Produktion von Geringqualifizierten bis zur Mitte des nächsten Jahrzehnts weitgehend eingestellt werden muss, indem das pädagogische Personal in den Schulen verdoppelt wird? Schließlich wird in den heillos überforderten Schulen heute Integration, Inklusion, Wissenskanon, Digitalisierung und Teamwork zugleich gelehrt – und zumeist steht noch immer ein Lehrer vor 25 Schülern, womit das "Scheitern" von etwa einem Drittel der Schüler quasi vorprogrammiert ist, die dann später "Geringqualifizierte" werden. Auch diese Frage avanciert nun gerade von einer graduellen zu einer qualitativen, da Abermillionen "einfache" Arbeiten durch Digitalisierung und Roboterisierung gefährdet sind.

Es wäre, kurz gesagt, die Hölle los, wenn die SPD so etwas fordern würde, aber vor der Hölle hat die Partei Angst, weil sie sich im Fegefeuer so häuslich eingerichtet hat.

Aus guten Gründen gibt es in Deutschland eine gewisse Scheu vor radikaler Politik oder sogar schon vor dem Wort "radikal". Wenn hier also von einer "besonnenen Radikalität aus der Sache heraus" die Rede ist, die die Mitte erneuern soll, so muss auch klar sein, wie sich diese neue Radikalität etwa vom konventionellen Linksradikalismus unterscheidet.

Da ist zunächst mal die Tonlage. Nur weil die Probleme drängen, kann der Ton nicht andauernd dringlich sein. Es muss schon aus der Art des Sprechens klar hervorgehen, dass die Demokratie auch dann den Vorrang behält, wenn die Mehrheit nachhaltig irrt und diese Gesellschaft wie die Natur tiefer in die Krise treibt. Eine Rückkehr zur linksradikalen Skepsis gegenüber der Mehrheit, wie sie in Deutschland so lange herrschte, kann es nicht geben. Sodann wollte der Linksradikalismus auch immer moralisch erhaben sein, Recht haben war wichtiger als Recht bekommen. Oft fand er seine Erfüllung darum in der Vergeblichkeit, jeder Erfolg stand unter dem Verdacht, schon korrupt zu sein; so erklärt sich auch die triumphale Übellaunigkeit, die vielen linken Politikern ins Gesicht geschrieben steht. Für derlei Luxusmoral lässt der doppelte Epochenbruch so wenig Raum wie für die Scheu vor den Gefahrenzonen der Moral, also Macht und Verantwortung.

Auch kritisierte der linke Radikalismus stets die Institutionen dieses Staates. Um etwas von der Welt zu erhalten, wie man sie kannte, muss heute so vieles so rasch verändert werden, dass diese Institutionen, dass dieser Staat verteidigt werden muss als Gerüst und Gerippe des Neuen.

Nicht zuletzt dient die neue realistische Radikalität keineswegs dazu, die Leute aufzustacheln, sondern Menschen, Tiere und Ressourcen zu schonen. Eine Politik der Schonung ist in einer überbevölkerten, überlärmten, übernutzten Welt vielleicht die einzige Chance, es miteinander auszuhalten.

Bei der neuen Radikalität aus der Sache steht ohnehin nicht aufgeklärte Minderheit gegen tumbe Mehrheit, sondern es geht um den Kampf zwischen dem inneren Schweinehund der meisten und dem "besseren Engel unserer selbst" (Abraham Lincoln).

Die deutsche Normalität hat viel von ihrer normativen Kraft verloren, darum wird die Mitte sich aus dem Gefängnis ihres Gradualismus befreien müssen, anders kann sie diese Gesellschaft nicht stabil halten. Denn die Menschen merken, dass die vorgeschlagenen Mittel nicht ausreichen und ausreichende Mittel oftmals nicht vorgeschlagen werden. Noch werden die beiden großen Bewegungen, die 500/100 Jahre und der Flaschenhalseffekt, kleingearbeitet und verdrängt.

Doch diese realitätsabwehrende Anstrengung wird immer größer, die Verdrängungsenergie ist mittlerweile immens, wovon auch die sogenannten Bubbles zeugen, in denen nun viele Zuflucht suchen vor den anbrandenden Realitäten und den Ansichten der anderen. Mehr und mehr macht diese Verdrängung das politische Deutschland krank, indem sie Depression erzeugt (SPD), Lethargie (CDU), Aggression (AfD) und Hysterie (soziale Medien). Letztlich mündet das Zuwenig an Radikalität in ein Zuviel an Extremismus.

All das könnte schon allein dadurch gelindert werden, dass die Radikalität der Lösungen zur Radikalität der Probleme in ein sinnvolles Verhältnis gebracht wird. Diese Lösungen müssen gar nicht sofort richtig sein, symmetrisch genügt erst mal, damit der Laden hier nicht durchdreht.

DIE ZEIT, 13.Juni 2018

Donnerstag, 5. Juli 2018

Die Krise der Europäischen Union


Jürgen Habermas

Protektionismus: Sind wir noch gute Europäer?
Der erschrockene Rückzug hinter nationale Grenzen kann nicht die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit sein. Warum die Bevölkerungen Europas längst reifer sind als ihre politischen Eliten



In meinem Abiturzeugnis ist als Berufswunsch vermerkt: Habermas will Journalist werden. Allerdings ist mir, seitdem ich damit in der Gummersbacher Lokalredaktion des Kölner Stadt-Anzeigers angefangen und dann bei Adolf Frisé für das Feuilleton des Handelsblatts geschrieben habe, immer wieder bedeutet worden, dass ich zu schwierig schreibe. Sogar der sehr wohlwollende Karl Korn, der mich noch als Bonner Studenten eifrig zu Fingerübungen ermuntert hatte, meinte später, ich solle doch lieber bei meinem akademischen Leisten bleiben. Diese Bedenken halten in Leserbriefen bis in die jüngste Zeit an, und auf Besserung ist ja in meinem Alter nicht mehr zu hoffen. Umso mehr freue ich mich über die Einladung des Intendanten des Saarländischen Rundfunks, im Rahmen des Deutsch-Französischen Journalistenpreises in die großen Fußstapfen von so profilierten Vorgängern wie Tomi Ungerer, Simone Veil und Jean Asselborn zu treten.

Ich werde mich nicht mit den symptomatischen Geräuschen aus Bayern beschäftigen, die eine Regierungskrise ausgelöst und das eigentliche Thema, die mangelnde Kooperationsbereitschaft in der EU, in den Hintergrund gedrängt haben. Der Schwarze Peter liegt bei der Sorte von Europafreunden, die sich ihre tatsächlich gehegten Vorbehalte gegenüber einem solidarisch handelnden Europa nicht eingestehen. Jean-Paul Sartre hat unter dem Namen der mauvaise foi ein anschauliches Gegenbild zur bonne foi beschrieben. Wer von uns kennt nicht diese leise rumorende Beunruhigung: Man handelt bona fide, also guten Glaubens; aber in ruhigeren Stunden spürt man die Irritation eines nagenden Zweifels an der Konsistenz unserer nach außen stramm vertretenen Überzeugungen. Es gibt da eine faule Stelle, über die unbemerkt der Fluss unserer Argumente hinweggleitet. Nach meinem Eindruck entlarvt das Auftreten von Emmanuel Macron auf der europäischen Bühne eine solche faule Stelle im Selbstverständnis jener Deutschen, die sich während der Euro-Krise im festen Glauben auf die Schulter geklopft haben, sie seien doch immer noch die besten Europäer und zögen alle anderen aus dem Schlamassel.

Lassen Sie mich hinzufügen, dass ich die Zuschreibung einer solchen mauvaise foi nicht mit einem moralischen Vorwurf verbinde. Denn für den Zustand eines solchen, gewissermaßen von innen angefaulten Glaubens sind die Betroffenen weder ganz verantwortlich noch ganz von Verantwortung frei. In dieser Hinsicht besteht eine Ähnlichkeit unserer deutschen Europafreundlichkeit mit dem ganz anderen Phänomen jenes in den Zisterzienserklöstern des 11. Jahrhunderts offenbar verbreiteten Gemütszustandes von Mönchen, die von Glaubensanfechtungen heimgesucht wurden und in einem melancholischen Widerwillen versanken. Diese acedia genannte Schwermut wurde einerseits nicht als Sünde bestraft, weil sie die kognitive Schwelle expliziter Glaubenszweifel nicht überschreitet; andererseits sollte diese "Mönchskrankheit" auch nicht den klaren klinischen Tatbestand einer Depression erfüllen – das hätte den Betroffenen von aller Verantwortung entlastet. Die Mönche wurden für ihre Acedie nicht zur Verantwortung gezogen, sollten sich dafür aber selber der Verantwortung nicht ganz entziehen. Genau dieses Oszillieren, das die Grenze der Zurechenbarkeit verwischt, charakterisiert auch jenen guten Glauben, von dem wir ahnen, dass er einen Haken hat – die mauvaise foi.

Natürlich haben viele Kritiker die von Deutschland inspirierte Sparpolitik nicht nur für verfehlt gehalten, sondern hinter der Fassade einer wortstark reklamierten Solidarität immer schon einen Bias vermutet. Aber der Tenor der maßgebenden Presse hat viele Jahre lang dafür gesorgt, dass der gute Glaube der Bevölkerung an die solidarische Rolle der Deutschen auch in Krisenzeiten erhalten blieb. Im Großen und Ganzen wurde die uneigennützige Rolle der Bundesregierung als des umsichtigen Krisenmanagers und großzügigen Kreditgebers für glaubhaft gehalten: Hat sie nicht immer – einschließlich des missglückten Versuchs, den Griechen die Türe zu weisen – das Wohl aller Mitgliedsstaaten im Auge gehabt? Angesichts der ganz unvorhergesehenen Herausforderungen einer radikal veränderten Weltlage hat dieses gefällige Selbstbild heute erste Risse bekommen. Als Beleg nenne ich einen vor Kurzem erschienenen Leitartikel über jene berüchtigte Nacht, in der der französische Präsident der deutschen Bundeskanzlerin in den frühen Morgenstunden das Zugeständnis abgepresst hat, die Griechen nicht aus der europäischen Währungsgemeinschaft herauszuekeln. Erst heute, drei Jahre danach, darf eine immer schon klarsichtigere Cerstin Gammelin in ungeschminkten Worten an diesen Tiefpunkt unseres unverfrorenen nationalen Wirtschaftsegoismus erinnern (SZ vom 21. Juni 2018).

Für das Selbstbild der Deutschen als gute Europäer hatte es in der alten Bundesrepublik und bis zu Kohl wahrlich gute Gründe gegeben. Diese Gründe erklärten sich auch aus der Situation einer nicht nur in militärischer Hinsicht besiegten Nation – und waren trotzdem nicht ganz selbstverständlich. Nach meiner Beobachtung hat der mit Kohl einsetzende Mentalitätswandel zur gefeierten Normalität eines endlich wieder vereinten Nationalstaates dieses Selbstverständnis mit anderen Akzenten versehen und verstetigt. Schließlich hat sich dieses Bild im Zuge der Banken- und Staatsschuldenkrise und der widerstreitenden nationalen Krisennarrative immer selbstbezogener verhärtet und zunehmend Züge einer mauvaise foi angenommen. Der faule Fleck in dieser gutgläubigen Selbsttäuschung verrät sich im dissonanten Moment unseres Misstrauens gegenüber der Kooperationsbereitschaft anderer Nationen, insbesondere gegenüber dem europäischen Süden.

Wer der Bundeskanzlerin genau zuhört, bemerkt, dass sie von den Ausdrücken "loyal" und "solidarisch" einen eigentümlichen Gebrauch macht. Es war vor Kurzem im Gespräch mit Anne Will, als sie für die Asylpolitik und den Zollstreit mit den Vereinigten Staaten von den EU-Partnern gemeinsames politisches Handeln einforderte und in diesem Zusammenhang "Loyalität" anmahnte. Meistens ist es ja die Chefin, die von ihren Mitarbeitern Loyalität erwartet, während gemeinsames politisches Handeln eher Solidarität als Loyalität verlangt. Ausgehend von verschiedenen Interessenlagen, muss mal der eine, mal der andere eigene Interessen dem gemeinsamen Interesse unterordnen. Denn in der Asylpolitik sind nicht alle Länder, beispielsweise ihrer geografischen Lage wegen, gleichmäßig von der Migration betroffen; sie haben auch nicht alle die gleichen Aufnahmekapazitäten. Oder die angekündigten US-Zölle auf Autoimporte treffen den einen, in diesem Falle die Bundesrepublik, stärker als die anderen. In solchen Fällen heißt gemeinsames politisches Handeln, dass einer auf die Interessen des anderen Rücksicht nimmt und für die Folgen der gemeinsam getroffenen politischen Entscheidung mithaftet. Das überwiegend deutsche Interesse liegt in den beiden genannten Fällen ebenso auf der Hand wie etwa beim Drängen auf eine gemeinsame europäische Außenpolitik.
Die Ursache des trumpistischen Zerfalls Europas

Dass die Bundeskanzlerin in solchen Fällen von "Loyalität" spricht, erklärt sich wohl daraus, dass sie den Ausdruck "Solidarität" seit Jahren in einem anderen, nämlich ökonomistisch verengten Sinn gebraucht. "Solidarität gegen Eigenverantwortung" heißt die beschönigende Formel, die sich im Zuge der Krisenpolitik der letzten Jahre für die Erfüllung von Bedingungen eingebürgert hat, die der Kreditgeber den Kreditnehmern auferlegt. Worauf ich hinauswill, ist die konditionierende Umdeutung des Begriffs Solidarität; das ist die semantische Bruchstelle, an der heute die Gewissheit, dass wir Deutschen die besten Europäer sind, zu bröckeln beginnt. Entgegen dem wüsten Geschrei über Transferleistungen, die es niemals gegeben hat, sickern allmählich die fehlende Legitimität und der zweifelhafte Erfolg von investitionshemmenden haushaltspolitischen Auflagen und von Arbeitsmarktreformen, die für ganze Generationen Arbeitslosigkeit zur Folge haben, auch ins öffentliche Bewusstsein.

"Solidarität" ist ein Begriff für die reziprok vertrauensvolle Beziehung zwischen Akteuren, die sich aus freien Stücken an ein gemeinsames politisches Handeln binden. Solidarität ist keine Nächstenliebe, aber erst recht keine Konditionierung zum Vorteil einer Seite. Wer sich solidarisch verhält, ist bereit, sowohl im langfristigen Eigeninteresse wie im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, kurzfristig Nachteile in Kauf zu nehmen. Reziprokes Vertrauen, in unserem Fall: Vertrauen über nationale Grenzen hinweg, ist eine ebenso wichtige Variable wie das langfristige Eigeninteresse. Das Vertrauen überbrückt die Frist bis zur möglichen Probe auf eine im Prinzip erwartbare Gegenleistung, von der aber ungewiss ist, ob und wann und wie sie fällig wird. In der zwanghaft engmaschigen Konditionierung von sogenannten Solidarleistungen verrät sich der Mangel an einer solchen Vertrauensbasis – und der hohle Boden unseres nationalen Selbstverständnisses als gute Europäer.

In den Verhandlungen über Macrons Reformvorschläge zögern die Bundesrepublik und in ihrem Schlepptau die sogenannten Geberländer wiederum, die unter suboptimalen Bedingungen operierende Währungsgemeinschaft zu einer politischen Euro-Union auszubauen. Dabei müsste eine demokratische Euro-Zone nicht nur gegen Spekulationen "wetterfest" gemacht werden – mit einer umstrittenen Bankenunion, einer entsprechenden Insolvenzordnung, einer gemeinsamen Einlagensicherung für Sparguthaben und einem auf europäischer Ebene kontrollierten Währungsfonds. Sie müsste vor allem mit Kompetenzen und Haushaltsmitteln für Eingriffe gegen das weitere ökonomische und soziale Auseinanderdriften der Mitgliedsstaaten ausgerüstet werden. Es geht nicht nur um fiskalische Stabilisierung, sondern um Konvergenz, das heißt um die glaubwürdige politische Absicht der ökonomisch und politisch stärksten Mitglieder, das gebrochene Versprechen der gemeinsamen Währung auf konvergente wirtschaftliche Entwicklungen einzulösen.

Der Rechtspopulismus mag sich an den Vorurteilen gegen Migranten hochrangeln und die Modernisierungsängste verunsicherter Mittelschichten aufputschen; aber Symptome sind nicht die Krankheit selbst. Die tiefer liegende Ursache der politischen Regression ist die handfeste Enttäuschung darüber, dass der EU in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht nur die nötige politische Handlungsfähigkeit fehlt, um den Trends einer wachsenden sozialen Ungleichheit innerhalb der Mitgliedsstaaten und zwischen ihnen entgegenzuwirken. Der Rechtspopulismus verdankt sich in erster Linie der verbreiteten Wahrnehmung der Betroffenen, dass der EU der politische Wille fehlt, handlungsfähig zu werden. Der heute im Zerfall begriffene Kern Europas wäre in Gestalt einer handlungsfähigen Euro-Union die einzige denkbare Kraft gegen eine weitere Zerstörung unseres viel beschworenen Sozialmodells. In ihrer gegenwärtigen Verfassung kann die Union diese gefährliche Destabilisierung nur noch beschleunigen. Die Ursache des trumpistischen Zerfalls Europas ist das zunehmende und weiß Gott realistische Bewusstsein der europäischen Bevölkerungen, dass der glaubhafte politische Wille fehlt, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Stattdessen versinken die politischen Eliten im Sog eines kleinmütigen, demoskopisch gesteuerten Opportunismus kurzfristiger Machterhaltung. Der fehlende Mut zu einem eigenen Gedanken, für den man um den Preis der Polarisierung Mehrheiten erst gewinnen muss, ist umso ironischer, als es die solidaritätsbereiten Mehrheiten als eine fleet in being längst gibt. Ich bin der Auffassung, dass die politischen Eliten – und an erster Stelle die verzagten sozialdemokratischen Parteien – ihre Wähler normativ unterfordern. Dass diese Auffassung nicht bloß eine Spiegelung enttäuschter philosophischer Ideale ist, zeigt die jüngste Veröffentlichung der Forschungsgruppe von Jürgen Gerhards, der seit vielen Jahren großflächig und intelligent angelegte vergleichende Untersuchungen zur Frage der Solidaritätsbereitschaft in 13 Mitgliedsstaaten der EU durchführt: Inzwischen hat sich nicht nur ein verbindendes, vom Nationalbewusstsein unterscheidbares Bewusstsein europäischer Solidarität herausgebildet, sondern auch eine unerwartet hohe Bereitschaft zur Unterstützung europäischer Politiken, die eine Umverteilung über nationale Grenzen einschließen würden.
Die Bundesregierung steckt den Kopf in den Sand. Nur Macron hat Mut zur Gestaltung

Die italienische Krise ist vielleicht der letzte Anlass, um über die Obszönität nachzudenken, dass man der Europäischen Währungsunion zum Vorteil der wirtschaftlich stärkeren Mitglieder ein starres Regelsystem auferlegt, ohne zum Ausgleich Spielräume und Kompetenzen für ein gemeinsames flexibles Handeln zu öffnen. Daher ist der erste kleine Schritt zur Einrichtung eines Euro-Haushaltes, den Macron Merkel abgerungen hat, von so großer symbolischer Bedeutung. Dass sich eine Bundesregierung, die mit dem Rücken zur Wand steht, ihren zähen Widerstand gegen jeden einzelnen Integrationsschritt scheibchenweise abkaufen lässt, ist skurril. Ich kann mir nicht erklären, warum die deutsche Regierung glaubt, die Partner zur Gemeinsamkeit in Fragen der für uns wichtigen Flüchtlings-, Außen- und Außenhandelspolitik gewinnen zu können, während sie gleichzeitig in der zentralen Überlebensfrage des politischen Ausbaus der Euro-Zone mauert.

Die Bundesregierung steckt ihren Kopf in den Sand, während der französische Präsident den Willen deutlich macht, Europa zu einem globalen Mitspieler im Ringen um eine liberale und gerechtere Weltordnung zu machen. Auch das Echo, das der Kompromiss von Meseberg in der deutschen Presse gefunden hat, ist irreführend – als hätte Macron mit der Zusage zum Euro-Zonen-Budget einen dringend benötigten Erfolg im Austausch gegen seine Unterstützung für Merkels Asylpolitik erhalten. Das verwischt die Differenz, dass Macron wenigstens den Einstieg in eine Agenda erreicht hat, die weit über die Interessen eines einzelnen Landes hinausreicht, während Merkel um ihr eigenes politisches Überleben kämpft. Macron wird für die soziale Unausgewogenheit seiner Reformen im eigenen Land zu Recht kritisiert; aber er ragt über das europäische Führungspersonal hinaus, weil er jedes aktuelle Problem aus einer weiter ausgreifenden Perspektive beurteilt und daher nicht nur reaktiv handelt. Ihn zeichnet der Mut zu einer gestaltenden Politik aus. Und deren Erfolge widerlegen die soziologische Aussage, dass die Komplexität der Gesellschaft nur noch ein konfliktvermeidendes Reagieren zulasse.

Dem antikisierenden Blick auf das immergleiche Auf und Ab der Imperien entgeht das historisch Neue an der heutigen Situation. Die funktional immer dichter zusammenwachsende Weltgesellschaft ist politisch nach wie vor fragmentiert. Diese Entwaffnung der Politik erzeugt ein Gespür für die Schwelle, vor der die Bevölkerungen heute den Atem anhalten und zurückschrecken. Ich meine die Schwelle zu supranationalen Formen einer politischen Integration, die von den Bürgern verlangt, dass sie, bevor sie ihre Stimme abgeben, auch über nationale Grenzen hinweg gegenseitig die Perspektive der jeweils anderen übernehmen. Die Anwälte des politischen Realismus, die darüber ihren Hohn ausschütten, vergessen, dass ihre eigene Theorie auf den Fall des Kalten Kriegs zwischen zwei rationalen Spielern zugeschnitten war. Wo ist die Rationalität des Handelns in der heutigen Arena? Historisch betrachtet, ist der fällige Schritt zu einer politisch handlungsfähigen Euro-Union die Fortsetzung eines ähnlichen Lernprozesses, der mit der Herausbildung des Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert schon einmal stattgefunden hat. Auch damals ist das über Dorf, Stadt und Region hinausgreifende Bewusstsein nationaler Zusammengehörigkeit nicht naturwüchsig entstanden; vielmehr ist es von den tonangebenden Eliten den schon bestehenden funktionalen Zusammenhängen der modernen Flächenstaaten und Volkswirtschaften zielstrebig angepasst worden. Heute werden die nationalen Bevölkerungen von politisch unbeherrschten funktionalen Imperativen eines weltweiten, von unregulierten Finanzmärkten angetriebenen Kapitalismus überwältigt. Darauf kann der erschrockene Rückzug hinter nationale Grenzen nicht die richtige Antwort sein.