Freitag, 29. Juni 2018

Aquarius


Hasswelle


Roberto Saviano: Gefährliche Hasswelle

Die Abschottung Italiens Krieg gegen Migranten lässt mich um die Zukunft meines Landes fürchten. Der hochgepeitschte Hass gefährdet die Bürgerrechte aller.

Noch nie hatte ich dringender das Gefühl, die Stimme erheben zu müssen. Noch nie hatte ich dringender das Gefühl, erklären zu müssen, warum diese neue italienische Regierung nicht überleben darf. Noch bevor sie richtig angefangen hat zu arbeiten, hat sie schon so viel irreparablen Schaden angerichtet.

Dem Drama um das Flüchtlingsrettungsschiff Aquarius, das vergangene Woche nicht die Erlaubnis erhielt, einen italienischen Hafen anzulaufen, konnte sich niemand entziehen. Offenbar gibt es die einen, die das Schicksal von 630 Menschen auf dem Meer kalt lässt und die denken, dass es richtig war, Europa in der Flüchtlingsfrage eine Lektion zu erteilen. Dann gibt es natürlich andere, die es für verkehrt halten, 630 Menschenleben als Verhandlungsmasse zu benutzen. Das Problem ist, dass wir alle den Blick für das große Ganze verloren haben. In der heutigen Welt ist die Forderung nach „null Landungen“ von Migranten an der europäischen Mittelmeerküste nichts weiter als kriminelle Propaganda.

Der italienische Innenminister und Chef der rechtsnationalen Lega-Partei Matteo Salvini behauptet, er wolle weitere Tragödien auf See verhindern und Migranten aus den Klauen der Schleuser in Libyen und krimineller Organisation in Italien retten. Am Wochenende trug er auf Facebook erneut seine provokative Position vor. „Während die Aquarius in Richtung Spanien fährt“, schrieb Salvini, „sind zwei neue Schiffe einer Nichtregierungsorganisation vor der libyschen Küste angekommen. Sie warten darauf, ihre menschliche Fracht an Bord zu nehmen, sobald sie von den Menschenschmugglern im Stich gelassen wird. Diese Leute sollen wissen, dass Italien nicht länger Beihilfe zum Geschäft mit illegaler Immigration leistet und dass sie sich andere Häfen zum Anlaufen suchen müssen.“

Europa hat Kriminelle finanziert

Propaganda ist eine Sache, Fakten sind eine andere. Alle Vorgänger Salvinis haben versucht, eine Politik der „Null Landungen“ durchzusetzen. Sie nutzten identische Strategien und diese mündeten in identische Misserfolge, wie zum Beispiel die Internierung von Migranten in Libyen. Der einzige Unterschied ist, dass Salvini seine Garstigkeit unverhohlener zeigt und Verbündete in der Regierung hat, die ihn stützen. Über die Jahre hat Italien – genau wie Europa – viel Geld in instabile Länder gesteckt sowie Schleuser und Kriminelle finanziert, ohne etwas zu erreichen. Solange es Leute gibt, die von Afrika nach Europa kommen wollen, wird es immer jemanden geben, der sie gegen Geld hierher bringt.

Die Türen Europas sind offiziell für Afrikaner geschlossen. Der einzige Weg hinein ist heimlich, und die lybische Mafia ist bereit, den Transit zu ermöglichen – für mehr als 100.000 Afrikaner im Jahr. Es gibt eine Nachfrage und kein legales Angebot. Die Schönrederei der Erlasse Salvinis und seines Koalitionspartners, dem Chef der Fünf-Sterne-Bewegung Luigi Di Maio, ist sinnlos. Sie müssen das grundlegendste Gesetz des Marktes verstehen: Wo eine Nachfrage, da auch ein Angebot – entweder legal oder illegal.

Können wir alle aufnehmen, die von Afrika nach Europa emigrieren wollen? Nein. Aber Italien hat sich nicht das Recht erworben zu sagen: „Okay, jetzt ist es genug.“ Ich werde häufig gefragt, was denn die Lösung sei, so als gäbe es eine Formel, die das ganze Migrationsproblem löst. Aber darauf gibt es keine eindeutige Antwort – nur Schritte, die getan werden müssen.
Italien muss illegale Migranten legalisieren

Als erstes muss Italien alle illegalen Migranten im Land legalisieren. Der frühere Arbeitsminister Roberto Maroni hat das 2002 getan und 700.000 Migranten Papiere gegeben, die damit sofort zu 700.000 Steuerzahler wurden. Die jetzige Regierung kann und muss dasselbe tun. Zweitens sollten wir an Visa-Regelungen arbeiten und aufhören, die libyschen Mafias dafür zu bezahlen, als Wärter elender Internierungslager zu patrouillieren. Dieses Geld belastet unseren Geldbeutel, aber vor allem unser Gewissen (auch wenn das Gewissen vieler Italiener im Winterschlaf zu sein scheint). Drittens müssen wir Abkommen mit anderen europäischen Ländern treffen, damit die in Italien ausgestellten Papiere auch die Bewegungsfreiheit und Arbeit in der EU erlauben. Das wäre wirklich politischer Fortschritt, nicht nur lautstarkes Gerede.

Wenn das nicht passiert, lässt sich leicht voraussagen, was in den kommenden Monaten und Jahren passieren wird. Die Migranten auf dem Rettungsschiff Aquarius mussten zwei Tage auf See bleiben, bevor sie nach Spanien weiterreisten. Diejenigen dagegen, die sich auf dem italienischen Küstenwachschiff Diciotti befanden, wurden in der sizilianischen Stadt Catania an Land gesetzt. Haben wir also jetzt Migranten erster und zweiter Klasse? Die Aquarius hat Migranten aufgenommen, die durch Einsätze der italienischen Küstenwache gerettet wurden. Beim nächsten Mal wird niemand mehr die so genannten offiziellen Rettungsschiffe verlassen wollen, um in Schiffe von Hilfsorganisationen zu steigen, weil für diese die europäischen Häfen geschlossen sein könnten – für wer weiß wie viele Stunden oder sogar Tage.

Unterdessen wird in Italien still und leise ein Krieg zwischen Italienern und Migranten ausgetragen, die – ob legal oder illegal – bereits im Land leben und arbeiten, häufig unterbezahlt und manchmal unter Sklaverei gleichenden Bedingungen. Durch die Fokussierung unserer Aufmerksamkeit auf die Neuankömmlinge verlieren wir die Rechte derjenigen aus dem Blick, die bereits hier sind: Rechte, die jeder Mensch hat, unabhängig davon, ob er oder sie eine Aufenthaltserlaubnis hat oder nicht. Die Hasswelle, die gegen Menschen aus Afrika hochgepeitscht wird, die noch nicht einmal einen Fuß ins Land gesetzt haben, trifft die bereits hier lebenden Migranten.

Regierung ist populär, weil sie Zielscheiben definiert

Mit dem Aufschwung des Nationalismus, der eine rassistische Geisteshaltung gegen alles einnimmt, was als Fremdkörper verstanden wird, entwickeln sich die Italiener gesellschaftlich gesehen zurück. Das erste offizielle Statement des neuen Ministers für Familie und Menschen mit Behinderung von der Lega-Partei, Lorenzo Fontana, richtete sich gegen homosexuelle Familien und gegen Abtreibung. Fontanas Worte waren ein schwerer Schlag in einem Land, dass Jahrzehnte lang auf ein Gesetz zu eingetragenen Partnerschaften warten musste, und wo Verweigerung aus Gewissensgründen in öffentlichen Krankenhäusern immer noch die Referendums-Entscheidung zu Abtreibung aus dem Jahr 1981 verrät.

Die traurige Nachricht ist, dass diese Regierung viele Unterstützer hat und populär ist, weil sie Zielscheiben definiert: bestimmte Art von Individuen, an denen die Leute ihre Frustration ablassen können; Feinde, die gesteinigt werden können. Ob die Italiener das hören wollen oder nicht: Genau so ist es.

Aber die vielen Leid geplagten und wütenden Italienern werden ihre Situation nicht verbessern, indem sie gegen Migranten mobil machen. Im Gegenteil. In Ländern, in denen Rechte für alle garantiert werden, inklusive Minderheiten, profitiert davon das gesamte Gemeinwesen. Gemeinschaften haben Jahrzehnte für Integration gebraucht. Dagegen kann in sehr kurzer Zeit alles wieder wie eine Sandburg zusammenstürzen, zerstört durch einen Nationalismus, der jeden zum Feind aller anderen macht.

Und wenn Europa seine Aufgabe, Migranten aufzunehmen und zu integrieren, nicht erfüllt, wären die politischen Anführer, die der Situation nicht gewachsen sind, besser still, als auf gezielte Beleidigungen zu setzen. Anstatt in unzivilisierten Nativismus abzurutschen, der die Rechte der in einem Land Geborenen vertritt und gegen die Einwanderung von Fremden kämpft, ist es Italiens Pflicht, sich für einen Wandel zum Besseren einzusetzen. Menschenleben sind in Gefahr.

Der Freitag 19.06.2018

Dienstag, 26. Juni 2018

Die westliche Wertegemeinschaft




Italiens Kolonialismus und Italiens Gegenwart


Reden Sie auf Partys über die Kolonialzeit?

Gespräch von Karen Krüger mit Francesa Melandri

   
Frau Melandri, gerade ist Ihr dritter Roman auf Deutsch erschienen. „Alle, außer mir“ ist eine italienische Familiensaga. Der Originaltitel lautet „Sangue giusto“, „Richtiges Blut“. Was ist „richtiges Blut“ im heutigen Italien?

Richtiges Blut hat es nie gegeben und wird es natürlich auch nie geben. Eine Hierarchie des Blutes oder der Rasse existiert nicht als biologische Realität. Die italienische Halbinsel ist schon vor der Zeit des multikulturellen Römischen Reiches ein Knotenpunkt im Mittelmeer gewesen, deshalb haben Italiener eine sehr bunte DNA.

Matteo Salvini, der neue italienische Innenminister, ist für rassistische Äußerungen bekannt. Wird Abstammung in Italien wichtiger werden?

Auf lange Sicht gesehen auf keinen Fall. Die Entwicklung in Europa geht ja in eine ganz andere Richtung. Die Grundschulen sind voller Kinder mit unterschiedlicher Hautfarbe. Weiße Rechtsextreme mögen vielleicht ein paar Siege erringen wie etwa die Wahl Donald Trumps. Dennoch sind sie auf der Verliererseite der Geschichte. Es heißt, in den Vereinigten Staaten wären Bürger europäischer, also weißer Abstammung, bis zum Jahr 2045 nicht mehr in der Mehrheit. Das Schüren von Rassismus ist einfach sehr nützlich, um von der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit abzulenken, die nicht nach der Hautfarbe fragt. Es ist eine uralte Strategie und einer der Gründe, warum der Rassismus erfunden wurde. Europas Populisten tun so, als könnten wir in eine Zeit zurückkehren, in der man sich als Europäer immer inmitten von weißen und christlichen Europäern wiederfand. Aber diese Zeit hat es tatsächlich nie gegeben.

Ihr Roman porträtiert die italienische Gesellschaft von heute, handelt aber auch von der kolonialen Vergangenheit. Im Mittelpunkt steht die Lehrerin Ilaria. Eines Tages steht ein junger Afrikaner vor ihrer Tür in Rom und behauptet, ein Enkel ihres Vaters zu sein. Während der Kolonialzeit diente er als junger Mann im besetzten Äthiopien. Die Suche nach Wahrheit wird Ilarias gesamte Identität in Frage stellen. Wie verbreitet ist es unter Italienern, über die koloniale Vergangenheit zu sprechen?

Es ist nicht besonders verbreitet. Ich kann mir jedoch kaum vorstellen, dass die kolonialen Vergehen der Deutschen in Namibia ein besonders angesagtes Gesprächsthema bei Dinnerpartys in Deutschland sind, oder dass man in Holland oft über die in Indonesien begangenen Massaker plaudert, oder in Belgien über die Schrecken der Kolonialzeit in Kongo. Italien hat seine Kolonialherrschaft, die übrigens von kurzer Dauer war, nie ernsthaft aufgearbeitet. Leider ist das eher die Regel als die Ausnahme. Das Thema, über das in der westlichen Welt tatsächlich nie gesprochen wird, ist allerdings die Tatsache, dass der Kolonialismus noch immer die Verteilung von Wohlstand in der Welt bestimmt.

Die Bundesregierung hat bis heute nicht den deutschen Völkermord an den Nama und Herero im Jahr 1904 anerkannt. 2016 haben Hereros Deutschland bei einem Gericht in New York verklagt. Deutschland hat noch nicht einmal die Anklageschrift entgegengenommen. Es ist beschämend, und ich bin mir sicher, viele Deutsche haben noch nie von den Herero und Nama gehört.

Genauso wissen nur wenige Italiener über General Rodolfo Grazianis blutige Vergeltungsschläge in Äthiopien Bescheid. Man nannte ihn den Schlächter von Libyen und Abessinien. Vielleicht haben manche davon gehört, es ist ihnen jedoch egal. Und viele Engländer wissen nichts über die furchtbare Niederschlagung der Mau-Mau-Rebellion in Kenia durch britische Kolonialtruppen. Die Hegemonie des Westens hat uns das Privileg der Ignoranz geschenkt. Viele glauben noch immer, der Kolonialismus sei ein gleichberechtigtes Geben und Nehmen gewesen: „Wir gaben ihnen Zivilisation und nahmen uns dafür ihre Ressourcen.“

In Ihrem Roman wurde Attilio Profeti, Ilarias Vater, 1905 geboren. Er wuchs zur Zeit des Faschismus auf und kämpfte im Zweiten Italienisch-Äthiopischen Krieg. Später stellte er weder den Faschismus noch, was er damals getan hat, in Frage. Ist das in Italien typisch für diese Generation?

Es gibt diese spezielle Form des kollektiven Schweigens, das immer auf das katastrophale Versagen einer Gesellschaft folgt. Dieses Schweigen ist einer bestimmten Generation von Deutschen und Italienern gemein, aber es gibt Unterschiede. Die Deutschen haben den Krieg verloren und Auschwitz erschaffen. Nichts konnte diese Tatsachen abmildern. Italien war zunächst ein Verbündeter Hitlers, wurde dann jedoch von den Nazis besetzt. Die Menschen reagierten mit einer starken Widerstandsbewegung. Aus diesem Grund haben uns die Alliierten, als der Krieg zu Ende ging, anders behandelt. Sie zwangen uns nie, ein Gerichtsverfahren wie die Nürnberger Prozesse gegen Kriegsverbrecher wie Graziani anzustrengen. Die Briten waren verständlicherweise nicht gerade begeistert von der Idee, andere Europäer für deren koloniale Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen. All das hat es den Italienern relativ leicht gemacht, sich mit der Rolle des Opfers oder des Helden zu identifizieren und nicht mit der Rolle des Täters.

„Ihr wisst nichts von uns, nicht einmal, wenn ihr hier gewesen seid“, sagt im Buch Shimeta, Ilarias äthiopischer Neffe.

Zwischen dem Kolonisator und dem Kolonisierten herrscht immer ein Ungleichgewicht an Aufmerksamkeit. Der erste will den anderen nur ausbeuten. Der Kolonisierte muss hingegen lernen, den Kolonisator zu verstehen, um zu überleben. Dieser Mechanismus trifft auf alle Arten von ungleichen Beziehungen zu. Es ist paradox, denn der Dominante ist in Wirklichkeit im kognitiven Nachteil. Er kennt nur sich selbst, während der andere beide kennt. Das Gleiche passiert mit Migranten: Um zu überleben, muss ein Migrant die Mehrheitsgesellschaft beobachten und verstehen lernen. Andersherum passiert das selten.

Einige glauben, der derzeitige Erfolg von Populisten und rechten Parteien in Italien habe mit der fehlenden Vergangenheitsbewältigung zu tun.

Wie überall auf der Welt sind da bestimmt noch andere Faktoren im Spiel. Der Abbau des Wohlfahrtsstaates macht viele unzufrieden. Wir haben eine alternde Gesellschaft und damit viele Wähler, die besonders anfällig sind für Sorgen und Ängste, und rechte Parteien sind sehr geschickt darin, daraus Kapital zu schlagen. Zudem hat es ausländische Einmischungen gegeben. Putin zum Beispiel hat einen Haufen Geld in rechte Parteien und Bewegungen gesteckt und tut dies immer noch – man denke nur einmal an Marine Le Pens Front National. Ich bin außerdem überzeugt, dass die Medien mitverantwortlich sind für die derzeitige Situation. In Italien wurde der investigative Journalismus fast vollständig von den Talkshows verdrängt. Wenn nur noch gestritten, geschrien und nicht mehr richtig diskutiert wird, werden unweigerlich populistische Standpunkte zum Ausdruck gebracht. Sogar altehrwürdige Zeitungen fingen ab einem gewissen Zeitpunkt an, eine Weltsicht zu hofieren, die unterschwellig rassistisch und frauenfeindlich ist. Und nun – Überraschung! – sind rassistische und frauenfeindliche Leute an der Macht. Selbstverständlich haben kein einziger Journalist und keine Chefredaktion Verantwortung für das kulturelle Debakel der vierten Gewalt übernommen. Schuld sind immer andere: Facebook, Lehrer, Smartphones, was auch immer. Alle, außer mir eben.

Sie beschreiben für die Flüchtlinge katastrophale Lebensbedingungen in Italien. In Rom leben viele auf der Straße. Sie schlafen tagsüber, weil die Nacht zu gefährlich für sie ist. Ist Italien überfordert?

Es halten sich ganz bestimmt nicht zu viele Flüchtlinge in Italien auf. Die Populisten behaupten das und sind sehr erfolgreich damit. Italien verfügt aber eigentlich über genügend Mittel, um die Flüchtlinge erfolgreich zu integrieren. Die Eingliederung in die Gesellschaft wäre im Interesse aller, da das Land dringend neue Steuerzahler braucht, die unsere Pensionen und das staatliche Gesundheitssystem finanzieren. Die Geburtenrate sinkt, die Lebenserwartung steigt. Doch die integrationsfördernden Strukturen sind nicht so implementiert, wie sie es längst sein sollten. Oft wissen die Geflüchteten nicht, wo sie Unterstützung bekommen können. Das betrifft selbst jene, die einen gesetzlichen Anspruch darauf haben, da ihnen der Flüchtlingsstatus zugesprochen wurde. Aus diesem Grund sind Migranten, die sich erst seit kurzem in Italien aufhalten, sehr sichtbar in den Straßen. Gleichzeitig gibt es viele Fälle, in denen die Integration schnell und hervorragend gelingt. Das allerdings ahnt man nicht, wenn man die italienischen Abendnachrichten sieht: Migranten kommen darin nur als Kriminelle vor oder wenn sie im Meer ertrunken sind. Die Populisten, die jetzt an der Macht sind, haben eine klare Agenda: Sie wollen die Situation vor die Wand fahren, damit sich soziale Ängste und Konflikte zementieren und noch mehr Leute sie wählen. Die Kriminalisierung von Organisationen und Strukturen, die Migranten unterstützen, wird der nächste Schritt sein. Orbán macht es in Ungarn ja vor.

Im Roman lebt Ilaria in Rom im multiethnischen Viertel Esquilino. Es gefällt ihr dort. Sie ist aber voller Sarkasmus für Leute, die Immigration als Bereicherung bezeichnen.

Migranten ausnahmslos toll zu finden, ist auch eine Art von Rassismus. Es ist genauso rassistisch, wie sie generell als Kriminelle anzusehen.

Was hat Sie dazu gebracht, über einen äthiopischen Flüchtling zu schreiben?

Vor einigen Jahren hat einer meiner Dokumentarfilme einen Preis beim Filmfestival von Lampedusa gewonnen. Die Jury bestand aus Filmemachern, Fotografen und Schauspielern die alle als Migranten nach Italien gekommen waren. Einer von ihnen war in Libyen in ein Boot gestiegen. Ich fragte ihn nach dieser ungewöhnlichen Reise. Er sagte: „Euch alle interessiert immer nur das. Aber niemand fragt, wie unser Leben zu Hause gewesen ist.“ Tatsächlich hatte auch ich ihn in diese Schublade „Migrant“ gesteckt. Danach habe ich viel über meine Voreingenommenheit nachgedacht.

Würde jemand wie Innenminister Salvini Ihren Roman lesen?

Das Lesen eines Romans erfordert eine gewisse Zurückgezogenheit ohne Publikum und Fotografen. Es ist eine Form von Einsamkeit, die nur dem Zweck dient, den persönlichen geistigen, emotionalen und intellektuellen Horizont zu erweitern. Ich denke, Salvini hat andere Prioritäten, seine Zeit zu verbringen.

 aus: FAZ, 25.06.2018

Samstag, 16. Juni 2018

Das Recht auf Asyl

Der Vorschlag, Asylsuchende doch einfach direkt an der Grenze abzuweisen, ist als politisches Material erstaunlich langlebig. Erstaunlich, weil das Recht dem Vorschlag so eindeutig entgegensteht. Das Europarecht steht ihm entgegen, in Form der Regelungen der Dublin-Verordnung. Wenn man die ändern oder missachten möchte, steht dem Vorschlag immer noch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) entgegen, mit dem Verbot der Kollektivausweisung nach Art. 4 Zusatzprotokoll IV. Und falls die entsprechenden Fraktionen überlegen, aus der EMRK auszutreten, steht der Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze auch noch die Genfer Flüchtlingskonvention und das Völkergewohnheitsrecht entgegen, mit dem Refoulement-Verbot und der deklaratorischen Natur der Flüchtlingsanerkennung. Insofern wäre politische Energie besser investiert, indem über rechtskonforme Vorschläge der Gestaltung von Flüchtlingsschutz diskutiert wird.

Die Regeln der Dublin-Verordnung

Die Staaten der Europäischen Union haben sich entschieden, Asylverfahren und Flüchtlingsschutz gemeinsam zu regeln. Das ist kaum anders denkbar angesichts des Schengenraums, in dem es keine Kontrollen an den Binnengrenzen mehr stattfinden. So finden sich die Vorvorgängerregeln der Dublin-Verordnung bereits im Schengener Durchführungsübereinkommen von 1990. Dass Asyl auf Ebene der EU geregelt wird, ist in anderen Worten eng verbunden mit dem Kern dessen, was für viele Bürgerinnen und Bürger Europa ausmacht – das Unsichtbarwerden von Grenzen.
Art. 78 AEUV führt die Regelungskompetenz der EU bezüglich Flüchtlingsschutz aus, dort findet sich unter Absatz 2, Buchstabe e die Vorgabe, Zuständigkeitsregeln zu erlassen. Das ist passiert in Form der Dublin-Verordnung. Die Dublin-Verordnung wiederum hat zwei Kernanliegen. Einerseits soll „forum-shopping“ vermieden werden, Schutzsuchende können sich nicht aussuchen, wo sie ihren Asylantrag stellen. Andererseits soll sichergestellt werden, dass Schutzsuchende einen Ort haben, wo sie vorläufig aufgenommen werden und wo ihr Asylantrag bearbeitet wird. „Refugees in orbit“ sollen vermieden werden, bzw. dass Asylsuchende zwischen den Interessen von Staaten zerrieben werden. Nun kann man streiten, wie gut die Dublin-Verordnung diese Ziele erreicht. Es mangelt nicht an Kritik. Aber die Dublin-Regeln gelten und sie sollten gelesen werden vor dem Hintergrund dieser Ziele.
Weshalb also stehen die Dublin-Verordnung und allgemeiner ein gemeinsames Zuständigkeitssystem der Idee entgegen, Personen an der Grenze abzuweisen? Weil es ein Verfahren gibt, in denen diese Zuständigkeitsverteilung geprüft wird.
Art. 3 Dublin-Verordnung spricht von der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz – diese Prüfung ist die inhaltliche Prüfung, ob die Personen als schutzberechtigt anerkannt ist. Diese Prüfung ist die chronologisch zweite: zunächst muss geprüft werden, welcher Mitgliedstaat für die inhaltliche Prüfung zuständig ist. Daher spricht Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung vom „die Zuständigkeit prüfende[n]“ Mitgliedstaat. Diese chronologisch erste Prüfung der Zuständigkeit möchten die „Flüchtlinge an der Grenze abweisen“-Vorschlager vermeiden. Sie ist aber Grundlage der Dublin-Verordnung: eine Zuständigkeitsregelung, bei der die Zuständigkeit nicht geprüft sondern an der Grenze vermutet wird, wäre eine Farce. Die Prüfung der Zuständigkeit ist in der Dublin-Verordnung selbstverständlich verankert, so auch explizit in den Verfahrensgarantien der Art. 4 bis 6. Und die Prüfung der Zuständigkeit ist eben unverzichtbar, um zu vermeiden, dass Flüchtlinge hin- und herverwiesen werden und kein Staat die Zuständigkeit akzeptiert.
Nun mögen die Vorschlagenden einwenden, dass regelmäßig Deutschland nicht der nach Kapitel III Dublin-Verordnung zuständige Staat ist. Und dass es gleichzeitig so schwierig ist, Personen an andere Mitgliedstaaten zu überstellen – insbesondere seitdem der EuGH die Fristen dafür im Urteil Mengesteab eng ausgelegt hat. Was ist also mit dem Ziel, „forum shopping“ zu vermeiden? Erstens ist nicht auf Grund der geographischen Lage klar, dass Deutschland nicht zuständig wäre. Es gibt neben dem Kriterium des ersten Eintritts in die EU zahlreiche weitere, vorrangige Zuständigkeitsregeln in den Artikeln 8 bis 12 Dublin-Verordnung. Zweitens enthält die Verordnung die Pflicht, das Asylverfahren zu übernehmen, wenn in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel im Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen bestehen (Art. 3 Abs. 2). Das reagierte auf die Rechtsprechung seit M.S.S. gg. Belgien und Griechenland (EGMR) und N.S. (EuGH).
Es ist also nicht klar, wenn eine Person an der Grenze steht, ob Deutschland für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständig ist. Daher muss erst die Zuständigkeit geprüft werden. Herr Dobrindt liegt falsch, wenn er meint, dass ein Blick in die Fingerabdruckdatei Eurodac diese Prüfung ersetzen könnte. Eurodac erkennt Personen. Die Rechtslage erkennen Richter. Zum Glück. Bei allen Problemen, die man ihr vorhalten kann, transportiert die Dublin-Verordnung diese wichtige Entscheidung: Dass es letztlich um den Schutz von Personen geht. Deren Wohl ist gegen die Interessenskonflikte der Mitgliedstaaten abzusichern und so sehen die Regeln vor, dass in jedem Fall ein Staat zuständig bleibt. Deshalb ist ein Abweisen von Personen an der Grenze unter EU-Recht schlicht unzulässig.

Verbot der Kollektivausweisung

Auch in einer Welt ohne EU-Recht wäre der Vorschlag, Personen an der Grenze ohne Verfahren abzuweisen, nicht mit dem Recht vereinbar. Im Art. 4 des von Deutschland ratifizierten IV. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) findet sich das Verbot der Kollektivausweisung. Diese gilt auch für Zurückweisungen an der Grenze (so der EGMR in Fall N.D. und N.T., para. 104). Das heißt, Personen dürfen nicht pauschal abgewiesen werden, ihre individuellen Umstände müssen zur Kenntnis genommen und berücksichtigt werden. Das ist weniger als die Vorgaben der Dublin-Verordnung, welche ein spezifisches Verfahren der Zuständigkeitsprüfung verlangen. Aber bereits durch das Verbot der Kollektivausweisung wären Zurückweisungen mit vorgefertigten Begründungen, die sich nur nach der Nationalität des Asylsuchenden oder nach einem Eurodac-Treffer richten, unzulässig.

Das Refoulement-Verbot und die deklaratorische Natur der Anerkennung als Flüchtling

Schließlich trifft der Vorschlag von Alexander Dobrindt auch im allgemeinen Völkerrecht auf Hindernisse. Das Verbot, Flüchtlinge zurückzuweisen, das Refoulement-Verbot, gilt nach Art. 33 Abs. 1 Genfer Flüchtlingskonvention sowie völkergewohnheitsrechtlich und ebenfalls bereits an der Grenze. Nun geht es um eine Zurückweisung in Nachbarländer Deutschlands, nicht in die Staaten, aus denen Personen geflohen sind. Aber das Refoulement-Verbot erfordert auch, sicherzustellen, dass eine Person nicht Opfer einer Kettenrückschiebung wird. Abgewiesen werden darf also nur, wenn sicher ist, dass die Person nicht in dem anderen Staat ebenso zurückgewiesen wird. Insofern verbleibt von dem Prinzip auch mitten in Europa ein wesentlicher Gehalt: der Staat muss genau hinschauen. Das geht gerade nicht mit pauschaler Abweisung an der Grenze.
Gilt das Refoulement-Verbot nur für Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)? Im Ausgangspunkt gilt es für sie – aber vor einem Verfahren kann niemand wissen, ob es sich bei Personen um Flüchtlinge im Sinne der GFK handelt. Insofern entfaltet das Prinzips seine Schutzwirkung unabhängig von einer später erst festzustellenden Flüchtlingseigenschaft. Dies bildet die Kehrseite der deklaratorischen Natur der Anerkennung als Flüchtling (siehe UNHCR Handbook, para 28): Als Flüchtling zu schützen ist eine Person schon bevor der Staat über ihren Schutzstatus befinden konnte. Ja, das bedeutet, dass auch Personen zu schützen sind, die später nicht in die Kategorie des Flüchtlings oder der subsidiär Schutzberechtigten fallen. Ja, das bedeutet, das Personen vorläufig aufgenommen werden müssen, bei denen sich später herausstellt, dass sie keinen Schutzanspruch haben. Die Unsicherheit, welche an der Grenze besteht, soll dem Recht nach vom Staat getragen werden, der ein Verfahren betreiben kann. Sie soll nicht von den Asylsuchenden getragen werden, die allenfalls zu Unrecht und ohne anderen Ausweg abgewiesen werden. Diese Verteilung, die das Recht vornimmt, verlangt dem Staat etwas ab. Aber sie ist richtig, denn das Flüchtlingsrecht hat zum Ziel, Menschen vor Verfolgung zu schützen – nicht Staaten vor Menschen.

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem hat Mängel, ohne Frage. Aber es enthält mit der Dublin-Verordnung eine Grundentscheidung, die wesentlich ist: Jeder Asylsuchende in der EU soll irgendwo Zugang zu einem Verfahren bekommen. Die Grundentscheidung der Dublin-Verordnung lautet also: Die Mitgliedstaaten können streiten, welcher zuständig ist für eine Person. Aber sie müssen dies in geordneten Verfahren tun. Damit diese Verfahren sicherstellen, dass am Ende immer ein Staat zuständig ist und Menschen nicht ohne Zugang zum Recht hin- und hergeschoben werden. Diese Grundentscheidung steht auf dem Spiel, wenn wir darüber diskutieren, ob Personen nicht einfach direkt an der Grenze zurückgewiesen werden können.
Wer die Dublin-Verordnung nur mit Blick auf den Streit zwischen Staaten betrachtet, mag die Zurückweisung an der Grenze für harmlos halten – dann wird eben einem anderen Staat die Verantwortung zugeschoben. Aber der Zweck der Dublin-Verordnung und des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist letztlich der Schutz von Personen. Dieser Schutz ist fundamental gefährdet, wenn Personen zurückgewiesen werden, ohne dass ein anderer Staat zugesagt hat, sie auch aufzunehmen. Deshalb ist das formale Verfahren, in dem die Zuständigkeit geprüft und unter Umständen ein anderer Mitgliedsstaat um Aufnahme ersucht wird, unerlässlich. Mit der Forderung, diese Grundentscheidung aufzugeben, wird über dem Zuständigkeitskonflikt der Zweck des Systems missachtet.
Das Recht ist eindeutig, wie ich in der vorhergehenden Zusammenfassung geschrieben habe. Aber es geht um mehr noch als die Frage, ob man sich völkerrechts- und europarechtskonform verhalten wird. Wenn diese Regeln von einzelnen Staaten gebrochen werden, wird das unter Umständen von anderen Staaten aufgefangen. Wenn die Staaten beginnen, diesen Rechtsbruch zu akzeptieren, dann riskieren wir mitten in Europa das, was Hannah Arendt eindringlich als absolute Rechtlosigkeit von Flüchtlingen beschreibt. Dass Personen letztlich nirgendwo Zugang zum Recht finden, dass ihnen das „Recht Rechte zu haben“ verweigert wird. Es wäre das Ende von Europas Bekenntnis zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte[n] des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte“. Es wäre das Ende der Idee Europas.