Mittwoch, 17. Juli 2013


Es geht nicht nur um Überwachung geht, sondern um die ökonomische, politische und militärische Macht, die da überwacht

Ranga Yogeshwar im Gespräch mit Dietmar Dath Rechnen Sie damit, lebenslang ein Verdächtiger zu sein
FAZ 12.07.2013

(Auszüge)

Yogeshwar: Bislang wurden die Behörden erst dann aktiv, wenn eine Straftat vorlag, und man ging zum Arzt, wenn man krank war. Inzwischen aber lässt sich immer genauer berechnen, ob ein Mensch womöglich kurz davor steht, eine kriminelle Handlung zu begehen, oder eine noch gesunde Patientin eine erhöhte Wahrscheinlichkeit aufweist, zum Beispiel an Brustkrebs zu erkranken. Sie ist noch nicht krank, jedoch zeigen genetische Daten und bestimmte andere biologische Indikatoren, dass sie in der Zukunft erkranken könnte.

Und an genau dieser Stelle überschreiten wir den Rubikon zwischen Realität und dem digitalen Abbild: Nicht der Mensch an sich, sondern die Vorhersage des Modells wird Grundlage des Handelns. Der noch gesunden Patientin entfernt man vorsorglich die Brüste, und der unbescholtene Bürger wird vorsorglich womöglich verhaftet.

Dath: Wer Menschen ausrechnet, braucht nicht nur Rechner, sondern auch einen Begriff davon, was das ist: ein Mensch. Man kann diesen Begriff spieltheoretisch formulieren - Ein Mensch ist einer, der rational spielt, um zu gewinnen. Wenn das Spiel aber etwa heißt: Der mit den wenigsten Fingern kriegt den Jackpot, dann gilt für ein spieltheoretisches Kalkül derjenige als rational, der sich die Finger abschneidet. Die neuen Überwachungstechniken scheinen die Wahrheit dieser spieltheoretischen Kalküle zu beweisen. In Wirklichkeit setzen sie die Geltung dieser Kalküle selbst erst durch - weil es nicht nur um Überwachung geht, sondern um die ökonomische, politische und militärische Macht, die da überwacht. Die Kalküle werden von ihr als vom Himmel gefallene Wahrsagekunst verkauft. Dabei kann man durchaus beschreiben, wie sie funktionieren.

Yogeshwar:Diese Entwicklung basiert auf einer Magie der Mathematik: Beginnen wir bei der Identifizierung - wie finde ich einen Menschen unter einer Million? Nehmen Sie mal eine Eigenschaft, die nichts Abseitiges ist, die bei einem von zehn Menschen vorkommt. Da würde jeder Bürger einer Stadt mit dreißigtausend Einwohnern sagen: Na gut, wenn das jemand über mich weiß, habe ich nichts dagegen, es gibt ja in meiner Stadt dreitausend Bürger, auf die das ebenfalls zutrifft. Aber mit zwei solchen Eigenschaften filtern Sie mathematisch aus hundert Menschen einen heraus, mit drei einen aus tausend, mit nur sechs Eigenschaften finden Sie einen in einer Million. Das sind orthogonale Filter, im Sinne der Mathematik orthogonal: voneinander unabhängig.

Der zweite Schritt ist nun, dass man die Leute nicht mehr nur finden, sondern digitale Profile erzeugen kann, die sich modellieren lassen - wenn eine Person dies, das und jenes gemacht hat, kann ich mit einer guten Wahrscheinlichkeit vorhersagen, was sie als Nächstes tun wird. Sie haben etwa einen Internet-User, der kauft sich eine Fahrradhose und ein Fahrrad. Dann ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass er einen Helm kaufen wird - also kann ich ihm Werbung für einen Helm schicken lassen, von einer Maschine. Weiter: Gibt es Indikatoren, dass dieses Ehepaar sich scheiden lassen wird? Wird ein Arbeitgeber bald kündigen? Wechselt ein Stammwähler vielleicht die Partei?

Donnerstag, 13. Juni 2013

Die leere und imaginäre Mitte der Demokratie

Felix Trautmann

                Das Projekt «Volksherrschaft» Die leere und imaginäre Mitte
                NZZ Dossier: Volksherrschaft Mittwoch, 29. Mai 2013

Das Volk, das über sich herrscht, muss zuallererst zum Volk werden. Wie dies geschehe und mit welchen Mitteln, darauf hat es in der Geschichte der Demokratie vielerlei Antworten gegeben. «Das Volk» blieb dabei stets eine imaginäre Einheit.

Die Herrschaft des Volkes ist mehr als die Summe ihrer institutionellen Verfahren und rechtsstaatlichen Prinzipien. Sie ist auch die Manifestation des Volkes als Volk. In der verfassunggebenden Formel «Wir, das Volk» bleibt jedoch zunächst unklar, wie sich dieses «Wir» formiert. Die Frage Rousseaus – «Wie wird ein Volk zum Volk?» – lässt zunächst die eigentümliche Verdopplung in der Selbstbezugnahme erkennen. Für die demokratische Konstituierung des Volkes ist bis heute die Vorstellung entscheidend, dass das Volk im Akt seiner «Instituierung», gemäss dem lateinischen «instituere», seinen eigenen Anfang setzt. Dazu muss es in gewisser Weise schon da sein, und doch wird es erst durch diesen Akt, was es fortan bleibt: das verfasste Volk. «Wir» sind bereits das Volk – und: werden es erst.
Ein Paradox und ein Volksfest
Die Volksherrschaft beginnt mit diesem Paradox. Versuche, es aufzulösen, gibt es zahlreiche: Während konservative Modelle von einer Substanz ausgehen, die in einem bestimmten Kollektiv bereits kulturell angelegt sei und sich schliesslich nur noch politisch zu artikulieren habe, nehmen liberale Modelle an, dass das Volk der vertragliche Verbund von Individuen sei, die einander zunächst egoistisch und ungeschützt gegenübergestanden seien. Indem beide Modelle so den Gründungsakt seines Paradoxes berauben, entschärfen sie jedoch, was «Volk» im demokratischen Sinne ist und sein kann.
Für Rousseau war klar, dass die Antwort auf seine Frage nach dem Werden des Volkes im Verweis auf die lebendige Stimme des Gemeinwillens gefunden werden könne. Sie allein vermöge das gesellschaftliche Band zu stiften, durch welches das Gemeinwohl zum Gegenstand der Politik werde. Damit die Stimme der «volonté générale» nicht verstummt und damit sich Regierende und Regierte als Freie und Gleiche begegnen können, muss ein «lien social» jedoch allererst gestiftet werden. Dieses soziale Band kann dabei durchaus als die Selbstdarstellung des Volkes beschrieben werden, in der und durch die sich alle anerkennen. Die Differenz von Zuschauer und Darsteller, die das Volk zu spalten droht, muss zu diesem Zweck aufgehoben werden. Rousseaus Beschreibung des Bürgerfests, in dem die Zuschauer selbst zu Darstellern werden und ihre eigene Darstellung finden, kommt dem am nächsten: «Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Baum auf, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest haben», schreibt er in seinem «Brief an Herrn d'Alembert».
Nun könnte dies leicht als Aufruf zur ekstatischen Verschmelzung des Volkes missverstanden werden. Das Bürgerfest ist jedoch gerade nicht der Prototyp einer totalitären Beschwörung des Volkswesens, sondern handelt vielmehr von der Schwierigkeit, das Volk und seinen Gemeinwillen dingfest zu machen. Der Gegenstand des Festes ist sogar genaugenommen, so Rousseaus lapidare Feststellung: «nichts» – «rien, si l'on veut».
Erschafft sich also das Volk, gleichsam vorbildlos, aus nichts? Oder dreht sich der Akt der Selbstsetzung um mehr als um dieses «nichts»? Wenn das Volk weniger ist als die Selbstvergewisserung einer «organisch» gegebenen Volksgemeinschaft, aber mehr als die blosse Versammlung von Einzelpersonen, kann auch Rousseaus Baum eine Rolle spielen. Selbst minimal geschmückt, scheint er wesentlich dafür zu sein, dass sich das Volk eine Mitte und mehr noch: eine Darstellung gibt. Doch wie erscheint darin nun der Gemeinwille? Wie erscheinen sich die Bürger als Teil dieses Volkes? Die Dimension des Erscheinens ist dabei durchaus ernst zu nehmen; an ihr hängt die Wirklichkeit des Volkes. Wenn das Volk nicht schon da ist, sondern immer erst erscheinen muss, stellt sich in seiner Mitte die offene Frage: «Wer ist Wir?»
In dieser Frage und den Versuchen ihrer Beantwortung wird die Gestalt des Volkes selbst zum Gegenstand des politischen Streits, jedoch ohne in einer einfachen Abstimmung endgültig entschieden werden zu können. Wer gehört dazu, wer nicht? Was sind die Bedingungen der Teilhabe, was die symbolischen, historischen oder kulturellen Referenzen des Volkes? Die Volksherrschaft umfasst folglich nicht nur die Auszählung der Stimmen, sondern auch den Prozess der symbolischen Selbstdarstellung des Volkes. Der für die Demokratie zentrale Begriff der Repräsentation umfasst, genau besehen, beides: sowohl die Stellvertretung im politischen Mandat als auch die Figuration des Volkes in seiner Erscheinung. Was der politische Willensbildungsprozess erzeugt, ist immer auch eine Vorstellung des politischen Kollektivs. In dieser Vorstellung, die stets konflikthaft, heterogen und bestreitbar bleibt, zeigt sich, dass das darin angerufene Volk ein imaginärer Bezugspunkt der Volksherrschaft ist. Imaginär, weil in der Repräsentation des Volkes etwas zur bildlichen Darstellung gebracht und damit fasslich wird, was im Volk zunächst abwesend ist. Zugleich wird in der Repräsentation etwas verdoppelt oder intensiviert, indem es im strengen Wortsinne repräsentiert, das heisst erneut gegenwärtig wird.
Unauffindbar
Es ist dieser Repräsentationszusammenhang – die Präsentierung eines Abwesenden sowie die Intensivierung oder Verdopplung eines bereits Anwesenden –, der in der Volksherrschaft selbst nicht aufgelöst werden kann. Dies dennoch tun zu können, bleibt der Irrglaube der basisdemokratischen Idee einer Aufhebung jeder Stellvertretung im Volk. Doch die Volksherrschaft kommt nicht ohne diesen doppelten Sinn der Repräsentation aus. Viel eher kann sie auf das Volk selbst, in seiner substanziellen Gestalt, verzichten. Die Demokratie ist daher in gewisser Weise, wie Catherine Colliot-Thélène betont hat, «ohne Volk» denkbar – sie ist, anders (und mit Pierre Rosanvallon) gesagt, die Herrschaft des Volks, das «unauffindbar» bleibt: «le peuple introuvable».
Aber – gibt es historisch gesehen nicht eine Vielzahl «auffindbarer» Völker? Handelt die Volksherrschaft neben der Deklaration des Rechts und seiner Prinzipien nicht auch von der Macht der Versammlung eines konkreten Volkes, das einen Namen trägt – und später auch eine Flagge, einen Festtag, ein kulturelles Gedächtnis, Persönlichkeiten und vieles mehr in seiner Mitte vorzuweisen hat? Wenn die Repräsentationen des Volkes etwas figuriert, was immer auch abwesend oder sogar undarstellbar bleibt, dann ist der Prozess der politischen Kollektivierung selbst nicht «nichts». Es scheint geradezu eine Notwendigkeit für den Baum und seine Umkränzung zu geben. Die Requisiten des Bürgerfests spielen somit eine unscheinbare und doch wichtige Rolle dabei, die Heterogenität des politischen Willens in eine symbolische Repräsentation des Volkes zu überführen. Die Erscheinung des Volks als Volk hängt so gesehen an der Formulierung, Zirkulation und Teilung seiner kollektiven und kollektivbildenden Symbole, die ebenso vielseitig wie immer wieder neu bestimmbar sind.
Doch wohnt solcher Selbstdarstellung auch eine problematische Dimension inne. Sie zeigt sich besonders dann, wenn die Mittel der Figuration dem politischen Streit oder einem Teil der zur Figuration Gehörigen entzogen werden. Besonders die nationalistischen, rassistischen und völkischen Repräsentationen des Volkes haben nicht nur gezeigt, inwieweit das Bild einer politischen Gemeinschaft auf dem Ausschluss anderer beruht, sondern auch, inwieweit es durch bestimmte Symbole selbst «naturalisiert» werden und so erstarren kann.
Das Problem liegt jedoch nicht im Akt des Figurierens selbst. Anstatt die Undarstellbarkeit des Volkes als Wesenszug der Demokratie auszugeben, ist es entscheidend, so Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe, dass die Demokratie die Frage nach ihrer Selbstdarstellung permanent stellt. In Zeiten, in denen das «Wir» des Volkes definiert schien (durch die alteingesessenen oder gebürtigen Eidgenossen, die Männer, die Besitzenden usw.), waren es gerade die Ausgeschlossenen (die Zugezogenen, die Frauen, die Besitzlosen usw.), die nicht einfach nur in die bestehende Repräsentation einbezogen werden wollten, sondern der Formel «Wir, das Volk» einen gänzlich neuen Sinn gaben.
Projekt und Projektion
Für genau diese Möglichkeit der Neukonfiguration des Volkes steht der alte Name der Demokratie. Wenn sich politische Akteure im Namen aller über eine bestehende Repräsentation des Volkes hinwegsetzen, wie immer wieder zu beobachten war, entleeren sie nicht nur die Mitte des – alten, «falschen» – Volkes, sondern erinnern daran, dass diesem ein imaginärer Bezugspunkt eingetragen ist, der umstritten und veränderbar bleibt. Das Volk der Volksherrschaft spricht nicht nur «im Namen des Volkes», sondern gibt sich auch einen neuen Namen – und sei es, dass es sich als Verbund der «Namenlosen» begreift und sich Masken aufsetzt.
Doch die zugleich leere und imaginäre Mitte, um die sich das Volk versammelt, droht zu verschwinden, wenn sich die Repräsentation des Volkes nicht mehr um «nichts», das heisst: nicht mehr um seine eigene Konfiguration dreht. Denn das Volk ist weder eine je zu erlangende Identität noch die reine Undarstellbarkeit, sondern vielmehr die Praxis seiner Repräsentation, seiner Selbstdarstellung, selbst. Die Volksherrschaft ist daher auch kein «Projekt», in dem das Volk «substanziell» hergestellt würde, sie ist in ihren politischen Prozessen vielmehr die Erscheinungsweise und Projektion des Volkes. Dass dies auch in die phantasmatische Vorstellung einer exklusiven, homogenen Volksgemeinschaft münden kann, bleibt dabei eine stete Gefahr. Wenn «das Volk» jedoch seine figurierende Kraft als unabschliessbare Macht der Versammlung begreift, vermag es dagegen immer auch einen neuen Anfang zu setzen.
Felix Trautmann ist Stipendiat des NFS «Bildkritik/eikones» an der Universität Basel. 2010 ist sein Buch «Partage. Zur Figurierung politischer Zugehörigkeit in der Moderne» (bei Tectum) erschienen.
Das Projekt «Volksherrschaft»

Sonntag, 9. Juni 2013



Wir leben nicht länger
in einer unwidersprochenen,
akzeptierten Gesellschaft,
sondern in einer bekämpften.

Stéphane Hessel

Taksim / Occupy

Anstatt die Undarstellbarkeit des Volkes als Wesenszug der Demokratie auszugeben, ist es entscheidend, dass die Demokratie die Frage nach ihrer Selbstdarstellung permanent stellt. In Zeiten, in denen das «Wir» des Volkes definiert schien, waren es gerade die Ausgeschlossenen (die Zugezogenen, die Frauen, die Besitzlosen usw.), die nicht einfach nur in die bestehende Repräsentation einbezogen werden wollten, sondern der Formel «Wir, das Volk» einen gänzlich neuen Sinn gaben.
Für genau diese Möglichkeit der Neukonfiguration des Volkes steht der alte Name der Demokratie. Wenn sich politische Akteure im Namen aller über eine bestehende Repräsentation des Volkes hinwegsetzen, wie immer wieder zu beobachten war, entleeren sie nicht nur die Mitte des – alten, «falschen» – Volkes, sondern erinnern daran, dass diesem ein imaginärer Bezugspunkt eingetragen ist, der umstritten und veränderbar bleibt. Das Volk der Volksherrschaft spricht nicht nur «im Namen des Volkes», sondern gibt sich auch einen neuen Namen – und sei es, dass es sich als Verbund der «Namenlosen» begreift und sich Masken aufsetzt. (Felix Trautmann)











Sonntag, 5. Mai 2013

Europa - Kultur der Ratlosigkeit

Julia Kristeva - Europa

Julia Kristeva, stellen wir uns einmal vor, Europa klopfte an die Tür Ihres Behandlungszimmers und legte sich auf Ihre Couch. Was würden Sie diesem seltsamen Patienten sagen, dessen Enttäuschungen sich in letzter Zeit häufen?
Ich würde zuerst einmal versuchen, ihn zu bewegen, über seinen verborgenen Schatten zu sprechen, diese moderne Version der Erbsünde. Europa leidet unter den Verbrechen, die es begangen hat. Als man Europa nach dem Krieg aufzubauen begann, ließ man Vergangenheit und Erinnerung bewusst beiseite. Deshalb erwähnen die Römischen Verträge von 1957 weder die Kultur noch die Geschichte. Man wollte den Kontinent wieder aufbauen, indem man seine Vergangenheit verdrängte, weil man hoffte, einen funktionalen homo oeconomicus erschaffen zu können.

Für die fünfziger Jahre stimme ich Ihnen zu. Aber seither hat man in Europa eine konsequente Erinnerungsarbeit geleistet ...
Ich denke, heute ist die Verdrängung zwiespältig. Gewiss, Intellektuelle und Wissenschaftler haben eine bemerkenswerte Analysearbeit geleistet. Aber dieses Wissen hat man nicht ausreichend an die Massen weitergegeben. Einige Länder - und ich denke da natürlich in erster Linie, aber nicht allein an Deutschland - haben sich mutig über ihre Vergangenheit gebeugt.
Aber Europa als solches, als Ganzes, hat sich nicht ernsthaft mit seiner Geschichte auseinandergesetzt. Ich denke da nicht nur an die Schoa. Ich denke an die Inquisition, an die Pogrome, an den Kolonialismus, an den Machismo oder an die Kriege, die für den Kontinent verheerend gewesen sind und sich über die ganze Welt ausgebreitet haben. Solange dieser verborgene Schatten nicht erforscht und einer Kritik unterzogen worden ist, wird Europa nicht vorankommen, sondern ist sogar dazu verdammt, Rückschritte zu machen.

Inwiefern könnte solch eine Erinnerungsarbeit dem heutigen Europa helfen, aus der Sackgasse herauszukommen, in der es sich gegenwärtig befindet?
Ein Patient, der Misserfolge anhäuft und dem es schlechtgeht, muss seine manischen Neigungen und seine Depression erkennen. Wenn der „Kranke“ seine Fehler und Mängel im Rahmen einer Erinnerungsarbeit erkennt, kann er wieder einen gewissen Stolz entwickeln und besser mit der Welt interagieren.
So erhält er die Möglichkeit, seinen narzisstischen Bruch zu heilen, seine Schwächen zu erkennen, Haltung zu gewinnen und voranzukommen, also wiedergeboren zu werden. Europa befindet sich heute im Blick auf seine Berufung in einer Krise, weil es nicht weiß, was es ist, und weil es ihm nicht gelingt oder weil es nicht versucht, seine Identität genauer zu definieren. Aus diesen Gründen ist Europa auch nicht fähig, seine doch immerhin beachtlichen Trümpfe auszuspielen. Es lässt sich nur tastend auf die Globalisierung ein, weil es sich selbst nicht genau kennt.

Wir stecken also mitten in einer Identitätskrise . . .
Europa ist etwas, das erlitten und gewählt wird. Es zerfällt in Stücke, aber andererseits ist es auch die Quintessenz der Welt. Das gilt es zu erkennen. In unserer multipolaren Welt besitzt jeder „Block“ eine starke Identität: China, die Vereinigten Staaten, die arabische Welt - nur Europa nicht. Die europäische Identität ist komplex, fast flüchtig, in ständiger Bewegung und vielköpfig. Ein Kaleidoskop. Aber diese europäische Vielfalt muss
als Reichtum verstanden werden. Aus New York oder Peking betrachtet, gleicht Europa einem Blumenstrauß. Den einzelnen Blumen dieses Straußes fällt es schwer, die Einheit zu erkennen, zu der sie sich verbinden, vor allem weil das Wesen dieses Straußes nicht zum Gegenstand echter Aufmerksamkeit gemacht wird.

Wie kann man dem „europäischen Blumenstrauß“ helfen, sich besser zu erkennen?
Das Problem liegt darin, dass ein Patient wie das gegenwärtige Europa in der Regel nicht zum Analytiker geht. Er ist hyperaktiv, er sucht nach Ausreden, schiebt Dinge auf die lange Bank, begnügt sich mit Trugbildern, mit Projektionen seiner selbst, um zu vermeiden, dass seine Konturen sich schärfer abzeichnen.

Nehmen wir einmal an, man zwänge diesen widerspenstigen europäischen Patienten, Sie zu konsultieren.
In diesem Fall würde ich ihn drängen, sich über seine kulturelle Identität zu beugen. Auf meiner Couch müsste Europa sich, wie gesagt, fragen, was es ist und wohin es geht. Europa hat nicht verstanden, dass seine kulturelle Identität eine außergewöhnliche Chance darstellt. Sein Heil hängt davon ab, dass es an dieser Identität festhält. Der Analytiker muss versuchen, diese in ständiger Bewegung befindliche europäische Identität zu zeichnen. Das ist der entscheidende Mangel, unter dem das heutige Europa leidet, obwohl genau dies die unverzichtbare Voraussetzung seiner „Auferstehung“ und seines Aufblühens wäre.

Wie könnten Sie vorgehen?
Wie gesagt müsste man ihn zunächst einmal dazu bewegen, seine Vergangenheit, seine Verbrechen und seine Sackgassen zu erkennen ...

Was verstehen Sie unter „Sackgassen“?
Den Kommunismus. Das Sozialmodell. Der Fürsorgestaat europäischer Prägung ist trotz der Schläge, die er in den letzten Jahren hat hinnehmen müssen, immer noch sehr großzügig im Vergleich zu anderen Systemen. Der Staat in Europa mit seinen Subventionen und Beihilfen ist eine „Große Mutter“. Aber die Europäer haben vergessen, dass Solidarität nicht nur eine materielle, sondern auch eine spirituelle Seite hat. Kant spricht in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ vom „corpus mysticum“, von der unverzichtbaren Vereinigung des Selbst und seiner Schatten mit der übrigen Welt.
Die Europäer haben diesen spirituellen Aspekt der Solidarität vernachlässigt, der dennoch zu den fundamentalen Schichten ihrer Kultur gehört. Diese Dimension, die aus unserem griechischen und jüdisch-christlichen Erbe stammt, ist nicht nur ignoriert, sondern auch fetischisiert und in die Archive verbannt worden.
Eine weitere Sackgasse Europas ist der Hang zur Empörung, ein Wort, das inzwischen groß in Mode ist. In meinen Augen ist die Empörung romantisch, eine von Abwehr und Zorn geprägte und jugendlich-unreife Reaktion, die keine glaubwürdige Alternative benennt, weil sie keinerlei Interaktion mit dem anderen vorsieht. Sie denkt nicht an den anderen. Es ist eine Haltung, die zum Dogmatismus verleitet; sie ist ihrem Wesen nach totalitär und todbringend. Die Empörung ist eine europäische Sünde, ein negativer Narzissmus.

Worin bestünde die zweite Phase der Arbeit mit dem europäischen Patienten?
Man müsste dafür sorgen, dass er sich seiner Fähigkeiten und Trümpfe bewusst würde, vor allem seiner Tradition der ständigen Unruhe, die auf die griechische Philosophie, das unablässig fragende und interpretierende talmudische Judentum und auf gewisse christliche Denkschulen zurückgeht, wobei ich in erster Linie an Augustinus denke, dessen „einzige Heimat“ die „Wanderschaft“ war. Aber zunächst einmal müsste er die religiöse Erfahrung wieder zu schätzen lernen, die durchaus keine Illusion ist, sondern eine zukunftsträchtige psychische Realität, um hier einmal Freud zu paraphrasieren.
Als Diderots Nonne das Kloster verlässt, weint sie. Die Europäer haben in ihrer ganzen bewegten Geschichte das Religiöse verinnerlicht. Ich hatte das Privileg, Papst Benedikt XVI. zu begegnen. Während unseres Gesprächs sagte er mir, ich müsse großes Leid empfinden, weil ich Jesus noch nicht gefunden hätte. Aber mit dieser letztlich erwartbaren Bemerkung ließ es der Papst nicht bewenden. Er fügte hinzu, die Wahrheit sei ein Weg, eine ständige Befragung und das Ergebnis eines ständigen inneren Kampfes.
Letztlich sagte er mir, dass niemand die Wahrheit besitze, was für einen Papst doch sehr erstaunlich ist. Genau besehen, sprach Papst Benedikt hier als Europäer. Deshalb glaube ich, wir sind hinreichend gerüstet, um dieses kulturelle Erbe zu erkennen, das im religiösen Phänomen besteht. Wir sollten keine Angst davor haben.

Indem wir es in unsere Kultur der Ratlosigkeit integrieren?
Ja. Beide bilden ein Ganzes und bereichern sich gegenseitig. Europa ist ein Kontinent, der hinter die ernstesten Fragen ein Fragezeichen gesetzt hat. Selbst das höchste Wesen hat man dort dekonstruiert. Diese Kultur der Sinnsuche, dieser „abgeschnittene Faden der Tradition“, von dem Tocqueville sprach und über den Hannah Arendt so viel geschrieben hat, ist die Grundlage des Humanismus, ein großer Augenblick, dessen Narben Europa trägt, den es aber nicht akzeptiert.
Wir brauchen uns dennoch nicht unserer Kultur des Infragestellens zu schämen, ganz im Gegenteil. Wir verdanken ihr die Befreiung des Körpers, die Freiheit des Denkens und das Recht auf Abweichung, die Flexibilität des Denkens, einen gewissen Hang zum Schöpferischen und zum freien Unternehmertum, Wachsamkeit gegenüber jeglicher Form von absoluter Macht oder gegenüber der Versuchung des Krieges.
Diese Fähigkeit, dem Einzelnen einen besonderen Wert beizumessen, ist ein Schutzdamm gegen Nivellierung und Banalisierung. Sie bringt eine vertikale Dimension ins Spiel, die der inneren Erfahrung und der psychischen Innerlichkeit, deren fundamentalen Ausdruck die europäische Kunst und Literatur darstellt. Diese Erfahrung des Innersten ist typisch europäisch.

Auf diese Weise gelänge es Ihnen, dem heutigen Europa neuen Sauerstoff zuzuführen?
Sagen wir, auf diese Weise könnte Europa verstehen, dass es in unserer globalisierten Welt eine Mittelmacht darstellt, die der Menschheit dennoch eine starke Botschaft zu vermitteln hat. Wanderschaft, Erkenntnis, Respekt vor dem Singulären, Zweifel, Befragung - niemand sonst vermag diese Werte zu vermitteln, die das Fundament der europäischen Kultur bilden, nicht einmal die Vereinigten Staaten.

Aber wie könnte man den Europäern die großartigen Trümpfe zu Bewusstsein bringen, die ihre Identität birgt?
Wir Intellektuelle haben die Aufgabe, sie zu erkennen und weiterzugeben. Indem wir zum Beispiel eine europäische Kulturakademie gründen, deren Arbeiten einem breiten Publikum zugänglich gemacht würden. Indem wir europäische Literatur- und Filmpreise schaffen. Indem wir Ausstellungen organisieren, die in ganz Europa gezeigt werden. Indem wir die Entstehung des mehrsprachigen europäischen Bürgers fördern, als Kind des Erasmus-Programms und als Vermittler des europäischen Gedankens. Es ist unsere Aufgabe, den Staffelstab zu übernehmen und die erforderlichen Geldmittel aufzutreiben. Es ist an der Zeit, ein kraftvolleres und stolzeres europäisches Bewusstsein entstehen zu lassen.

Mittwoch, 13. März 2013

Kapitalismuskritik


Handelt es sich um eine Wirtschaftsform oder eine Mentalität, eine anthropologische Verfasstheit oder eine soziale Konstruktion? Wo berühren sich seine europäisch-demokratischen Ausprägungen mit den autoritären in China? Und geht es nur mit protestantischer Ethik oder auch mit konfuzianischer Disziplin?
Der Singular löst sich schnell auf in Pluralitäten, und es ist zweifelhaft, ob sie Phänotypen eines einzigen monströsen Genotyps sind. Es herrscht eine überwältigende Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten. Der finsterste realwirtschaftliche Raubtierkapitalismus koexistiert mit computergestütztem Hochgeschwindigkeitstrading und die Knochen schindende Ausbeutung bettelarmer Arbeitskräfte mit der konsumistischen Besiedelung grundversorgter Seelen.
Entsprechend divers sind die kritischen Zugänge. Es könnte in diesem Frühjahr keine größeren Gegensätze geben als den zwischen Frank Schirrmachers Kampfschrift „Ego – Das Spiel des Lebens“ (Blessing), die Nummer eins der deutschen Sachbuch-Bestseller, und Wolfgang Streecks Adorno-Vorlesungen „Gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ (Suhrkamp), die für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert sind. Schirrmacher beschwört in apokalyptischen Worten den Abschied des Menschen von sich selbst in der digitalen Ökonomie des Wissens und sieht einen roboterhaften homo oeconomicus entstehen. Wolfgang Streeck wiederum, Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, untersucht mit eiserner sozialwissenschaftlicher Empirie, wie sich Europas Demokratien in den letzten 40 Jahren immer wieder Zeit durch die Abstraktion Geld erkauft haben: die Stundung ihres realen Zusammenbruchs.
Beide Bücher widersprechen einander nicht. Sie unterscheiden sich aber in einem fundamentalen Punkt: Schirrmacher drückt sich um eine politische Einbettung seiner Thesen. Dagegen gibt Streeck freimütig über seine Verankerung in Traditionen der Frankfurter Schule Auskunft, die der Annahme „eines prinzipiellen Spannungsverhältnisses zwischen dem sozialen Leben und einer von Imperativen der Kapitalverwertung und Kapitalvermehrung beherrschten Ökonomie“ folgen: „Niemand kann nach dem, was seit 2008 geschehen ist, Politik und politische Institutionen verstehen, ohne sie in enge Beziehung zu Märkten und wirtschaftlichen Interessen zu setzen. Ob und inwieweit das ,marxistisch’ ist oder ,neomarxistisch’, ist eine Frage, die mir ganz und gar uninteressant erscheint.“ So zeichnet Streeck den Weg vom Steuerstaat zum Schuldenstaat und von da aus zum Konsolidierungsstaat in neoliberalen Zeiten nach.
Eine interessantere Frage ist es, ob sich unpolitische Kapitalismuskritik überhaupt denken lässt. Ist sie ohne das Problem der Verteilungsgerechtigkeit nicht ein schlechter Witz? Ihre Schwundstufen, die Klage über die Beschleunigungsgesellschaft, die Burnoutgesellschaft oder die Müdigkeitsgesellschaft, der der Karlsruher Philosoph Byung-Chul Han mit leise antidemokratischen Anwandlungen ein erfolgreiches Büchlein gewidmet hat, mögen dies nahelegen. Auch ist Schirrmachers hysterischer Populismus sicher mitschuldig daran, dass seine keineswegs einfältige Argumentation in Talkshows mitunter auf Lebenshilfeniveau reduziert wird: Nun seid mal nicht so egoistisch! Doch sobald man den Fokus erweitert, geraten die politökonomischen Kontexte wieder in den Blick.
Die Angstlust, mit der man auf den Kapitalismus als die Generalmetapher für alle Zumutungen dieser Zeit starrt, hat indes auch die Hoffnung im Sinn, dass die Dinge nicht so schlimm kommen, wie sie kommen sollen: dass Europa also nur an den Rändern bröckelt oder der Klimawandel glimpflich verläuft. Dieser psychohygienischen Funktion kommt jede kapitalismuskritische Farbe recht, und auch wenn aus ihr noch kein politisches Handeln erwächst, steht sie mit Stéphane Hessels zum Herz-Jesu-Sozialismus tendierender Schrift „Empört euch!“ nicht dümmer da als mit Joseph Vogls kulturhermeneutischer Analyse „Das Gespenst des Kapitals“ oder David Graebers anarchistischer Theorie der „Schulden“.

Gier ist nicht der Geist des Kapitalismus

It's a deal. Händler an der New Yorker Börse. Foto: Reuters
It's a deal. Händler an der New Yorker Börse. - FOTO: REUTERS
Jede Auseinandersetzung ist besser als keine Auseinandersetzung, und man sollte sich vergegenwärtigen, dass auch halb vergessene Epochenbücher wie Herbert Marcuses Studie „Der eindimensionale Mensch“ schon aus einer kruden Mischung von intellektueller Schärfe, grenzenloser Übertreibung und agitatorischer Wucht bestanden. Eine funktionalistische Betrachtungsweisen und die Vorstellung, man könne der unheimlichen Matrix mit einem individuellen Schritt entrinnen, leben in solchen Theorien immer zugleich. Interessanterweise empfiehlt J.M. Coetzee in „Here and Now“, seinem Briefwechsel mit Paul Auster, Platons Höhlengleichnis als die Urgeschichte einer Rückkehr aus den Illusionen der Finanzwirtschaft in die Wirklichkeit. Die gefesselten Höhlenbewohner, die ihr Leben lang nichts als flackernde Zahlenreihen gesehen haben, müssten sich nur abwenden und wären frei.
Würden sich die westlichen Krisengesellschaften dann nicht mehr Max Webers Evergreen „von der schicksalvollsten Macht unseres modernen Lebens: dem Kapitalismus“ vorsingen? In seiner superlativischen Gestalt zielt diese, seine religionssoziologischen Aufsätze aus dem Jahr 1920 einleitende und schon fast zu Tode zitierte Formulierung auf eine durch Mark und Bein gehende Totalität, lange bevor sie als totalitär gebrandmarkt wurde. Sie klingt verdächtig nach dem „Verblendungszusammenhang“, den Theodor W. Adorno und Max Horkheimer 1947 in der „Dialektik der Aufklärung“ konstatierten, erst recht, wenn Weber feststellt, dass „der heutige, zur Herrschaft im Wirtschaftsleben gelangte Kapitalismus sich im Wege der ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte – Unternehmer und Arbeiter – schafft, deren er bedarf.“ Sogar Michel Foucaults in den siebziger Jahren entwickelte Idee einer Biopolitik scheint darin angelegt, die Kontrolle immer weiter ins Körperinnere verlagert und auf die Überwachung der leisesten Lebensregung aus ist.
Nur wird der Zusammenhang, in dem Webers Wort steht, meist unterschlagen. Denn kapitalismuskritisch ist Max Weber zunächst nur im Sinn des Unterscheidenwollens. „Schrankenloseste Erwerbsgier“, heißt es im selben Atemzug, „ist nicht im mindesten gleich Kapitalismus, noch weniger gleich dessen ,Geist’.“ Er weiß: „Dies Streben fand und findet sich bei Kellnern, Ärzten, Kutschern, Künstlern, Kokotten, bestechlichen Beamten, Soldaten, Räubern, Kreuzfahrern, Spielhöllenbesuchern, Bettlern: – man kann sagen: bei ,all sorts and conditions of men’, zu allen Epochen aller Länder der Erde“. Deshalb kann Kapitalismus „geradezu identisch sein mit Bändigung, mindestens mit rationaler Temperierung, dieses irrationalen Triebes. Allerdings ist Kapitalismus identisch mit dem Streben nach Gewinn, im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb: nach immer erneutem Gewinn: nach ,Rentabilität’.“
Man kann dies als das ewige oder nun doch endliche Schauspiel von Entfesselung und Zähmung der Produktivkräfte verstehen – aber auch so, dass es immer um weniger geht als das unbegreifbare Ganze. Der kommunitaristisch geprägte Philosoph Michael J. Sandel nennt es in seinem Buch „Was man für Geld nicht kaufen kann“ (Ullstein) schlicht die „moralischen Grenzen des Marktes“. Und in seinen legendären Einführungsvorlesungen „Gerechtigkeit – Wie wir das Richtige tun“ (als Video unter www.justiceharvard.org) zeigt er an vielen Beispielen die Beschränktheit utilitaristischen Denkens. Das ist nie radikal, dafür gründlich und eine Anleitung zu politischem Handeln. Denn das Monster Kapitalismus ist ein unförmiger Gegner. Gerechtigkeit im Einzelfall ist immer konkret.

Freitag, 22. Februar 2013


Alles bleibt ewig, wie es ist

Eckhard Fuhr zu Hans-Ulrich Wehlers "Die neue Umverteilung"

Nach den medialen Erregungen des noch jungen Jahres, etwa der sogenannten Sexismus-Debatte, mochte man sich fast damit abfinden, dass der öffentliche Diskurs sich mehr und mehr in Gerede über Gerede erschöpft, dabei zwanghaft einer über allen Realien schwebenden Skandalisierungs-Dramaturgie folgt und nach immer kürzeren Wegstrecken erschöpft in sich zusammensinkt. Von der sozialen Wirklichkeit scheint er sich verabschiedet zu haben. Er kaut nur noch auf Symbolischem herum.

Doch die Rettung der erschlafften Geister aus diesem Debatten-Elend naht. Sie kommt aus Bielefeld. Der große alte Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler, Verfasser einer fünfbändigen "Deutschen Gesellschaftsgeschichte", meldet sich mit einer Streitschrift über soziale Ungleichheit in Deutschland zu Wort. Er schreibt das Adjektiv mit großem S, "Soziale Ungleichheit", und macht schon damit klar, dass er den Blick nicht auf irgendein Phänomen der gesellschaftlichen Wirklichkeit richtet, sondern auf ein ihr innewohnendes konstitutives Strukturmerkmal. Wehler hat ein wütendes Buch geschrieben.
Anlass seiner Wut sind jedoch nicht so sehr die Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit selbst, sondern vor allem die illusionäre Selbstwahrnehmung der deutschen Gesellschaft, der Wirklichkeitsverlust in Sozialwissenschaft, Politik und Journalismus, all die "Sprachspiele" um Individualisierung oder Pluralisierung, mit denen die soziale Realität nicht erhellt, sondern verschleiert werde. Statt mit Empirie hätten sich Wissenschaftler, Politiker und – da knurrt Wehler besonders vernehmlich – das "gehobene Feuilleton" mit vagen Milieus und Lebensstilen befasst und die Realität der "in Klassen gegliederten Marktgesellschaft auf diese Weise sprachkosmetisch verdrängt". All diesen Traumtänzern empfiehlt Wehler – nein, nicht die Lektüre der marxistischen Klassiker, sondern das Studium jenes Datenreichtums, der beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden aufgehäuft ist.

Das Bild, das Wehler dabei gewinnt, ist ernüchternd. Wie die Gesteinsschichten einer geologischen Formation bietet sich der Klassenaufbau der deutschen Gesellschaft dar. Die Durchlässigkeit ist gering, die Abschottung rigide. Der Aufstieg aus der Unterschicht ist so selten wie der Abstieg aus der Oberschicht. Herkunft bestimmt über Lebenschancen immer noch stärker als Leistung. Sich täglich neu selbst erfindende individualistische Lebenskünstler in Berliner Szenevierteln sind nicht Avantgarde, sondern Randphänomen. Vier Billionen Euro Privatvermögen werden 2020 seit der Jahrtausendwende vererbt worden sein. Der größte Teil davon wandert aus den Händen weniger in die Hände weniger.
Die unerbittliche Nüchternheit der Zahlen, die Wehler anführt, dementiert ganze Arsenale politischer Rhetorik, ob sie nun sozialdemokratisch oder marktliberal inspiriert ist. Weder Bildung für alle, Mitbestimmung und Vermögensbildung noch die Entfesselung der Märkte und Lieschen Müllers Flirt mit der Börse vermochten die deutsche Klassengesellschaft wirklich zu verflüssigen. Die Bundesrepublik war nie eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft, und sie ist mitnichten auf dem Weg dahin.
Wehler wundert sich selbst über die Unerschütterlichkeit, mit der die soziale Hierarchie sich immer wieder reproduziert – und über den Gleichmut, mit dem das offenbar hingenommen wird oder jedenfalls bis vor Kurzem hingenommen worden ist. Der Druck der Finanz- und Wirtschaftskrise werde, so Wehler, "auch die Sozialwissenschaftler wieder zu kritischeren Analysen, die Teilnehmer an der öffentlichen Diskussion zu einer realistischeren Sprache nötigen".

Warum trägt nun Wehlers Buch, das Seite um Seite von der Kontinuität und Beharrungskraft des gesellschaftlichen Oben und Unten erzählt, den Titel "Die neue Umverteilung"? Das ist in der Tat ein wenig irreführend. Der Titel spielt auf die, wie Wehler es sieht, "obszöne" Einkommenssteigerung einer kleinen Wirtschaftselite und die gleichzeitige Stagnation der Arbeitnehmereinkommen an. 1985 betrug das durchschnittliche Managergehalt das Zwanzigfache eines Arbeitnehmergehalts, heute das Zweihundertfache. In den Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität sei die Klassenschichtung wie in einem Fahrstuhl nach oben befördert worden, was auch für die Unterschicht eine spürbare Verbesserung bedeutete. Heute zeichne sich eine "maßlose Konzentration von Vermögen und Einkommen an der Spitze der Wirtschaftselite" ab.

Der Skandal liegt für Wehler nicht in der fantastischen Höhe der Managergehälter allein, sondern in der Art ihres Zustandekommens. Nicht der Markt und nicht die Qualifikation bestimmten die Höhe der Vergütungen. Es gehe ausschließlich um Machtentscheidungen einer kleinen Elite, die in einer in der neueren Geschichte beispiellosen Weise "mit derart ungebremster Habgier ihrem Drang nach Einkommens- und Vermögenssteigerungen nachgegeben" hat. Wenn von sozialer Ungleichheit die Rede sei, dann gehe es auch und vor allem "um die politisch und rechtlich fundierte Machtausübung kleiner Eliten, die sich in einem Maße, das vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre, ein Einkommen und Vermögen schaffen, die sie von der Lebenswelt ihrer Mitarbeiter denkbar weit abheben".
Es geht also keineswegs nur ums Geld. Wehler ist alles andere als ein Erbsenzähler der Löhne oder Vermögen. In einer instruktiven Einleitung legt er sein theoretisches Rüstzeug dar. Er zeigt, wie die "bürgerliche" Soziologie von Lorenz von Stein über Max Weber und Émile Durkheim bis Pierre Bourdieu sich mit dem auf den Produktionsprozess verengten Klassenbegriff bei Karl Marx auseinandergesetzt und Kategorien der politischen Herrschaft, der Kultur und Religion und des Status, der gesellschaftlichen "Ehre", in die Betrachtung einbezogen hat. Das ist der Pfad, auf dem auch Wehler sich bewegt.
Wie breit angelegt sein Zugriff ist, zeigt sich exemplarisch an dem Kapitel "Die Ungleichheit auf den deutschen Heiratsmärkten". Das bunte Patchworkfamilien-Gewusel, das in manchen Medien fast schon als neue gesellschaftliche Norm hingestellt wird, zeigt allenfalls, dass die lebenslange Monogamie an Prägekraft verloren hat. Es ändert aber nichts daran, dass "soziale Klassen auch emotionale Klassen sind". Man bleibt sozial gesehen unter sich. Wehler nennt das "Homogamie". Die Frage, ob "das Konnubium hohe Ungleichheitsbarrieren wie die klassenspezifische, religiöse oder ethnische Herkunft zu überwinden vermag oder aber zu verstärken tendiert", laufe, so Wehler, auf eine Art Lackmustest hinaus.
Die deutsche Wirklichkeit spricht eine klare Sprache: Romantischer Liebe gelingt es höchst selten, Klassenschranken zu überspringen. Je höher die soziale Position sei, desto erfolgreicher mache sich das ständische Motiv geltend, Ressourcen zu monopolisieren und "die Gesamtlinie der Lebensführung über die Generationenschwelle hinweg beizubehalten". Auf der anderen Seite heiraten 80 Prozent der Arbeiter Töchter aus Arbeiterfamilien. Hier zeigt sich das Motiv einer "resignativen Schließung". Siebzig Prozent aller Heiraten sind solche innerhalb eines Klassenmilieus. All das widerlegt in Wehlers Augen die "modische Behauptung der Individualisierung".

Hans-Ulrich Wehler hat sich sein ganzes Gelehrtenleben mit der deutschen Sozialgeschichte und damit auch zentral der Frage nach den Folgen sozialer Ungleichheit beschäftigt. Er erlebte, wie diese Frage aus der Mode kam, als altväterlich und verstaubt galt. Die Klassengesellschaft habe sich angesichts globaler Menschheitsbedrohungen längst zur "Risikogesellschaft" performiert, hieß es. Auch war von marktradikalen Ideologen immer wieder die Empfehlung zu hören, man solle den ganzen Ungleichheitsdiskurs doch sein lassen, sich ins kapitalistische Getümmel stürzen, wo es doch so unglaublich bunt zugehe und wo die Chancen des Wettbewerbs warteten.
Wehlers bärbeißiger Zwischenruf aus Bielefeld, dass das alles Humbug sei, kommt zur rechten Zeit. Und er trifft den richtigen Punkt. Die Soziale Ungleichheit in Deutschland ist eben nicht das Resultat einer freien Gesellschaft, sondern sie ruht auf Vermachtung, Verkrustung und Abschottung. Das prangert Wehler an, nicht die Ungleichheit als solche, die in einer Marktgesellschaft tatsächlich unausweichlich ist und hingenommen werden kann, wenn der Sozialstaat alles dafür tut, dass der ererbte Status nicht zum Schicksal wird. Die Frage, wie das geht, ist jede leidenschaftliche Debatte wert. Wer hier aber wieder nur eine neue "Neiddebatte" heraufziehen sieht, versteht nicht, was die Stunde geschlagen hat.

Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland. C.H. Beck, München. 191 S., 14,95 €.

Dienstag, 19. Februar 2013

Mark Dion: The Cabinet of Machines of Capital. 2012. 1. Biennale Montevideo. Möbel und Gegenstände des Banco de la Republica del Uruguay

"Alle Dinge sind verzauberte Menschen". Marx verfilmen

Marx verfilmen. Ein Interview von Gertrud Koch mit Alexander Kluge.

Im Jahr 1927 fasste der russische Regisseur Sergej Eisenstein den Entschluss, Das Kapital von Karl Marx zu verfilmen. Er hat dieses Projekt nie umgesetzt. Doch in seinen Notaten zum Kapital besitzen wir Fragmente, Notizen und Exzerpte zu diesem Plan. Der deutsche Schriftsteller, Filmemacher und Fernsehproduzent Alexander Kluge hat sich diesem Projekt im Jahr 2008 in einer dreiteiligen DVD-Box mit einer Laufzeit von 570 Minuten angenähert: Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital. Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch hat sich mit ihm darüber unterhalten.

Wenn man sich Ihre DVDs anschaut, dann gibt es dort nicht mehr die Gesetzmäßigkeiten, von denen Marx geredet hat, und an denen auch Eisenstein interessiert war. Es ist eine filmische Stellungnahme zu den aktuellen Verhältnissen und ihrer longue durée in die Vergangenheit hinein. Wo, würden Sie sagen, ist das Neue in diesen formalen Bestimmungen des Kapitalismus, so wie Sie ihn zeigen? Was hat sich aus Ihrer Sicht gegenüber den Gesetzmäßigkeiten geändert? Ist Ihre offene filmische Form eine Kapitalanalyse?

Ich glaube, dass sich an den objektiven Prozessen wenig geändert hat. Im Geburtsjahr von Marx, 1818, gab es Sklaverei, Kinderarbeit, keinen Acht-Stunden-Tag. Als Marx seinen 125sten Geburtstag feierte, gab es Auschwitz. Also kann ich nicht von Fortschritt sprechen. Insofern würde ich nicht sagen, dass sich etwas wirklich geändert hat. Was sich aber sehr geändert hat, ist die analytische Fähigkeit, mit den objektiven Prozessen umzugehen. Sigmund Freud ist hinzugetreten, eine subjektive Welt, die Marx gar nicht ins Auge gefasst hat.

Mich würde doch noch mal interessieren, welche Funktion der Film in einer solchen Analyse hat.

Es gibt das Optisch-Unbewusste, von dem Benjamin spricht. Technisch ist es das, was die Kamera sieht, der Gewohnheitsblick aber nicht. Unterstellt man, dass wir mit dem ganzen Körper sehen, könnte man vereinfacht sagen, es gibt acht Leinwände im Hinterkopf, auf die die Eindrücke, die die Augen liefern, projiziert werden. Eine Sinnlichkeit des Kopfes, die alles schon vorher weiß, in die durch die Evolution eine Fülle von Vorurteilen eingebaut ist, die früher lebensrettend waren. Nach diesen Vorurteilen wird jeder Eindruck gedeutet. Wenn Sie aber der Sicherheitsbeamte von Präsident Obama sind und ihn beschützen sollen und nicht nach Ihrer menschlichen Sinnlichkeit vorgehen dürfen, würden Sie den Täter nicht sehen. Sie müssen das sehen, was Ihre Vorurteile nicht sehen. Und nur der Film kann, wie Marx sagen würde, vergegenständlichen!

Die Vergegenständlichung der Vergegenständlichung.

So ist es!

Interessanterweise haben Sie ja für ihre neue Produktion eine sehr lange Form gewählt.

Die einzelnen Beiträge sind oft kurz, aber insgesamt ist sie lang, das stimmt. Dem Gesetz der Kürze, das das Netz regiert, steht das sehr großzügige Gesetz der DVD gegenüber, die eben nicht nur Speichermedium ist. Eigentlich funktioniert eine DVD wie ein Floß. Sie können sehr viele Baumstämme aneinanderkoppeln und damit sehr sicher fahren. Wahrscheinlich ist ganz Polynesien so besiedelt worden. Das eröffnet die Möglichkeit, dreistündige, zehnstündige, dreißigstündige Filme zu machen. Für mich polarisiert sich die Filmgeschichte von jeher entweder, extrem lang zu sein und dabei viel Rohstoff zu zeigen oder extrem kurz zu sein, so wie der Augenblick kurz ist, alle wirklichen, relevanten Geschehnisse jedoch Dauer haben.

Aber es fällt schon auf, wenn man sich die drei DVDs anschaut, dass es darin eine Rhythmisierung gibt. Und die hat, denke ich, etwas damit zu tun, dass es Gespräche mit „Talking Heads“ gibt, auf die sehr schnelle Bildmontagen folgen, die mit sehr sparsamen Sprachmotiven auskommen.

Es ist gewissermaßen eine Montage mit ganzen Sequenzen. Beim Film würde man ja Einstellungen montieren. Jetzt gibt es bei der DVD die Möglichkeit, ganze Sequenzen, so als wären sie Einstellungen, einander gegenüberzustellen. Wenn also z.B. Peter Sloterdijk über den Satz von Marx „Alle Dinge sind verzauberte Menschen“ spricht, d.h. über den Warenfetisch, dann gebraucht er die Erzählweise, die ihm eigen ist, so wie man einen Essay schreibt. Unmittelbar danach hören Sie Arbeiter, die in den sechziger Jahren streiken. Das sind Menschen, die noch nicht gebeugt sind. Die haben noch das Selbstbewusstsein, dass sie im Krieg notwendig waren, dass sie den Wiederaufbau hinter sich haben, das sind Bergarbeiter. Und die lassen sich nichts gefallen, auch nicht von der eigenen Streikleitung. Was Sloterdijk da erzählt, das interessiert mich sehr, nur ist diese Information nicht der Inhalt der Szene, sondern der Kontrast zur nächsten Sequenz, einem Beitrag von Oskar Negt über das Gedicht Der Gesang des Krans Nr. 4 von Bert Brecht, in dem die Maschinerie, die vom Menschen gemacht ist, mit dem Menschen spricht, wobei beide eigentlich vom ewigen Leben sprechen, vom aufrechten Gang, also in sehr knapper Form das sagen, wovon Sloterdijk vorher schon 45 Minuten gesprochen hat.

(***)

Marx hat eine metaphernreiche Sprache. Ist es Teil ihres Projektes, nicht nur Eisenstein, sondern auch Marx in eine eigene Poetik zu übersetzen?

Ich würde das sehr schön finden. Wenn Marx etwa von der Verflüssigung aller versteinerten Verhältnisse spricht, dann muss man dieses Wort ganz ernstnehmen. Das Wort kommt bei Shakespeare und Hegel nicht vor. Sie müssen ein guter Analytiker sein wie Marx, um es überhaupt zu finden.

Wenn man eine neue Theorie schreibt, entwickelt man in gewisser Weise natürlich auch eine neue Semantik, eine neue Sprache. Und das ist ja auch die Stärke von Marx. Aber ihr Projekt ist auch eine Wiederübersetzung von einer Zeit, die Sie mit der Antike in Verbindung bringen, der „ideologischen Antike“. Ich habe mich gefragt, warum eigentlich ideologische Antike und nicht einfach „Ideengeschichte“?

Ideologie heißt bei Marx ein notwendig falsches Bewusstsein. Ich kann mir also nicht aussuchen, ob ich das habe, sondern lebe davon. Das kindliche Urvertrauen ist z.B. ein notwendig falsches Bewusstsein, ohne das man nicht lebt, sonst kann man kein Selbstbewusstsein entfalten. Wenn ich Selbstbewusstsein auf Irrtum gründe, kann ich mich aber trotzdem emanzipieren. Das ist ein einfacher marxistischer Gedanke. Und den würde ich gerne vier, fünf, sieben Mal erzählen, so lange, bis man ihn von allen Seiten beleuchtet hat. Ich bin im Grunde hier ein Putzer, der das, was nicht glänzt, zum Glänzen bringt.

Aber Sie sind sozusagen in einer Putzkolonne. Denn das haben ja schon viele Marxisten nach Marx versucht, den Ideologiebegriff zu verallgemeinern, in der Althusser-Tradition beispielsweise, wo es in dem Sinne gar keinen Horizont eines richtigen Bewusstseins mehr geben kann, weil alles notwendig falsches Bewusstsein ist. Und dagegen hat die Frankfurter Schule immer opponiert.

In dem Sinne würde ich auch opponieren. Ich knüpfe an die prominente Stelle bei Marx in der Einleitung zu den Grundrissen an, wo er von der Sehnsucht nach der Kindheit der Gedanken ausgeht. Er sagt, dass die Griechen gesellschaftlich eigentlich gar nicht entwickelt waren, aber trotzdem etwas gedacht haben, was uns auch 2000 Jahre später noch entzückt.

Nicht nur entzückt, sondern noch beschäftigt. Das sind ja die ungelösten Fragen.

Da haben Sie völlig Recht. Und schauen Sie, wie die griechischen Mythen und Helden sterben müssen, in den Himmel rücken – die Geliebte von Zeus wird der Große Bär usw.. Das ist ein achtungsvoller Umgang mit dem, was wir lieben, was aber doch sterben muss. Und dies ist das Verhältnis zu unseren Altvorderen, das ich gut finde. Vor uns liegt eine Zukunft. Sie können aber auch sagen, dass hinter uns eine Schubkraft liegt. Es hat Glücksfälle in der Evolution gegeben, auch in der gesellschaftlichen Evolution. Und von denen leben wir. Also können Sie dem Engel der Geschichte noch zwei oder drei weitere Engel beigesellen, die nicht ganz so zerstörerisch sind.

Würden Sie dann sagen, dass hinter ihrem Projekt ein anderer Horizont auftaucht, in dem dieser Bogen in die Antike als ein möglicher Vorgriff auf die Zukunft im Grunde eine Figur der Endlosigkeit ist? Auf der filmischen Ebene kommen Sie zu parataktischen Momenten, in denen Zeitblöcke nebeneinandergestellt sind. Wann wissen Sie, dass das Projekt eine endgültige Form hat und veröffentlicht werden kann?

Das Projekt ist nicht beendet. Sowie jemand hinzuträte und Lust hätte mitzumachen, würde ich es sofort wieder öffnen. Die erste DVD dient nur dazu, mit den Tönen, die in Marx und Eisenstein stecken, vertraut zu werden. Nehmen Sie etwa das Lamento der liegengebliebenen Waren. Das ist ja der Kern des Marxschen Gedankens, dass die menschliche Arbeitskraft in den Produkten steckt, mit denen sie sich mehr Mühe als mit sich selbst geben. Und das machen sie gezwungenermaßen, aber in ihnen steckt auch etwas Selbstreguliertes, ihr Eigensinn. Dann kommt die zweite DVD, die ein einziges Bild von Marx aufgreift, nämlich den Warenfetisch. Das ist auf der dritten Seite vom Kapital. Und das ist ein sehr komplexes Bild, weil es bedeutet, dass die Menschen das Beste, was sie haben, in ihre Arbeit legen. Könnten sie erkennen, dass die ganze gesellschaftliche Produktion in ihnen liegt und sie sich selbst produzieren, wäre eine reiche und spontan emanzipatorische Gesellschaft die Folge. Dass dieser Anteil in den Menschen nicht tot ist, davon bin ich überzeugt. Ich habe in der Protestbewegung mehrfach beobachtet, dass so etwas gelingt. Es ist nur nicht stabilisierbar.

Dienstag, 12. Februar 2013