Freitag, 22. Februar 2013

Alles bleibt ewig, wie es ist

Eckhard Fuhr zu Hans-Ulrich Wehlers "Die neue Umverteilung"

Nach den medialen Erregungen des noch jungen Jahres, etwa der sogenannten Sexismus-Debatte, mochte man sich fast damit abfinden, dass der öffentliche Diskurs sich mehr und mehr in Gerede über Gerede erschöpft, dabei zwanghaft einer über allen Realien schwebenden Skandalisierungs-Dramaturgie folgt und nach immer kürzeren Wegstrecken erschöpft in sich zusammensinkt. Von der sozialen Wirklichkeit scheint er sich verabschiedet zu haben. Er kaut nur noch auf Symbolischem herum.

Doch die Rettung der erschlafften Geister aus diesem Debatten-Elend naht. Sie kommt aus Bielefeld. Der große alte Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler, Verfasser einer fünfbändigen "Deutschen Gesellschaftsgeschichte", meldet sich mit einer Streitschrift über soziale Ungleichheit in Deutschland zu Wort. Er schreibt das Adjektiv mit großem S, "Soziale Ungleichheit", und macht schon damit klar, dass er den Blick nicht auf irgendein Phänomen der gesellschaftlichen Wirklichkeit richtet, sondern auf ein ihr innewohnendes konstitutives Strukturmerkmal. Wehler hat ein wütendes Buch geschrieben.
Anlass seiner Wut sind jedoch nicht so sehr die Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit selbst, sondern vor allem die illusionäre Selbstwahrnehmung der deutschen Gesellschaft, der Wirklichkeitsverlust in Sozialwissenschaft, Politik und Journalismus, all die "Sprachspiele" um Individualisierung oder Pluralisierung, mit denen die soziale Realität nicht erhellt, sondern verschleiert werde. Statt mit Empirie hätten sich Wissenschaftler, Politiker und – da knurrt Wehler besonders vernehmlich – das "gehobene Feuilleton" mit vagen Milieus und Lebensstilen befasst und die Realität der "in Klassen gegliederten Marktgesellschaft auf diese Weise sprachkosmetisch verdrängt". All diesen Traumtänzern empfiehlt Wehler – nein, nicht die Lektüre der marxistischen Klassiker, sondern das Studium jenes Datenreichtums, der beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden aufgehäuft ist.

Das Bild, das Wehler dabei gewinnt, ist ernüchternd. Wie die Gesteinsschichten einer geologischen Formation bietet sich der Klassenaufbau der deutschen Gesellschaft dar. Die Durchlässigkeit ist gering, die Abschottung rigide. Der Aufstieg aus der Unterschicht ist so selten wie der Abstieg aus der Oberschicht. Herkunft bestimmt über Lebenschancen immer noch stärker als Leistung. Sich täglich neu selbst erfindende individualistische Lebenskünstler in Berliner Szenevierteln sind nicht Avantgarde, sondern Randphänomen. Vier Billionen Euro Privatvermögen werden 2020 seit der Jahrtausendwende vererbt worden sein. Der größte Teil davon wandert aus den Händen weniger in die Hände weniger.
Die unerbittliche Nüchternheit der Zahlen, die Wehler anführt, dementiert ganze Arsenale politischer Rhetorik, ob sie nun sozialdemokratisch oder marktliberal inspiriert ist. Weder Bildung für alle, Mitbestimmung und Vermögensbildung noch die Entfesselung der Märkte und Lieschen Müllers Flirt mit der Börse vermochten die deutsche Klassengesellschaft wirklich zu verflüssigen. Die Bundesrepublik war nie eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft, und sie ist mitnichten auf dem Weg dahin.
Wehler wundert sich selbst über die Unerschütterlichkeit, mit der die soziale Hierarchie sich immer wieder reproduziert – und über den Gleichmut, mit dem das offenbar hingenommen wird oder jedenfalls bis vor Kurzem hingenommen worden ist. Der Druck der Finanz- und Wirtschaftskrise werde, so Wehler, "auch die Sozialwissenschaftler wieder zu kritischeren Analysen, die Teilnehmer an der öffentlichen Diskussion zu einer realistischeren Sprache nötigen".

Warum trägt nun Wehlers Buch, das Seite um Seite von der Kontinuität und Beharrungskraft des gesellschaftlichen Oben und Unten erzählt, den Titel "Die neue Umverteilung"? Das ist in der Tat ein wenig irreführend. Der Titel spielt auf die, wie Wehler es sieht, "obszöne" Einkommenssteigerung einer kleinen Wirtschaftselite und die gleichzeitige Stagnation der Arbeitnehmereinkommen an. 1985 betrug das durchschnittliche Managergehalt das Zwanzigfache eines Arbeitnehmergehalts, heute das Zweihundertfache. In den Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität sei die Klassenschichtung wie in einem Fahrstuhl nach oben befördert worden, was auch für die Unterschicht eine spürbare Verbesserung bedeutete. Heute zeichne sich eine "maßlose Konzentration von Vermögen und Einkommen an der Spitze der Wirtschaftselite" ab.

Der Skandal liegt für Wehler nicht in der fantastischen Höhe der Managergehälter allein, sondern in der Art ihres Zustandekommens. Nicht der Markt und nicht die Qualifikation bestimmten die Höhe der Vergütungen. Es gehe ausschließlich um Machtentscheidungen einer kleinen Elite, die in einer in der neueren Geschichte beispiellosen Weise "mit derart ungebremster Habgier ihrem Drang nach Einkommens- und Vermögenssteigerungen nachgegeben" hat. Wenn von sozialer Ungleichheit die Rede sei, dann gehe es auch und vor allem "um die politisch und rechtlich fundierte Machtausübung kleiner Eliten, die sich in einem Maße, das vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre, ein Einkommen und Vermögen schaffen, die sie von der Lebenswelt ihrer Mitarbeiter denkbar weit abheben".
Es geht also keineswegs nur ums Geld. Wehler ist alles andere als ein Erbsenzähler der Löhne oder Vermögen. In einer instruktiven Einleitung legt er sein theoretisches Rüstzeug dar. Er zeigt, wie die "bürgerliche" Soziologie von Lorenz von Stein über Max Weber und Émile Durkheim bis Pierre Bourdieu sich mit dem auf den Produktionsprozess verengten Klassenbegriff bei Karl Marx auseinandergesetzt und Kategorien der politischen Herrschaft, der Kultur und Religion und des Status, der gesellschaftlichen "Ehre", in die Betrachtung einbezogen hat. Das ist der Pfad, auf dem auch Wehler sich bewegt.
Wie breit angelegt sein Zugriff ist, zeigt sich exemplarisch an dem Kapitel "Die Ungleichheit auf den deutschen Heiratsmärkten". Das bunte Patchworkfamilien-Gewusel, das in manchen Medien fast schon als neue gesellschaftliche Norm hingestellt wird, zeigt allenfalls, dass die lebenslange Monogamie an Prägekraft verloren hat. Es ändert aber nichts daran, dass "soziale Klassen auch emotionale Klassen sind". Man bleibt sozial gesehen unter sich. Wehler nennt das "Homogamie". Die Frage, ob "das Konnubium hohe Ungleichheitsbarrieren wie die klassenspezifische, religiöse oder ethnische Herkunft zu überwinden vermag oder aber zu verstärken tendiert", laufe, so Wehler, auf eine Art Lackmustest hinaus.
Die deutsche Wirklichkeit spricht eine klare Sprache: Romantischer Liebe gelingt es höchst selten, Klassenschranken zu überspringen. Je höher die soziale Position sei, desto erfolgreicher mache sich das ständische Motiv geltend, Ressourcen zu monopolisieren und "die Gesamtlinie der Lebensführung über die Generationenschwelle hinweg beizubehalten". Auf der anderen Seite heiraten 80 Prozent der Arbeiter Töchter aus Arbeiterfamilien. Hier zeigt sich das Motiv einer "resignativen Schließung". Siebzig Prozent aller Heiraten sind solche innerhalb eines Klassenmilieus. All das widerlegt in Wehlers Augen die "modische Behauptung der Individualisierung".

Hans-Ulrich Wehler hat sich sein ganzes Gelehrtenleben mit der deutschen Sozialgeschichte und damit auch zentral der Frage nach den Folgen sozialer Ungleichheit beschäftigt. Er erlebte, wie diese Frage aus der Mode kam, als altväterlich und verstaubt galt. Die Klassengesellschaft habe sich angesichts globaler Menschheitsbedrohungen längst zur "Risikogesellschaft" performiert, hieß es. Auch war von marktradikalen Ideologen immer wieder die Empfehlung zu hören, man solle den ganzen Ungleichheitsdiskurs doch sein lassen, sich ins kapitalistische Getümmel stürzen, wo es doch so unglaublich bunt zugehe und wo die Chancen des Wettbewerbs warteten.
Wehlers bärbeißiger Zwischenruf aus Bielefeld, dass das alles Humbug sei, kommt zur rechten Zeit. Und er trifft den richtigen Punkt. Die Soziale Ungleichheit in Deutschland ist eben nicht das Resultat einer freien Gesellschaft, sondern sie ruht auf Vermachtung, Verkrustung und Abschottung. Das prangert Wehler an, nicht die Ungleichheit als solche, die in einer Marktgesellschaft tatsächlich unausweichlich ist und hingenommen werden kann, wenn der Sozialstaat alles dafür tut, dass der ererbte Status nicht zum Schicksal wird. Die Frage, wie das geht, ist jede leidenschaftliche Debatte wert. Wer hier aber wieder nur eine neue "Neiddebatte" heraufziehen sieht, versteht nicht, was die Stunde geschlagen hat.

Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland. C.H. Beck, München. 191 S., 14,95 €.

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