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Dienstag, 14. Januar 2025

Freie Rede

Meinungsfreiheit im Internet

Annekathrin Kohout: Meta ohne Faktencheck

Das Märchen von der „free expression“. Uneingeschränkte Meinungsfreiheit kann es auf sozialen Medien gar nicht geben. Wir müssen diese deshalb jedoch nicht meiden, sondern klüger nutzen.

Aus: taz 13.1.2025

Es war einmal eine Plattform, die versprach, ein Ort uneingeschränkter Redefreiheit zu sein. So erzählte es Meta-Chef Mark Zuckerberg letzte Woche in einer unheilvollen „Neujahrsansprache“, wie ein Instagram-Kommentator dessen Video treffend klassifizierte. Doch hinter den friedlichen Regenbogen-Flaggen verbarg sich ein „zensierendes“ System aus Algorithmen, das entschied, welche Worte überhaupt sichtbar wurden. Nun aber, so verkündete Zuckerberg, müsse die „free expression“ wiederhergestellt werden!

Auch die Meta-Plattformen sollen künftig X-gleich zu einer Bastion der freien Rede werden. Ob Zuckerberg hier selbstkritisch sprach oder mit vorgehaltener Pistole – darüber lässt sich spekulieren. Doch eines ist klar: Er bedient damit geschickt ein Narrativ, das anhaltend Konjunktur hat: das der unterdrückten Meinungen, die dringend befreit werden müssen.

Der derzeitige Schirmherr dieses Narrativs ist Elon Musk, der X bereits zum selbsternannten Leuchtturm der Meinungsfreiheit umgebaut hat. Auch wenn viele die Plattform daher mittlerweile verlassen haben, floriert X dennoch weiter. Die User sehen sich nämlich durch Musks Rhetorik in ihrem diffusen Gefühl bestätigt, ihre wahren Gedanken sonst nicht mehr äußern zu dürfen.

Dieses Gefühl ist in den sozialen Medien allerdings unvermeidlich. Dafür gibt es viele Gründe. Einer davon: Soziale Medien verstärken soziale Sanktionen – von offener Kritik und Ausgrenzung über Shaming bis hin zu Mobbing. Sichtbarkeit und Reichweite spielen hier eine entscheidende Rolle.

Äußerungen und Handlungen sind einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und werden nicht nur von kleinen Gruppen, sondern potenziell von einer globalen Community bewertet. Das erhöht den Druck auf Einzelpersonen erheblich. Ein misslungener oder unbedachter Post kann innerhalb von Stunden massive öffentliche Kritik nach sich ziehen – das, was heute vorschnell als „Cancel Culture“ bezeichnet wird. Manchmal mit positiven, manchmal mit negativen Konsequenzen.

Orchestrierte Bestrafung

Besonders gravierend ist der sogenannte „Pile-on-“ oder Schneeballeffekt: Wird jemand oder etwas öffentlich kritisiert, schließen sich oft viele User der Bestrafung an. Schnell entsteht der Eindruck eines breiten Konsenses – auch wenn dieser objektiv betrachtet gar nicht existiert. In dieser Dynamik fühlt sich paradoxerweise jede Position als bedrohte Minderheit. Dabei ist die vermeintliche Mehrheitsmeinung oft nur ein gut orchestriertes Ensemble Weniger.

Die Mär von der „free expression“ ist also eine schöne Geschichte, aber sie bleibt auch unter Musk und einem Meta ohne Faktencheck und mit weniger Content-Moderation, was sie immer schon war: ein Märchen. Die Vorstellung, dass Plattformen uneingeschränkte Meinungsfreiheit ermöglichen, verkennt ihre Architektur: Algorithmen, Monetarisierung und Marktlogiken schaffen Bedingungen, unter denen jede Rede zur Ware wird: verpackt, kuratiert, verkauft – aber nicht frei. Sie verkennt aber auch, dass soziales Verhalten in einem Umfeld, das Feedback und Reaktionen nicht nur ermöglicht, sondern permanent forciert, nicht reguliert werden kann.

Die eigentliche Frage lautet also nicht, ob es freie Rede im Netz geben kann. Die Frage ist, wer uns diese Märchen erzählt – und warum ausgerechnet jetzt. Während Zuckerberg und Musk von digitaler Befreiung reden, verwandeln sie im Hintergrund weiterhin jede Äußerung in verwertbare Daten. Je wilder die Debatten toben, desto höher die Engagement-Raten. Je polarisierter die User, desto präziser die Algorithmen. Die „free expression“ ist ein trojanisches Pferd – das wir begeistert begrüßen.

Dieser Widerspruch lässt sich wohl nicht auflösen – aber wir sollten ihn im Hinterkopf behalten. Die Mechanismen sozialer Medien zu durchschauen muss nicht bedeuten, sie zu meiden. Es bedeutet, sie klüger zu nutzen. Denn die echte digitale Freiheit liegt darin, nicht alles zu sagen, was man sagen könnte.


Mittwoch, 17. Juli 2013

Es geht nicht nur um Überwachung geht, sondern um die ökonomische, politische und militärische Macht, die da überwacht

Ranga Yogeshwar im Gespräch mit Dietmar Dath Rechnen Sie damit, lebenslang ein Verdächtiger zu sein
FAZ 12.07.2013

(Auszüge)

Yogeshwar: Bislang wurden die Behörden erst dann aktiv, wenn eine Straftat vorlag, und man ging zum Arzt, wenn man krank war. Inzwischen aber lässt sich immer genauer berechnen, ob ein Mensch womöglich kurz davor steht, eine kriminelle Handlung zu begehen, oder eine noch gesunde Patientin eine erhöhte Wahrscheinlichkeit aufweist, zum Beispiel an Brustkrebs zu erkranken. Sie ist noch nicht krank, jedoch zeigen genetische Daten und bestimmte andere biologische Indikatoren, dass sie in der Zukunft erkranken könnte.

Und an genau dieser Stelle überschreiten wir den Rubikon zwischen Realität und dem digitalen Abbild: Nicht der Mensch an sich, sondern die Vorhersage des Modells wird Grundlage des Handelns. Der noch gesunden Patientin entfernt man vorsorglich die Brüste, und der unbescholtene Bürger wird vorsorglich womöglich verhaftet.

Dath: Wer Menschen ausrechnet, braucht nicht nur Rechner, sondern auch einen Begriff davon, was das ist: ein Mensch. Man kann diesen Begriff spieltheoretisch formulieren - Ein Mensch ist einer, der rational spielt, um zu gewinnen. Wenn das Spiel aber etwa heißt: Der mit den wenigsten Fingern kriegt den Jackpot, dann gilt für ein spieltheoretisches Kalkül derjenige als rational, der sich die Finger abschneidet. Die neuen Überwachungstechniken scheinen die Wahrheit dieser spieltheoretischen Kalküle zu beweisen. In Wirklichkeit setzen sie die Geltung dieser Kalküle selbst erst durch - weil es nicht nur um Überwachung geht, sondern um die ökonomische, politische und militärische Macht, die da überwacht. Die Kalküle werden von ihr als vom Himmel gefallene Wahrsagekunst verkauft. Dabei kann man durchaus beschreiben, wie sie funktionieren.

Yogeshwar:Diese Entwicklung basiert auf einer Magie der Mathematik: Beginnen wir bei der Identifizierung - wie finde ich einen Menschen unter einer Million? Nehmen Sie mal eine Eigenschaft, die nichts Abseitiges ist, die bei einem von zehn Menschen vorkommt. Da würde jeder Bürger einer Stadt mit dreißigtausend Einwohnern sagen: Na gut, wenn das jemand über mich weiß, habe ich nichts dagegen, es gibt ja in meiner Stadt dreitausend Bürger, auf die das ebenfalls zutrifft. Aber mit zwei solchen Eigenschaften filtern Sie mathematisch aus hundert Menschen einen heraus, mit drei einen aus tausend, mit nur sechs Eigenschaften finden Sie einen in einer Million. Das sind orthogonale Filter, im Sinne der Mathematik orthogonal: voneinander unabhängig.

Der zweite Schritt ist nun, dass man die Leute nicht mehr nur finden, sondern digitale Profile erzeugen kann, die sich modellieren lassen - wenn eine Person dies, das und jenes gemacht hat, kann ich mit einer guten Wahrscheinlichkeit vorhersagen, was sie als Nächstes tun wird. Sie haben etwa einen Internet-User, der kauft sich eine Fahrradhose und ein Fahrrad. Dann ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass er einen Helm kaufen wird - also kann ich ihm Werbung für einen Helm schicken lassen, von einer Maschine. Weiter: Gibt es Indikatoren, dass dieses Ehepaar sich scheiden lassen wird? Wird ein Arbeitgeber bald kündigen? Wechselt ein Stammwähler vielleicht die Partei?