Mittwoch, 11. Mai 2011

Die Idee der Menschheit

alain finkielkraut "Der NS-Massenmord erschüttert die Vorstellung der Unsterblichkeit der Menschheit, der Gattung (...) Der Tod maß mit zweierlei Maß: er schnitt erbarmungslos die einzelne Existenz ab (...) doch er verschonte die Menschheit (...) so starben zwar alle, aber gleichzeitig keiner. Jeder, ob Volk oder Person, hinterließ eine Erbschaft, die andere, nach ihm, einsammelten und fruchtbar machten; die Weisheit verblichener Kulturen ging in diejenigen über, die sie ablösten, und der Mensch (...) machte grosso modo ständig Fortschritte. Ein flüchtig, vergänglich Ding, das Teil einer sich bewegenden, perfektiblen und unsterblichen Totalität war. Sein Menschsein, im Sinne der Menschennatur (im Gegensatz zur göttlichen Natur) oder im Sinne der Menschlichkeit (im Gegensatz zur Unmenschlichkeit) ging in der Menschheit als Gattungs- und Universalbegriff, auf. Seine Handlungen, Unternehmungen, Erfindungen, auch wenn er es nicht wollte, waren Teil des kollektiven Werks. Seiner abgetrennten Individualität nahm sich ein transzendentales, vereinheitlichendes Subjekt an, eine Art allumfassendes Ich, dessen forscher, prometheischer Schritt über Generationen hinwegsetzte (...) Die Idee der Menschheit (...) tröstete besser über das Böse hinweg als alle früheren Theodizeen (...) Alle Opfer und Verletzungen der Menschlichkeit konnten als negative Bedingungen des Fortschritts als diesen ermöglichend, bedingend verstanden werden. Im Holocaust hatte aber der Fortschritt selbst die Existenz der Gattung in Frage gestellt: als spurenlose Vernichtung eines Volkes, das nicht nur nicht nie mehr sein, sondern auch nie gewesen sein sollte.“ 

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