Dienstag, 9. September 2014

Neue Herrschaftsformen: Der "Merkelismus"

"Merkelismus". Skizzen zu einem postdemokratischen Herrschaftssystem


Georg Seeßlen

Das Herrschaftssystem des Merkelismus basiert auf einem Ineinander von Opportunismus und Dogmatismus; es geht um ständige Anpassungen bei gleichzeitiger unbeugsamer Zielrichtung. Die „marktkonforme Demokratie“ ist vorstellbar nur als eine Art des Kapitalismus, die mit stalinistischer Unbeirrbarkeit vorgeführt wird: Das System ist wichtiger als der Mensch, so wie auch Joachim Gaucks Idee von Freiheit eine Abstraktion ist, die jenseits des Menschen zu funktionieren scheint. (Was überhaupt an dieser protestantischen Pfarrerskultur auffällt, ist neben der käsigen Unsinnlichkeit: eine Unfähigkeit, den Menschen zu lieben.)

Er interessiert sich für die Freiheit, nicht für Menschen, die mit ihr zu kämpfen haben, so oder so. So gibt es eine Unbarmherzigkeit gegenüber jenen, die an der Freiheit der anderen (der Stärkeren) scheitern.

1. Die marktkonforme Demokratie ist die Super-Idee hinter dieser Politik.

2. Eine Form des Staatskapitalismus, der auch die Außenpolitik bestimmt und eine Nation aus dem Wettbewerb definiert.

3. Die Macht wird im Äußeren eher repräsentiert, im Inneren dagegen bekämpft. Merkels Feinde sind nie in den anderen Parteien zu finden, sondern immer in der eigenen.

4. Die Macht einer Nation kommt aus ihrem Exportüberschuss (eine der Übereinstimmungen zwischen Merkelismus und Merkantilismus). Eine Nation mit Exportüberschuss übersteht die Krisen besser und zwingt unbarmherzig die anderen Nationen mit allen Mitteln in dieser Position der Abhängigkeit zu bleiben.

5. Die Nationalisierung des Kapitalismus und die Kapitalisierung der Nation ist in der entsprechenden „soften“ Rhetorik stets mehrheitsfähig. Das merkelistische Staatssubjekt muss die bösen Seiten dieser Rhetorik gar nicht bedienen, sie muss sie nur zulassen und eine sanfte Offenheit ihnen gegenüber inszenieren.

6. Im Merkelismus herrscht das Prinzip des aggressiven Nicht-Handelns, das heißt in Situationen, in denen die meisten Fürsten sich zwischen der schlechten und der zweitschlechtesten Lösung entscheiden zu müssen glauben, hält sich der Merkelistische Fürst stets so lange zurück, bis er den Vorteil aus dem Nicht-Handeln als eigenes Handeln verkaufen kann.

7. Merkelismus, nicht nur im Fürsten selber, sondern in der gesamten Führungskrise, ist geprägt durch absolute soziale Blindheit. Der Fürst sieht von seinem Volk nur, was er sehen will, wendet aber dies gegen diejenigen, die sich aus dem einen oder anderen Grund nicht wohl fühlen wollen in dieser Wohlfühl-Nation.

8. Merkelismus enthält sich des Triumphalismus, Merkelismus wird zur wahren Herrschaft in Europa, tut aber so, als bemerke er es nicht, ja mehr noch: Der merkelistische Fürst reagiert beleidigt gegenüber allen, die seine Machtfülle auch nur bemerken. Wenn der Merkelismus gewinnt, tut er das ohne Lust.

9. Merkelismus ist ein Machtsystem, das nur unter einer „totalitären“ Regierung entwickelt werden konnte (der informelle Machtkampf, der sich als solcher nicht zu erkennen gibt) und nur in einer liberalen Gesellschaft so entfaltet werden kann.

10. Merkelismus erobert weder, noch unterwirft er; Merkelismus ist eine Herrschaftsform, die ihre Gegenstände durchsetzt und durchwirkt. (Angela Merkel mit Hitlerbart sagt rein gar nichts aus, außer der Hilflosigkeit der Wut gegen den Merkelismus.)

11. Merkelismus ist die Politik des marktkonformen Regierens, eines Regierens für den Markt und durch den Markt. Die ökonomische Hegemonialisierung wird politisiert und nationalisiert, und umgekehrt ist die ökonomische Hegemonialisierung das heimliche Staatsziel.

12. Merkelistische Macht benötigt mediale Hilfstruppen, die sie unsichtbar macht.

13. Merkelismus positioniert sich im Konflikt der beiden Kapitalismen (dem Kapitalismus, der gesellschaftlich, politisch, humanistisch und sozial „gezähmt“ werden soll, und dem Kapitalismus, den die Politik und Kultur einer Gesellschaft am liebsten ganz sich selbst überließe) am ehesten ad hoc, nämlich im Wettbewerb mit den anderen Kapitalismen wie dem autoritären (China) oder dem mafiosen (Russland).

14. Solange Merkelismus erfolgreich ist, kann er Reste der Sozialstaatlichkeit „seinem“ Volk gewähren, er nimmt aber sofort, wenn der Markt es erfordert, und er kann sich darin als gnadenloser Vollstrecker des Schröderismus gebaren.

15. Merkelismus reproduziert die oligarche Struktur der Postdemokratie insofern er zum Machterhalt Ausschließungskriterien erzeugt. Der Merkelismus stellt sich selber nicht zur Wahl. Sein Inhalt ist unsichtbar, seine „Entscheidungen“ sind „alternativlos“, seine Ideologie ist Unterhaltung.

Merkelismus, den Robert Misik sehr treffend „Fiskalsadismus“ nannte, funktioniert, weil die Mehrheit der deutschen Medien und wohl auch die Mehrheit der deutschen Menschen jene Strategie unterstützt, die sehend „Deutschlands Nachbarn in Armut und die Welt in eine globale Depression stürzt“, wie der eher unverdächtige britische New Statesman schrieb. Die faulen Griechen, die „Pleite-Griechen“ werden nicht nur von der Boulevardpresse und dem Leitmedium deutscher Niedertracht, der Bild, beschimpft und verhöhnt, Volk und Regierung sind sich auf eine innige Weise einig, wenn man den eigenen Vorteil gemeinsam zu verbrämen gedenkt.

Wie einst bei Maggie Thatcher ist das eigene Geld insofern „heilig“, als man es nicht den anderen geben will, und man verachtet alle, die es nicht haben. Merkelismus übernimmt auf diese Weise den Kult der „Deutschen Mark“.

Politisch gesehen ist der Merkelismus, oder „Merkelantismus“, wie Heiner Ganßmann das nennt, eine neue Abart des Merkantilismus: Diese Staatsidee des 18. Jahrhunderts ging davon aus, dass ein Staat so mächtig ist, wie seine Gesellschaft reich ist. Die Nation muss sich also auf Kosten anderer bereichern, und der beste Weg dazu ist der Export-Überschuss. Wenn die Nachbarstaaten gezwungen sind, mehr bei einem selber einzukaufen, als man bei ihnen kauft, wächst der Reichtum und damit die Macht einer Nation, und durch diese wiederum die Möglichkeiten, weiteren Reichtum anzuhäufen.

Die Nachteile des Merkantilismus waren vergleichsweise schnell erkannt. Ein Export-Wettbewerb der Nationen führt zum einen in den radikalen Ruin der Verlierer-Nation, zum anderen aber dazu, dass sich die Nationen gegenseitig in ihrer Entwicklung blockieren (eben dies, so scheint es, geschieht gegenwärtig in Europa); der Sieg im Merkantilismus ist also nichts weiter als ein Strohfeuer, das gleichwohl ungeheuer viel verbrannte Erde hinterlässt. Das zweite Problem des Merkantilismus besteht darin, dass der Reichtum der Nation sich nicht in ein gerechtes und erfülltes Leben der Menschen umsetzen lässt. Der Export-Überschuss Deutschlands dient dem Staat, dient der ökonomischen Oligarchie und kann allenfalls eine gewisse Pufferung der allgemeinen Verelendung einbauen (während er sie in den Nachbarstaaten beschleunigt). Der Auflösung der Gesellschaft im Inneren setzt der Merkantilismus so wenig entgegen wie der Merkelismus.

Das Geheimnis der Merkelistischen Politik liegt auf der Hand: Die Arbeit so entwerten, dass immer mehr davon notwendig wird, um ein Überleben zu sichern. Der Abbau aller Wohltaten für die Bürger, die nichts für den nationalen Reichtum bringen. Konsum und Besitz in den Händen des Mittelstands wird zurückgefahren. Im „religiösen“ Kern des Merkelismus lauert der neue Puritanismus: Sparen, Arbeiten, dem Markt dienen, das Alternativlose akzeptieren, den Export fördern, auch wenn er Krieg, Hunger, Umweltverschmutzung und schiere Unvernunft gleich mit exportiert. Oder anders gesagt: Die Schuldenkrise des Finanzkapitalismus wird nationalisiert (damit die Privatisierung des Profits nicht rückgängig gemacht oder auch nur gebremst werden muss). „Harte Sparmaßnahmen, gekoppelt mit Massenentlassungen und Rentnerarmut, Schuldenbremsen und Fiskalpaketen, sollen die Staatsfinanzen sanieren – in den ‚Problemländern’“, so beschreibt Heiner Ganßmann den „Merkelantismus“.[1] Aber damit nicht genug: Dazu gehört auch eine soziale Gleichgültigkeit, ein unbarmherziger Abschied merkantil unnützer Menschen und eine ausgeprägte Propagandamaschine, die den Merkelismus einerseits als Nationalismus light verkauft, andererseits als soziales Gewinnspiel: Wer Rücksicht auf seine Mitmenschen nehmen will, hat schon verloren.

Das scheinbar Widersprüchliche am Merkelismus ist, dass er zugleich Europa braucht, nämlich als eben das Exportfeld, von dem aus auch andere Märkte zu „erobern“ sind, und dass er zugleich gnadenlos andere Mitglieder dieses Europas bis an den Rand von Zusammenbruch und Bürgerkrieg treibt. Aber vielleicht ist das ja gar kein Widerspruch. Denn der einzige Ausweg aus dieser neuen Falle (die sich als Ausweg aus der Schuldenfalle maskiert) ist eine Verdeutschung Europas. Und damit ist nicht allein eine deutsche Hegemonie gemeint, die längst schon (und natürlich: oft genug extrem vereinfachend) von den Widerstandskräften gegen die Merkelisierung der Welt beklagt wird, sondern eine Übernahme des neo-merkantilen Staatsmodells.

Die Macht der neo-merkantilen Allianz wächst dabei ins Unermessliche. Und zugleich die Ohnmacht der Völker. Wiederum scheint auf der sozialdemokratischen Seite aus der doppelten Falle – Schuldenfalle und Neo-Merkantilismus – nur ein Ausweg möglich. Man müsse das „eiserne Sparen“ auf irgendeine Weise sozial verträglicher machen (sonst wächst die Gefahr, dass aus den Wirtschaftskrisen noch ganz andere Konflikte entstehen, bis hin zu Kriegen zumindest aber dazu, dass sich Staaten in den erzwungenen Situationen ganz einfach keine Demokratie mehr leisten können), und die einzige Möglichkeit dazu wäre, nun? Genau: Wachstum, Wachstum, Wachstum. Die nächste Falle, mit anderen Worten.

Der Kampf um den Exportüberschuss ist immer der Kampf gegen die Arbeit. Die Produktivität muss gesteigert und die Lohnkosten müssen gesenkt werden. Die „Linke“ des Merkelismus setzt ein wenig mehr auf die Steigerung der Produktivität (Bildung, Wissenschaft, soziale Motivation), die Rechte mehr auf Senkung der Lohnkosten (wenn es sein muss mit Gewalt: Vorwärts ins 18. Jahrhundert!). So ist eigentlich jetzt schon klar, was die Zukunft bringen wird: Merkelismus, der auf den „rechten“ Koalitionspartner FDP verzichtet und den „linken“ Koalitionspartner der post-schröderistischen (und von Steinbrück vollends verblödeten) Sozialdemokratie verwendet, um den Neo-Merkantilismus zu perfektionieren.

Der Neo-Merkantilismus muss die südlichen „Problemländer“ nicht nur ökonomisch und politisch, sondern auch kulturell zurückstufen (dafür sorgen in Deutschland die Medien der Niedertracht). Denn der Merkantilismus kann nur gewinnen, wenn es Staaten, Regionen, Volkswirtschaften gibt, die in ihm chancenlos sind. Man will also Länder wie Spanien, Griechenland und Italien gar nicht „sanieren“, sondern in einen Zustand vollständiger Abhängigkeit und Handlungsunfähigkeit bringen.

Aber wie können andere Länder überhaupt mit dem Exportüberschuss des merkelistischen Deutschlands leben? Im europäischen Markt können sie ja weder ihre eigene Währung noch ihren eigenen Markt schützen, im Gegenteil, dieses Europa dient immer den stärksten Wirtschaften. Ganz einfach: Sie müssen sich beim Überschuss-Land verschulden, so oder so.

Warum aber besteht überhaupt ein solcher Bedarf an deutschen Waren? Dazu gibt es, neben vielen politischen und ökonomischen auch eine „kulturelle“ Antwort. Auch in dem Land, das vom Neo-Merkantilismus in den Ruin getrieben wird, gibt es eine Oligarchen-Klasse, die ungeheure Profite einfährt, und so rasch sich weiter bereichert wie das Volk verelendet. Diese Klasse, und ihre mittelständische Entourage, die von dem Gedanken besessen ist, mit ihr überleben zu können, kann sich kaum mit einheimischen Waren, insbesondere jenen, die Prestige- und Symbolwert aufweisen, schmücken; mit der deutschen Marke schreibt man sich stattdessen gleichsam in die Erfolgsgeschichte des Merkelismus ein. Mit dem BMW fährt man dem Untergang der eigenen Volkswirtschaft davon.

Die Abhängigkeit einer Verlierer-Volkswirtschaft gegenüber einer Gewinner-Volkswirtschaft im Neo-Merkantilismus/Merkelismus beruht also auch auf diesem Weg in der Komplizenschaft der ökonomischen Oligarchien und ihrer kleinbürgerlichen Entouragen (einschließlich der Medien- und Propaganda-Maschinisten).

Die Entwertung der Arbeit in den Verlierer-Volkswirtschaften vollzieht sich mit einer rasenden Geschwindigkeit. Nicht nur die steigenden Arbeitslosenzahlen gehören dazu, sondern auch die auf diese Weise erzeugte Unfähigkeit zur Produktivität. Seit Italien, zum Beispiel, in die Falle von Schulden und Merkelismus geraten ist, verlor das Land bis zu vierzig Prozent seiner akademischen Intelligenz; am Ende wird bis zur Hälfte jener Schicht, die allein das Land aus der wirtschaftlichen und sozialen Krise heraus führen könnte, als „neue Emigranten“ im Ausland arbeiten, und zwar in den Gewinnerländern, um dort die Produktivität zu steigern und die Lohnkosten zu drücken.

Nun handelt es sich freilich nicht allein um Waren, um Arbeitskraft oder um technologische Know How, die im Neo-Merkantilismus einem mehr oder weniger gewaltsamen drain unterzogen sind, sondern auch das Kapital selber wird zu einer auch politisch fließenden Ware (zum „Kapitalexport“). Der rechte Arm des Merkelismus zieht also von den Verlierer-Ländern Marktmacht und Arbeitskraft ab, der linke indes pumpt Kapital in das Land („Wachstum!“), durch das es sich weiter verschuldet.

Die Problemländer in Europa sind also nicht „in einer Krise“ durch den Merkelismus, sondern sie sind dauerhaft am Boden. Sie werden als Volkswirtschaften künstlich am Leben erhalten (damit die Kreisläufe des Kapitals sicher gestellt werden), politisch handlungsunfähig gemacht und gesellschaftlich „verslumt“. Gibt es Gegenwehr, reagieren die neo-merkantilen Staaten und ihre Vasallen mit einer Gewalt, deren man eine „demokratische“ Regierung bis gestern nicht für fähig gehalten hätte.

Merkelismus ist eine besondere – und eine besonders rabiate – Form des Neo-Merkantilismus; er ist gleichwohl auch eine der am besten maskierten. Die soziale Unbarmherzigkeit und die Gewaltbereitschaft verbirgt sich hinter jovialen Sprüchen und Versprechungen gegenüber der eigenen Bevölkerung (welche von den Medien der Niedertracht zugleich gegen die Bevölkerung der Verlierer-Staaten aufgebracht wird). Wenn Herr Steinbrück meint, in Italien hätte diese Bevölkerung nur „Clowns“ gewählt, so dürfen wir zurückfragen, welche Funktion die deutschen Spitzenpolitiker einnehmen, möglicherweise die von Regulars einer sehr bigotten, sehr verlogenen Seifenoper.

Merkelismus wird derzeit ganz offensichtlich von einer großen Mehrheit des deutschen Volkes mitgetragen, und einer Mehrheit innerhalb dieser Mehrheit kann er gar nicht brutal genug sein (während eine Minderheit ihn doch gerne mit einem etwas menschlicherem Gesicht sehen würde).

So hat die Kritik zwei Aufgaben: Den Merkelismus zu verstehen, und die Blödmaschinen, die ihn verkaufen. Im Übrigen gibt es derzeit keine explizit und diskursiv anti-merkelistische politische Kraft in der deutschen Demokratie.

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