Dienstag, 2. Dezember 2014

There is no way out of here

Hauke Brunkhorst: Nicht von dieser Welt

Die Zeit vom 20.11.2014, Nr. 48, S. 52


Drei Fälle, alle in einer Woche: Der stern enthüllt, dass Gerhard Schröder von seinem Freund, dem Versicherungsunternehmer Carsten Maschmeyer, zwei Millionen Euro für die Buchrechte an seiner Autobiografie Entscheidungen - Mein Leben in der Politik erhält. Gleichzeitig kommt ans Licht, mit welchem Eifer der heutige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Luxemburg zu einem Steuervermeidungsparadies umbauen ließ. Und dann noch der Absturz von Thomas Middelhoff. Der Wirtschaftsführer wird wegen Untreue zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und noch im Gerichtssaal verhaftet. Für die Öffentlichkeit bleibt er als Manager in Erinnerung, der auf seiner Luxusjacht Medici - 33 Meter lang, 1000 Euro Spritkosten die Stunde - bei einem Gläschen Champagner die
Entlassung von 4000 Angestellten beschließt, die sich gerade darauf eingelassen hatten, für einen Monat ohne Lohn zu arbeiten, um ihren Betrieb zu retten.
Wie konnte es so weit kommen? Warum sind diese Funktionsträger so hemmungslos? Die Erklärung ist einfach: Es waren zwei sozialdemokratische und eine rot-grüne Regierung, die das Weltzeitalter der Sozialdemokratie beendet haben. Ihre Reform des Sozialstaates war in Wirklichkeit eine Gegenreform, vollstreckt von den Regierungschefs Clinton, Blair und Schröder - die Grünen durften mit dabei sein. Seitdem herrscht ein anderer Geist.
Auf dem Totenschein für das sozialdemokratische Zeitalter, ausgestellt am 1. August 2009, steht "Schuldenbremse" (Artikel 109 Absatz 3, Artikel 115 GG). Sie unterwirft die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes auf unabsehbare Zeit einem Regime der Austerität. Damit erweist sich die Schuldenbremse als letzter Schritt auf jenem langen neoliberalen Reformweg, der mit Pinochet, Thatcher und Reagan 1973 begann und den der Politikwissenschaftler Wolfgang Streeck zu Recht als "Epochenbruch" bezeichnet.
Vor vierzig Jahren putschte das chilenische Militär, errichtete im Namen des Monetarismus eine Diktatur und begann das historisch erste Großexperiment neoliberaler Reformpolitik. Zwei Jahre später schlossen sich die argentinischen Generäle an, dann folgten die Führungsmächte des freien Westens, England und Amerika, schließlich der Rest der Welt. Die Zauberworte waren überall dieselben: Strukturreform, Haushaltskonsolidierung, Wettbewerbsfähigkeit, Leistungsbereitschaft. Hinzu kam die Public-Private Partnership. Sie reicht heute bis tief in die Gesetzgebungsmaschine des Deutschen Bundestags.
Zur Durchsetzung der neoliberalen Agenda bedurfte es, vor allem in Lateinamerika, unterstützender Militäreinsätze und zahlreicher Polizeiaktionen. Es bedurfte der stillen Arbeit öffentlicher und privater Geheimdienste sowie einer gewaltigen Akkumulation privater Medienmacht nebst einer Serie grundrechtsbegrenzender Gesetzgebungen. Hochgerüstete, private Polizeifirmen übernahmen vielerorts öffentliche Aufgaben, während der Staat landauf und landab verachtet wurde. Der übrig gebliebene Reststaat senkte die Steuern für die Reichen und erhöhte die Soziallasten für die Armen. Das reichte, um im Fall von Marktversagen die systemrelevanten Banken zu retten.
Mit einem Wort: Wie einst im 19. Jahrhundert war der Markt zum Allheilmittel geworden. Heerscharen von Betriebswirten erteilten den Gesellschaften umfassende "Ratschläge", zuletzt auch den Universitäten. Die Parole, die in den letzten dreißig Jahren alles der Warenform unterwarf, hieß: "Bereichert euch! Strengt euch gefälligst an!" Und wer es nicht schafft, der ist selbst schuld. Oder in der konkreten Poesie des Buchautors Carsten Maschmeyer: Selfmade - erfolg reich leben.
Wer also wollte es all den Maschmeyer-Juncker-Hoeneß-Schröder-Middelhoffs verdenken, wenn sie nehmen, was zu kriegen ist? Immerhin, als Jean-Claude Juncker Luxemburg zu einem Steuerparadies umbaute, hatte er noch im Interesse seines Landes gehandelt, so wie er jetzt im Interesse der Europäischen Union handelt. Den anderen, die bei ihrem Tun erwischt werden, erscheint das, was ihnen widerfährt, als ungerecht, wie zum Beispiel Thomas Middelhoff. Vielleicht haben sie sogar recht damit, aber die Urteile sind legal; Gerechtigkeit und Recht sind aus gutem Grund nicht dasselbe. Der Rechtsstaat schützt fast immer und überall die Interessen der Herrschenden, aber manchmal schlägt er auch zurück.
Um es mit den Begriffen von Karl Marx zu sagen: Der Geist, dem die neoliberalen Eliten folgen, ist nur ein winziges Segment im "ungeheurem Überbau". Dieser Überbau wird von einem materiellen Unterbau getragen, und dieser Unterbau ist es, der - Selfmade hin oder her - unerbittlich über den Erfolg des Einzelnen bestimmt. Und was ist der Unterbau? Es ist der Weltmarkt.
Im Verlauf der letzten Jahrzehnte, im Sog der kapitalistischen Globalisierung, wurden die demokratisch kontrollierten Märkte der reichen Länder aus den Grenzen des Nationalstaats herausgelöst und zum riesigen Meer des Weltmarkts vereint. In diesem Meer schrumpften die einst mächtigen Staaten zu kleinen Inseln, die jederzeit von den global operierenden Investoren geflutet und in ihren politischen Entscheidungen beeinflusst werden können.
Unter den Bedingungen eines weitgehend unkontrollierten Weltmarktes wurde aber nicht nur die mühsam ausbalancierte Macht zwischen Staat und Wirtschaft dramatisch zugunsten der Wirtschaft verschoben; auch die nach langen, demokratischen Klassenkämpfen halbwegs austarierte Machtbalance zwischen Kapital und Arbeit hat sich verschoben, und zwar eindeutig zugunsten des Kapitals.
Damit ist die Erpressungsmacht der Wirtschaft ins schier Unermessliche gewachsen und ist in der Lage, ganze Staaten unter Druck zu setzen. Gleichzeitig schrumpfte die Gegenmacht von Parlamenten und Gewerkschaften. So wurde der "wilde Investitionsstreik" der Wirtschaft zur Regel, der legale Arbeiterstreik zur seltenen Ausnahme und das Streikrecht fast schon zu dem, was die Juristen "totes Recht" nennen. Nur am Rande: Wer will von den Massenmedien und "kritischen Journalisten" anderes erwarten als Konformismus gegenüber den ökonomischen Eliten und Machtspiele gegen jene, die sie fallen lassen? Freie Mitarbeiterinnen, die in den 1970er Jahren mit ihren Honoraren noch Familien ernähren konnten, versinken heute fast in Armut.
Es stimmt: Die immer weiter und immer raffinierter deregulierten Märkte sorgen weltweit zwar dafür, dass die untersten Einkommen geringfügig über die Grenze des Verhungerns gestiegen sind. Aber gleichzeitig ging die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf und hat mittlerweile die Ausmaße der imperialistischen Epoche Ende des 19. Jahrhunderts erreicht. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat es in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert eindrucksvoll nachgewiesen.
Die Ironie der Geschichte: Damals, im 19. Jahrhundert, gab es noch nirgendwo eine moderne Massendemokratie ohne Ausschluss der Farbigen und des anderen Geschlechts; heute aber blockiert das Verfassungsrecht, zum Beispiel die erwähnte Schuldenbremse und die EU-Verfassung, eine Politik, die die groteske soziale Ungleichheit wirksam bekämpft.
Mit der wachsenden Ungleichheit sinkt überall in der westlichen Welt die Wahlbeteiligung der unteren Klassen, die bislang fast ausnahmslos sozialdemokratisch gewählt hatten. Ihre Wahlbeteiligung liegt heute oft weit unter dreißig Prozent, während die Beteiligung in den oberen Klassen fast hundert Prozent erreicht. Das hat einen ungeheuren Entmutigungseffekt. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman spricht von einer timidity trap, einer Verzagtheitsfalle, in der heute jede linke Politik sitzt. Will sie um Parlamentsmehrheiten kämpfen, oder will sie an der Macht bleiben und ihre legislative Gestaltungsfreiheit behalten, dann muss sie nach rechts gehen und auf ihre Gestaltungsfreiheit verzichten.
Wenn es aber, wie Angela Merkel hellsichtig erkannt hat, keine Alternative zur marktkonformen Demokratie mehr gibt, schrumpft die demokratische Selbstbestimmung der Gesellschaft zu parlamentarischer Mitbestimmung.
Das Diktat der Funktionseliten, auch das ist eine Einsicht Merkels, wird zum Regelfall. Wenn sonntagmorgens um fünf Uhr die Börse in Tokio öffnet, muss das nächste Rettungspaket bereits geschnürt sein, sonst geht es dem Euro an den Kragen.
Und was macht die politische Elite? Ihr bliebe, wie im Fall von Gerhard Schröder, nur die Alternative, ein anständiges Honorar entgegenzunehmen, ein Honorar für klare Worte. Die Demokratie hat ihre Schuldigkeit getan, die Demokratie kann gehen. Der Rechtsstaat bleibt bestehen.

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