Dienstag, 20. Dezember 2011

Der Intellektuelle und die Politik

vaclav havel Gehört der Intellektuelle in die Politik? Allein aufgrund seines stetigen Bemühens, unter die Oberfläche der Dinge zu schauen; Ursachen, Folgen und Wechselwirkungen zu begreifen; einzelne Aspekte als Teile eines größeren Ganzen zu erkennen und daraus ein tieferes Bewusstsein für die Welt zu bekommen und eine größere Verantwortung für sie? Wenn man es so formuliert, könnte der Eindruck entstehen, ich hielte es für die Pflicht jedes Intellektuellen, sich politisch zu engagieren. Aber das ist Unsinn. Auch die Politik stellt bestimmte Anforderungen, die nur für sie relevant sind. Manche Menschen erfüllen diese Anforderungen, manche nicht - ganz unabhängig davon, ob sie nun Intellektuelle sind oder nicht.
Es ist meine tiefe Überzeugung, dass die Welt heute - mehr denn je - visionäre und bedachte Politiker braucht, die kühn und aufgeschlossen genug sind, Dinge zu berücksichtigen, die jenseits ihres unmittelbaren Einflusses liegen, räumlich wie zeitlich. Wir brauchen Politiker, die willens und in der Lage sind, über ihre eigenen Machtinteressen oder die besonderen Interessen ihrer Partei oder ihres Landes hinauszudenken und in Übereinstimmung mit den fundamentalen Interessen der heutigen Menschheit zu handeln - das heißt, sich so zu verhalten, wie sich jeder verhalten sollte, auch wenn dies den meisten nicht gelingen mag.
Nie zuvor war Politik so abhängig von der Tagesaktualität, von den flüchtigen Stimmungen des Publikums oder der Medien. Nie zuvor waren Politiker derart gezwungen, das Kurzlebige und Kurzsichtige zu tun. Mir kommt es oft so vor, als bewege sich das Leben vieler Politiker nur von den abendlichen Fernsehnachrichten zu der Umfrage am nächsten Morgen und ihrem Auftritt im Fernsehen am Abend. Ich bin mir nicht sicher, ob in der aktuellen Ära der Massenmedien Politiker etwa vom Schlage eines Winston Churchill heranwachsen oder groß werden können; ich habe da meine Zweifel.
Kurz gesagt: Je weniger unsere Zeit Politiker schätzt, die langfristig denken, desto mehr brauchen wir solche Politiker - und desto mehr Intellektuelle sollten in der Politik willkommen sein. Das betrifft auch jene, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht selbst in die Politik gehen, die aber mit den richtigen Politikern übereinstimmen oder wenigstens das Ethos teilen, das deren Handlungen zugrunde liegt.
Ich höre schon die Einwände: Politiker müssten gewählt sein; Menschen wählten jene, die denken wie sie selbst. Wenn jemand in der Politik vorankommen wolle, müsse er auf die allgemeine Verfassung des menschlichen Geistes achten; er müsse den Standpunkt des sogenannten gemeinen Wählers respektieren. Ein Politiker müsse, ob es einem passe oder nicht, ein Spiegel sein. Er sollte nicht der Herold unpopulärer Wahrheiten sein, die - obwohl vielleicht im Interesse der Menschheit - von der Mehrheit der Wähler nicht als ihr ureigenstes Interesse betrachtet werden oder diesem sogar diametral entgegenstehen.
Ich bin davon überzeugt, dass die Bestimmung von Politik nicht darin bestehen kann, kurzfristige Wünsche zu erfüllen. Ein Politiker sollte versuchen, Menschen für seine Ideen zu gewinnen, auch wenn diese unpopulär sind. Politik heißt auch, die Wähler davon zu überzeugen, dass der Politiker manche Dinge besser erkennt und versteht als sie und dass sie ihn aus diesem Grunde wählen sollten. Auf diese Weise können Menschen bestimmte Probleme an den Politiker delegieren, die sie - aus vielerlei Gründen - nicht selbst übersehen können oder über die sie sich keine Gedanken machen wollen, mit denen sich aber jemand in ihrem Namen beschäftigen muss.
Sicher: Alle Verführer der Massen, alle potenziellen Tyrannen oder Fanatiker haben dieses Argument in ihrem Sinne benutzt; die Kommunisten haben genau das gemacht, als sie sich zum visionärsten Teil der Bevölkerung erklärten und sich kraft ihrer angeblichen Erleuchtung das Recht anmaßten, nach Willkür zu herrschen. Die wahre Kunst der Politik ist die Kunst, Menschen für eine gute Sache zu gewinnen - auch wenn der Weg zu diesem Ziel mit ihren aktuellen Interessen kollidiert. Es gibt viele Wege, sicherzustellen, dass es sich bei dem Ziel wirklich um eine gute Sache handelt. Dadurch kann verhindert werden, dass das Vertrauen der Bürger für eine Lüge missbraucht wird und alles im Desaster endet.
Es darf nicht verschwiegen werden, dass es Intellektuelle gibt, die eine besondere Begabung dafür haben, dieses Verbrechen zu begehen. Sie erheben ihren Intellekt über den aller anderen und sich selbst über alle anderen Menschen. Sie erzählen ihren Mitbürgern: Wenn ihr die Brillanz des angebotenen intellektuellen Projekts nicht versteht, dann liegt das an eurem stumpfen Geist und daran, dass ihr noch nicht die Höhen erreicht habt, auf denen sich die Vordenker bewegen. Nach allem, was wir im 20. Jahrhundert durchgemacht haben, ist es nicht schwer, zu erkennen, wie gefährlich diese Haltung sein kann. Es sei daran erinnert, wie viele Intellektuelle dabei geholfen haben, die Diktaturen der Moderne zu errichten.
Ein guter Politiker sollte fähig sein, zu erklären, ohne zu verführen; er sollte demütig nach der Wahrheit über unsere Welt suchen, ohne zu behaupten, qua Amt in ihrem Besitz zu sein. Er sollte den Menschen ihre guten Eigenschaften ins Bewusstsein rufen, einschließlich eines Gefühls für die Werte und Interessen jenseits der eigenen. Und das alles ohne einen Anflug von Überlegenheit und ohne seinen Mitmenschen irgendetwas aufzuzwingen. Er sollte sich nicht dem Diktat der öffentlichen Stimmung oder der Massenmedien beugen, zugleich aber jederzeit offen bleiben für eine Überprüfung seiner Handlungen.
In der Sphäre einer solchen Politik sollten Intellektuelle auf zwei Arten Präsenz zeigen. Sie können - ohne es beschämend oder erniedrigend zu finden - ein politisches Amt annehmen und ihre Position dazu nutzen, das in ihren Augen Richtige zu tun. Oder sie können diejenigen sein, die den Mächtigen einen Spiegel vorhalten und sie daran erinnern, dass sie der guten Sache dienen sollten. Vor allem aber sollten Intellektuelle mit ihren feinen Worten nicht böse Taten beschönigen, wie das so viele von ihnen in der Politik der letzten Jahrzehnte getan haben.

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