Donnerstag, 30. November 2023

7. Oktober ist nicht der Beginn der Geschichte der Gewalt

Philosophin Judith Butler spricht im Interview mit der Frankfurter Rundschau über moralische Argumente in Bezug auf den Nahost-Konflikt und warum die Hamas bestraft und Israels Krieg verurteilt werden muss.

Judith Butler ist weltweit eine der bekanntesten Persönlichkeiten im Feld der Philosophie. In Deutschland gibt es eine breite Anhängerschaft besonders unter Studierenden, das belegt der Zuspruch bei ihren Auftritten an deutschen Universitäten. Aufgrund ihrer Haltung zu Israel ist Judith Butler aber in den letzten Jahren in die Kritik geraten, besonders in Deutschland. Gestern erklärte sie daher in einigen kurzen Statements für die Wochenzeitung „Die Zeit“, dass sie Angst habe, sich in Deutschland öffentlich zu zeigen, da sie massiv bedroht werde.

Sie ist Mitunterzeichnerin des Briefes „Philosophy for Palestine“, der aufgrund einer mangelnden Inblicknahme des Terroranschlags der Hamas am 7. Oktober kritisiert worden ist. Unter anderem kritisierte die Politologin Sheyla Benhabib den offenen Brief in scharfer Form. Wir hatten die Gelegenheit, Judith Butler einige Fragen zu stellen, um ihre Position, die genau wie die der anderen Interviewpartner:innen nicht die Position der Frankfurter Rundschau wiedergibt, darzustellen, so dass die Leserschaft sich selbst ein Urteil über den komplexen Sachverhalt bilden kann.

Philosophin Judith Butler im Interview – „7. Oktober ist nicht der Beginn der Geschichte der Gewalt“

Professor Butler, wie bewerten Sie den Terrorangriff der Hamas auf Israel und die israelische Reaktion im Gazastreifen?

Ein Grund, warum es für mich schwierig ist, der deutschen Presse Interviews zu geben, ist, dass es nicht viele gemeinsame Annahmen zwischen dem deutschen Diskurs und dem Rest der internationalen Gemeinschaft gibt. Viele Deutsche reagieren reflexartig, indem sie Israel bedingungslos unterstützen, aus Angst, dass jede Kritik ein Zeichen von Antisemitismus sein könnte. Weil es wichtig ist, seine Unterstützung für Israel zu signalisieren, stellt man sich die Frage: Wer ist schuld? Und dann muss die Antwort lauten: die eine oder die andere Partei. Wenn man sich für die eine Seite entscheidet, ist man ein Antisemit, wenn man sich für die andere Seite entscheidet, hat man sich erfolgreich gegen den Vorwurf des Antisemitismus gewehrt.

Bei allem Respekt möchte ich also darauf hinweisen, dass wir, wenn wir fragen, wer die Schuld trägt, alle Schäden und alle Akteure benennen müssen, auch wenn die Schäden nicht alle gleich sind, auch wenn nicht alle Akteure die gleiche Macht ausüben.

Das heißt?

Die an der israelischen Zivilbevölkerung begangenen Gräueltaten waren entsetzlich und können weder hingenommen noch rationalisiert werden. Aber wenn wir uns für die Gründe interessieren, warum es zu dieser Gewalt kam, sollten wir in der Lage sein, die Geschichte zu rekonstruieren, um sie besser zu verstehen. Historisch zu verstehen, warum es zu dieser Gewalt kam, ist nicht gleichbedeutend mit der Billigung von Gewalt. Eine Geschichte darzustellen und ein moralisches Urteil zu fällen, ist nicht dasselbe.

Wenn wir aber sagen, dass wir nur ein moralisches Urteil wollen und dass die Geschichte in dieser Angelegenheit nicht wichtig ist, dann haben wir eine Entscheidung getroffen, unsere Welt und ihre Entstehung nicht zu verstehen. Das ist eine gefährliche Entscheidung, wenn Unwissenheit und Slogans an die Stelle von historischen Untersuchungen und klaren moralischen Argumenten treten. So wie Sie diese Frage stellen, beginnt das Ereignis am 7. Oktober. Aber der 7. Oktober ist nicht der Beginn der Geschichte der Gewalt.

Sondern?

Wenn wir nur daran interessiert sind, zu klären, wer für die Anschläge am 7. Oktober verantwortlich ist, dann beginnen wir die Geschichte an diesem Tag. Wenn wir aber verstehen wollen, wie es zu diesen Anschlägen kam, dann müssen wir viel früher mit der historischen Erklärung beginnen. In der Tat müssten wir die letzten 75 Jahre verstehen, die Nakba, den Verrat an den Palästinensern durch das Oslo-Abkommen, die Geschichte der Bombardierungen des Gazastreifens und die Gewalt der Siedler gegen palästinensische Dörfer. Jetzt, wo ich diese Liste anbiete, könnte man sagen: Siehst du, Butler rechtfertigt die Gewalt, aber nein, ich versuche, eine Geschichte zu kontextualisieren, die nicht am 7. Oktober beginnt. Wenn wir wissen wollen, wer für den 7. Oktober verantwortlich ist, dann nennen wir die Hamas.

Wenn wir wissen wollen, was die Gewalt in der Region reproduziert, um der Gewalt endgültig Einhalt zu gebieten, dann müssen wir mit den Historikern zusammenarbeiten, um die selbsternannte Kolonisierung dieser Länder durch die politischen Zionisten, die Bedingungen, unter denen der Staat Israel gegründet wurde, und die Geschichte der Enteignung, Entrechtung, Inhaftierung, Belagerung und Bombardierung zu verstehen. Wenn wir Frieden für die Region und eine Zukunft anstreben, in der alle Bewohner des Landes unter Bedingungen der Gleichheit und Freiheit leben, dann müssen wir gemeinsam neu darüber nachdenken, wie sich Staatsgebilde im Laufe der Zeit verändern können und sollten.

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