Samstag, 10. März 2012

Spanische Krise


antonio orejudo                Im Februar 2006 beschloss ich, bei mir daheim zu renovieren. Am verabredeten Tag wartete ich auf die Handwerker, bevor ich mich auf den Weg zur Uni machte: zwei Maurer, zwei Elektriker, ein Klempner. Punkt acht Uhr kamen sie angefahren: die Maurer in einem Mercedes, die Elektriker in einem BMW, der Klempner in einem Audi 5. Beim Anblick dieser Prunkkarossen auf dem Parkplatz neben meinem armseligen Citroën C5 dämmerte mir, dass in meinem Land etwas falsch lief. Diese Arbeiter waren keine Ausnahmen. Viele meiner Bekannten, die zu studieren aufgehört hatten, um Geld zu verdienen, oft im Bausektor, pflegten einen aufwendigeren Lifestyle als ich, fuhren Autos der gehobenen Klasse, hatten schöne Häuser gekauft, und die intellektuelleren unter ihnen reisten jährlich ins Ausland. Nie hörte man die Sprache meiner Landsleute auf Flughäfen der ganzen Welt so häufig wie damals vor der Finanzkrise, speziell auf denen in London und New York.
Der Wohlstand als Fata Morgana

In den siebziger Jahren, dem Jahrzehnt meiner Jugend, waren Ferien in einer Wohnung am Meer ein Luxus für Mittelklassefamilien. Wie konnte ein Land, dessen Arbeitslosigkeit sich noch in den Achtzigern auf 20 Prozent belief und das Hypothekardarlehen zu Zinsen von 15 Prozent vergab, von Mitte der Neunziger bis Anfang des neuen Jahrtausends einen solchen Wohlstand erreichen? Spanien, traditionell ein Auswandererland, war auf einmal überschwemmt von legalen und illegalen Einwanderern. Was war passiert? Woher kam das spanische Wunder? Waren wir, nach vierzig Jahren Militärdiktatur, endlich ein politisch stabiles und wirtschaftlich effizientes Land geworden?

Offenbar nicht. Der Wohlstand der letzten zwanzig Jahre ist eine Fata Morgana gewesen, den EU-Strukturgeldern zu verdanken und der Immobilienblase, die – ein Kollateralschaden – grosse Teile unserer Küste verschandelt hat. Jeder, der tausend Euro im Monat verdiente, bekam einen Kredit für den Autokauf oder eine Hypothek für Wohneigentum, so unsicher sein Job auch war. Als die Blase platzte, verloren all jene Maurer, Elektriker und Klempner, all jene Bekannten von mir, die, statt weiterzustudieren, ins Geschäft eingestiegen waren, ihre Stellen. Die Raten für den Mercedes oder den BMW und die Hypothek fürs Haus freilich blieben ihnen.

Seit ein paar Monaten sind die Zwangsräumungen derart häufig geworden, dass sich ein Verein gegründet hat, der die Räumungen per Twitter durchgibt, damit Bürger vor Ort dagegen protestieren können. Etwas Gutes immerhin hat diese Finanzkrise gebracht: wachsendes soziales Bewusstsein und wiedererwachendes politisches Engagement. Junge Leute, die während des Booms jedes Interesse an Politik verloren hatten, sind plötzlich empört auf die Strasse gegangen und haben öffentlich Plätze besetzt, nicht um das Unmögliche zu fordern wie im Mai 1968 ihre Grosseltern, sondern das Mögliche: einen menschlicheren Kapitalismus, eine transparentere Demokratie.

Denn schuld an der Krise sind nicht Faulheit, Missmanagement und Korruption der südlichen, PIGS genannten Länder. Die Welt steht nicht kopf, weil Maurer Mercedes fahren, sondern wegen der Gier der Banker und der Inkompetenz einer Politik, welche den Finanzmarkt zu regulieren unterliess. Aber natürlich verhält sich das Krisen-Virus nach erfolgter Ansteckung je nach Land unterschiedlich. In Spanien vernichtet es die Kaufkraft und zerstört das Prestige unserer Demokratie sowie vor allem unserer Politiker. Sie waren es nämlich, die über ihre Verhältnisse lebten – und über unsere. Jetzt, wo das Geld knapp ist, kommen Fälle von Vergeudung und Korruption an den Tag, die unter anderen Umständen vielleicht weniger aufgefallen wären: Autobahnen ohne Autos; Flughäfen, von denen keine Flüge starten; Messehallen, Stadien und andere grössenwahnsinnige Anlagen, die unbenutzt verrotten.

Hinter jedem dieser Fälle von Verschwendung steckt ein korrupter Politiker. Und hinter jedem korrupten Politiker taucht immer das undurchsichtige System der Parteienfinanzierung auf. Ein seit längerem ans Licht gekommener Bestechungsskandal – die sogenannte Gürtel-Affäre (ihre Bezeichnung leitet sich vom Drahtzieher Francisco Correa ab, dessen Nachname so viel wie «Riemen» oder eben «Gürtel» bedeutet) – ist unlängst dem Partido Popular (PP) ins Gesicht geknallt, der momentan Regierungspartei ist. Noch ist die Sache vor Gericht, doch die Bevölkerung hat auch das Vertrauen in die Justiz verloren. Francisco Camps, einer der bekanntesten PP-Politiker, wurde soeben freigesprochen, obwohl ganz Spanien unterdessen weiss, was er mit dem Chef der Gürtel-Affäre an Vertraulichkeiten ausgetauscht hat. Und nicht nur das. Baltasar Garzón, jener Untersuchungsrichter, der Ermittlungen bezüglich der regelwidrigen PP-Finanzierung und der Verstrickungen dieser Partei in die Gürtel-Affäre wagte, hat gerade einen Prozess verloren, der viel Argwohn weckt, weil die Richter, die das Urteil fällten, mehr Interesse daran zu haben schienen, einen unbequemen Kollegen zu erledigen, als für Gerechtigkeit zu sorgen.
Sogar das Königshaus

Und als wäre das alles nicht genug, wurde durch dunkle Geschäfte eines Schwiegersohns von König Juan Carlos auch die bis anhin vergleichsweise prestigeträchtige Monarchie in den Dreck gezogen. Das Königshaus sah sich in der Folge gezwungen, seine Finanzen offenzulegen.

Wir sehen am Fernseher Griechen, die für Gratissuppe anstehen, oder Italiener, die ihre Wohnungen nicht mehr heizen können, und erstmals seit der Nachkriegszeit bekommen wir Spanier Angst. Echte Angst vor der Armut, diesem Gespenst, von dem wir glaubten, es sei aus unserem Leben verschwunden. Unsicherheit und Angst regieren die Gesellschaft – beides unentbehrliche Werkzeuge zur Kontrolle der Massen in Zeiten wie diesen, wenn Revolution oder besser Konterrevolution in der Luft liegt. Sicher ist allein, dass die Krise selbst sich verändert hat: In Spanien entwickelte sie sich von einer wirtschaftlichen zu einer politischen und gesellschaftlichen Krise. Nachdem sie Jobs, Reichtum und Arbeitsrechte zugrunde gerichtet hat, korrodiert sie jetzt auch das Netz der staatlichen Institutionen. Die Hintertüre – jene Tür, durch welche der Populismus sich einzuschleichen pflegt – ist nur noch angelehnt.

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