Donnerstag, 21. Juli 2011

Plutokratie und Krise

fritz stern        Was verstehen Sie unter einem gezähmten Kapitalismus? Die mühevoll erkämpften Errungenschaften des 20. Jahrhunderts?
Über die man am Ende des 19. Jahrhunderts bereits diskutiert hat: Ein Staat mit einer starken Staatsverantwortung für das, was man heute ein soziales Netz oder soziale Fürsorge nennt. Kurz: der Wohlfahrtsstaat.
Haben wir diese Errungenschaften des 19. und 20 Jahrhunderts zu schnell vergessen?
Wir haben so vieles allzu schnell vergessen. Ich bin tief besorgt darüber, dass die Europäer bereits vergessen zu haben scheinen, was Europa für eine Errungenschaft ist. Speziell in den vergangenen Jahrzehnten. Auch scheint man inzwischen das Elend der Menschen ohne den Wohlfahrtsstaat vergessen zu haben.
Europa steckt in einer tiefen Krise. Fürchten Sie soziale Revolten als Folge der Krise?
Es ist nicht das erste, das ich anzumelden hätte. In Europa ist eine Misere von politischer Führung da, wie sie seit Jahrzehnten nicht bestand. Dass in einem Moment der tiefen Krise, die mit dem Euro zu tun hat, wenngleich nicht nur, solch eine schwache Führung vorzufinden ist, ist ungeheuer Besorgnis erregend.
Wie gefährlich ist die Euro-Krise für Europa? Wird es einen karolingischen Euro-Raum um Frankreich, die Benelux-Länder und Deutschland geben und die Südländer erhalten ihre eigenen Währungen?
Das würde einen immensen Schaden anrichten. Es gäbe schon einen Domino-Effekt, wenn nur Griechenland ausscheiden würde. Dann würde nicht nur der Euro, sondern ganz Europa in eine tiefe Krise hineinschlittern. Ich verstehe nicht, warum die Politiker jener Länder, die Europa früher so gefördert haben, namentlich Frankreich und Deutschland, sich nicht der Gefahren bewusst werden. Sie müssten ihrer Bevölkerung klarmachen: Wir müssen Europa erhalten, schon aus nationalem Interesse. Wo sind diese Reden zu hören? All das führt zu einer allgemeinen Verunsicherung. Europa hatte eine gute Führung mit Jacques Delors, bei Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing und meist auch noch Kohl und Mitterand. Nun fehlt sie weitgehend.
Der Wirtschaftsschwerpunkt verschiebt sich mit dramatischem Tempo nach Asien. Geht über dem alten Kontinent die Sonne unter?
Solche Spekulationen verstören mich. Der Westen ist ja schon oft untergegangen, wie Spengler vorhergesagt hat. Ich meine es ironisch, er ist ja noch nicht untergegangen. Dass Europa heute nicht die Rolle spielt, die es im 19. Jahrhundert gespielt hat, die es verspielt hat im Ersten Weltkrieg, liegt an dieser Ur-Katastrophe. Man muss den Ersten und Zweiten Weltkrieg stets im Sinn haben, wenn man sich um Europa Sorgen mach, wenn man sich fragt, was müssen wir jetzt tun, um das Europa, das sich nach 1945 entwickelt hat, zu erhalten und zu verbessern. Dazu braucht man ein historisches Gedächtnis und ein Gefühl der Verantwortung. Das scheint mir im Augenblick etwas unterentwickelt zu sein. Noch mehr Sorgen mache ich mir um Amerika. Die Verschiebung, von der wir sprechen, betrifft dieses Land auch. Und wie.
Die Schere zwischen Arm und Reich geht bei uns am weitesten auseinander. Es ist verheerend. Das ist nicht nur ein moralischer Bruch. Wir leben in den USA in einer christlich verbrämten Plutokratie. Am Anfang des 18. Jahrhunderts, zu Beginn der Demokratie, gab es die Vorstellung und zugleich Befürchtung, dass die Armen die Reichen entmachten könnten. Aber nun haben es die Reichen in den USA verstanden, mit Spenden und Propaganda die Menschen zu verführen, die Interessen der Reichen und Armen gleichzusetzen, was sie aber nicht sind. Bezogen auf die Frage der sozialen Gerechtigkeit als auch die Funktionsfähigkeit der Demokratie ist dies ein entsetzlicher Abstieg.

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