Daniele Dell'Agli
Joe Biden und Kamala Harris haben sich in den ersten, weltweit beachteten Reden nach der gewonnenen Wahl große Mühe gegeben, mit einer Stimme zu sprechen, und doch hat Biden eine "republikanische", Harris eine "demokratische" Rede gehalten. Gemeinsam haben sie das andere, das noch nicht vollends von Zynikern, Politgangstern und Oligarchen vergiftete Amerika beschworen, doch bei Biden war es das Land der "opportunities", bei Harris das der "possibilities". Die Spaltung des Landes verläuft mitten durch die neue Führungsriege.
Die Unterscheidung mag auf den ersten Blick spitzfindig erscheinen, doch sie ist bezeichnend. Eine Opportunität ist eine günstige Gelegenheit oder zumindest eine, die man sich nicht entgehen lassen sollte; die zwar nicht per se gegeben ist, sich aber jederzeit einstellen kann, und zwar als etwas, das man nicht selbst herstellen, sondern, wenn es da ist, nur ergreifen kann - ursprünglich übrigens wenn der Wind günstig genug wehte, das Schiff in den Hafen zu treiben (ob portum). Also letztlich die neoliberale Aufforderung, jede sich bietende Situation individuell zum eigenen Vorteil zu nutzen, ohne Rücksicht auf Kollateralschäden für andere - woraus sich die sprichwörtliche Prinzipienlosigkeit des Opportunisten ableitet.
Genau diese Einstellung aber widerspricht dem während der Biden-Rede wiederholt evozierten Geist des Kommunitarismus, eines "gemeinsam sind wir stark-Amerika". Mit ungleich verteilten Chancen fördert man keine Gemeinschaftsgefühle, sondern nur Neid, Missgunst und den Kampf jeder gegen jeden, der etwa die Latinos in den USA für Propaganda gegen migrationsfreundliche Politik empfänglich gemacht hat.
Das Opportunitätsdenken widerspricht aber ebenso sehr dem Amerika der "possibilities", für das Kamala Harris wirbt. Möglichkeiten im possibilistischen Sinne müssen im Unterschied zu Gelegenheiten intentional verfolgt und programmatisch entfaltet werden, sie locken nicht als Gesetzeslücke im Steuerrecht oder Lockerung von Umweltauflagen. Sie müssen nicht selten gegen Widerstände wahrgenommen und erkämpft werden, demgegenüber man Gelegenheiten nur ergreift, indem man sich reaktiv dem Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt anpasst. Hierbei geht es nicht darum, etwas "aus sich" zu machen, Potenziale zu realisieren, um die Zukunft gestaltungsoffen zu halten: Chancen (vom französisch cadence, dem Glücksfall beim Würfelspiel) muss man vor allem abwarten. Dabei fordert der Stand-by-Opportunismus eine energiezehrende Alarmbereitschaft, um die Gunst der Stunde nicht zu verpassen, die wiederum für das Experimentieren von Möglichkeiten weder Muße noch Aufmerksamkeit übrig lässt.
Natürlich sind Situationen denkbar, die diese Gegenüberstellung unterlaufen, in denen etwa Chancen in Möglichkeiten verwandelt werden; das aber setzt Rahmenbedingungen und Gesetze voraus, die die Republikaner seit je strikt ablehnen: Die gottgegeben willkürliche und ungerechte Verteilung der "opportunities" soll kein Staat paternalistisch ausgleichen.
Kamala Harris wiederum vermeidet den Superlativ "unbegrenzt", der notorisch den amerikanischen "possibilities" angehängt wird; sie weiß, dass diese Kombination spätestens seit Trump weltweit nur noch mit grenzenloser Habgier in Tateinheit mit präsidialem Hass und Manipulationswillen assoziiert wird. Sie möchte das Interim der Plutokratie wieder durch die traditionell elitenkonformere Meritokratie ablösen, doch deren gnadenloses, schon pädagogisch verankertes Leistungsdiktat (die "ambitionierten Träume" der Vize-Präsidentin) hat sich mentalitätspyschologisch als treibende Kraft der planetarisch ruinösen Wachstumsdynamik erwiesen und wird jeden Versuch einer ökologischen und sozialen Neuausrichtung der Politik vereiteln.
Vielleicht ist es von einem 77-Jährigen zuviel verlangt, im Namen von "possibilities" an etwas zu appellieren, das er lebensgeschichtlich hinter sich hat. Wie aber das "demokratische" Amerika der selbstwirksam zu realisierenden Möglichkeiten mit dem "republikanischen" Amerika der schicksalhaft angenommenen Chancen; wie eine Synergie von Possibilismus und Opportunismus jenseits aller manifest ideologischen Gräben das zerrissene "soziale Band" (Toqueville) der zwangsvereinigten Staaten wieder knüpfen soll, ist derzeit nicht auszudenken. Jedenfalls nicht ohne eine radikale Verfassungsreform, die Republikaner und gemäßigte Demokraten gemeinsam zu verhindern wissen werden. Darin immerhin sind sie sich einig.
Von 330 Millionen US-Amerikanern sind nur zwei Drittel als wahlberechtigt registriert, davon haben wiederum nur zwei Drittel ihre Stimme abgegeben. Von rund 110 Millionen potentiellen Wählern haben wir demnach nichts erfahren. Vielleicht sind sie, die es verschmäht haben, sich zur Verschiebemasse von Machtspielen instrumentalisieren zu lassen, der eigentliche Souverän?
Taz, 11.11.2020
Donnerstag, 19. November 2020
USA: Neue Politiker - neue Politik?
Mittwoch, 18. November 2020
Oligarchie USA
Thekla Dannenberg: Politische Elite in den USA: Die Freiheit der wenigen. Die Autorinnen Nancy MacLean und Jane Mayer rekonstruieren, wie einige Superreiche unbeobachtet die radikale Rechte in Stellung brachten. In: taz, 19.11.2020
Zwei Milliardäre und ein gutes Dutzend Multimillionäre hat Donald Trump in seinem Kabinett versammelt. Sie steigen aus dem Klimaschutz aus, wollen die Steuern für Reiche senken, Schulen privatisieren, und nach Obama-Care auch die Rentenversicherung abschaffen. Diese Upperclass-Desperados betreiben keine populistische Politik, sondern eine eigennützige.
Gleich zwei Autorinnen widmen sich in heftig diskutierten Büchern den Zirkeln radikaler Superreicher, die mit ihrem destruktiven Libertarismus den Boden für Trumps Regierung bereitet haben: Während Jane Mayer als langjährige Reporterin des New Yorker dem Geld nachgeht, folgt die Historikerin Nancy MacLean den historischen Spuren nach Virginia.
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MacLean stieß bei Forschungen zur Bürgerrechtsbewegung zufällig auf den vergessenen Nachlass des 2013 verstorbenen libertären Ökonomen James McGill Buchanan, der für seine Public-Choice-Theorie 1986 den Wirtschaftsnobelpreis erhalten hatte, doch die bête noire des demokratischen Denkens blieb. Kistenweise hat MacLean Schriften und Memoranden gesichtet, mit denen Buchanan den Aufbau einer „Gegen-Intelligenzija“ forcierte.
MacLeans Buch „Democracy in Chains“ zeichnet von Buchanan das Bild eines politischen Strategen und Theoretikers, dessen Denken tief im oligarchischen Süden wurzelte und dessen akademisch nobilitierte Demokratieverachtung heute den an die Macht strebenden Milliardären die intellektuelle Munition liefert.
Der 1919 in Tennessee geborene Buchanan begann seine akademische Karriere in den fünfziger Jahren in Charlottesville an der University of Virginia, wo sich die weiße Oberschicht mit aller Macht dagegen sperrte, die Segregation an den Schulen aufzuheben. Virginia gab viel auf seine Vornehmheit, die Gentlemen hier schickten nicht wie in Mississippi zündelnde Reiterhorden los, sie hebelten die schwarzen Bürgerrechtler formell aus: Sie vergaben Voucher, damit weiße Familien auf Staatskosten ihre Kinder in Privatschulen geben konnten, und ließen die staatlichen Schulen verkommen.
Keine Gesellschaft und kein politisches Wir
Hier gründete Buchanan sein Thomas Jefferson Center zur Verteidigung der individuellen Freiheit. Doch wie MacLean zeigt, zielte in Virginia die Rhetorik der Selbstbestimmung stets gegen Washingtons Einmischung und den Zwang, die Bürgerrechte aller anzuerkennen, Steuern zu zahlen, Gewerkschaften zu erlauben und Arme wählen zu lassen. Es ist die Freiheit der wenigen vor den vielen.
MacLean führt auch Buchanans Public-Choice-Theorie auf dieses Südstaaten-Denken zurück. In seinem Buch „The Calculus of Consent“ erklärt der Ökonom in rationalistischer Manier, dass auch politisches Handeln nur von Gewinnmaximierung geleitet sei: Politiker wollen Stimmen, Wähler ihren Vorteil, und Mehrheiten formieren sich, um größtmöglichen Profit aus ihrem Votum zu schlagen. Rent-seeking nannte Buchanan das.
Es ist ein toxisches Denken, das keine Überzeugungen kennt, keine Gesellschaft und kein politisches Wir. Es nimmt der Mehrheit jede moralische Legitimation. Für Buchanan waren nicht die demokratischen Länder die freiesten, sondern Despotien wie Chile oder Singapur.
MacLean zeichnet kein ausgewogenes Porträt von Buchanan. Ihr wütendes Buch ist Revision und Anklage eines Denkers, der nicht nur der radikalen Rechten den Weg in den Mainstream ebnete, sondern auch an der Demontage der demokratischen Idee mitwirkte.
Das Verschwörerische jedoch, das im Untertitel anklingt, geht nicht auf die Autorin zurück, sondern auf Buchanan. Immer wieder hielt er sein weitreichendes politisches und ökonomisches Netzwerk zu Konspiration und Geheimhaltung an. Die Mont-Pèlerin-Gesellschaft und die Think Tanks der Brüder Koch teilen mit ihm eine recht illiberale Vorliebe für Lenins Strategie der Klandestinität: Kader bilden. Lieber weniger, aber besser.
Dieses Netzwerk aus Milliardären, Libertären und extrem Rechten hat die Reporterin Jane Mayer mit ihrer einschlägigen Recherche „Dark Money“ von 2016 ans Licht gezogen. Souverän rekonstruiert sie, wie die Damen und Herren Philanthropen ein ganzes Konglomerat aus Think Tanks und Lobbygruppen gründeten, Medien und Wahlkämpfe finanzierten und die Tea Party lancierten.
Unter den Hedgefonds-Manager und Ölmagnaten ragen die notorischen Brüder Charles und David Koch aus Kansas hervor, die zusammen das größte Vermögen der Welt besitzen. Nach den Vorstellungen dieser Libertären muss die Regierung nicht schlanker werden, sondern abgeschafft. Einem Nachtwächter gleich soll sie nur noch dafür da sein, Personen und Eigentum schützen.
Einen Großteil ihres Geldes haben die Koch-Brüder von ihrem Vater geerbt, der in den dreißiger Jahren mit seinen Raffinerien ein Vermögen machte, vor allem in der Sowjetunion und in Nazi-Deutschland. Mayer schildert die Brüder als hart, kalt und extrem zielstrebig: Für ihren um das Cato Institute herum aufgebauten Agitprop-Verband arbeiten mehr Menschen als für die Republikanische Partei. Sie haben ihren Schützling Mike Pence zum Vizepräsidenten gemacht und Mike Pompeo zum CIA-Chef.
Zu den Finanziers der radikalen Rechten gehören auch der inzwischen verstorbene Richard Mellon Scaife mit seinem American Enterprise Institute, der Hedgefonds-Manager Robert Mercer oder die Erbin Betsy DeVos. Die John Olin Foundation stiftete Professuren, um die neue Disziplin „Law and Economics“ durchzusetzen, dank der Juristen die wirtschaftlichen Folgen ihrer Urteile zu berücksichtigen lernen. Sie lädt auch amtierende Richter zur Umerziehung in exklusive Sommer-Camps.
Der größte Erfolg der libertären Milliardäre, meint Mayer, war die Entscheidung des Supreme Courts im Fall „Citizens United“. Seitdem gelten Geldspenden als freie Meinungsäußerung und dürfen unbegrenzt fließen. Bitter resümiert Mayer, dass dieses Urteil nicht wie befürchtet dazu führte, dass Konzerne nach Belieben spenden, sondern die radikalen Superreichen. Sie sind die „politischen Torwächter des Landes“ geworden.
Jane Mayer: „Dark Money. The Hidden History of the Billionaires Behind
the Rise of the Radical Right“. Achor Books, New York 2016, 576 S., 9,80
Euro.
Nancy MacLean: „Democracy in chains. The Deep History of
the Radical Right‘s Stealth Plan for America“. Scribe Publications,
London 2017, 334 S., 9,50 Euro.
Freitag, 16. Oktober 2020
Die Krisen der USA
J.Adam Tooze im Interview
„Die Bedingungen für einen kalten Bürgerkrieg existieren bereits“
Der amerikanische Historiker J. Adam Tooze über die wirtschaftliche Entwicklung während der Corona-Krise, die Polarisierung in den USA und peinliche Fehler der Europäer.
Professor Tooze, wird diese Wirtschaftskrise, die wir durch die Pandemie erleben, noch zum Desaster werden?
Hängt ganz davon ab, wo man gerade lebt. Im April befürchtete man in Europa ja bis in die Chefetagen hinein, dass es zu einer politischen und ökonomischen Katastrophe kommen könnte. Die gesundheitspolitische Lage war schwierig, Europa zutiefst zerstritten. Die Lage drehte sich im Sommer zum Besseren. Es ist natürlich noch offen, ob der EU-Gipfel im Sommer die drängendsten Probleme gelöst hat, zumindest war er ein positiver Schritt.
Und wie ist es in den USA?
Das ist der Gegenpart dazu. Gut möglich, dass die kumulierenden Krisen hier in den USA sich bis zum Ende des Jahres zu einer profunden Staatskrise auswachsen werden. Die Pandemie ist dafür nicht die alleinige Ursache, doch Covid-19 ist ein Schock, der alles andere potenziert und multipliziert und den Brennstoff für eine zunehmend brenzliger werdende Lage in Amerika liefert. Es ist nicht abzusehen, wie es sich nach dem 3. November entwickeln wird. Je näher der Wahltag kommt, desto angespannter ist die Stimmung. Ein Stützungspaket für die Wirtschaft steht noch aus.
Im April herrschte reine Panik, warum haben sich die ökonomischen Horrorszenarien nicht erfüllt?
Es wurden alle wirtschaftspolitischen Mittel eingesetzt. Fiskal- und geldpolitische Maßnahmen in riesigem Ausmaß. Möglich wurde dies zweifellos durch die Bereitschaft der Zentralbanken, wie schon 2008, die Finanzmärkte zu stützen. Dass damit nicht alle ökonomischen Fragen gelöst werden können, liegt auf der Hand. Trotzdem ist diese Politik der Zentralbanken entscheidend, zumindest aber ausreichend, um diese Gefahr eines schweren Infarkts der Wirtschaft abzuwehren.
In Ihrem Buch „Crashed“ betonten Sie die wichtige Rolle der USA, die die Welt nach dem Finanzcrash 2008 aus dem Sumpf herausgezogen hat. Was ist zu erwarten, wenn die USA nun als Rettungsakteur ausfallen?
Die US-Notenbank, die Fed hat wie schon 2008 die Führung übernommen und sichergestellt, dass es im privaten Finanzmarktsystem nicht an Dollars gefehlt hat. Im Februar und März stieg der Dollar im Kurs extrem an, vor allem die Schwellenländer standen da unter einem extremen Finanzdruck. Und auch die Versorgung der europäischen Finanzinstitute mit Dollars wurde im März eng. In März erlebten wir selbst im Markt für amerikanische Staatspapiere gefährliche Turbulenzen. Diese Probleme wurden durch die Fed gelöst. Eine heftige Krise ist nach der Finanzkrise 2008, der Eurokrise von 2010, nun zum dritten Mal durch die Fed gelöst worden. Dieser Teil des amerikanischen Staatsapparates funktioniert bisher ohne störende Eingriffe vonseiten der Politik, und das trotz der ungeheuer gespaltenen Parteipolitik Amerikas.
Das könnte sich während des Wahlkampfs noch ändern.
Trump scheut vor nichts zurück. 2016 hat Trump im Wahlkampf die Fed zum Objekt seiner Polemik gemacht. Zuletzt im März hat er gegen Jerome Powell und die „Schwachköpfe“ in der Fed gewettert. Derzeit ist er zufrieden mit der Politik der Fed. Eher dürften sich einige in der US-Zentralbank den Kopf kratzen und die Zwickmühlen verfluchen, die sie dazu zwingen, angesichts der nationalen Notlage mit ihrer generösen Geldpolitik Trumps Wahlchancen zu befördern.
Wie massiv ist die Krise in den USA? Der Historiker Fritz Stern hielt schon vor zehn Jahren einen Bürgerkrieg in den USA für möglich.
Angesichts der zunehmend Gewalttätigen in Amerika, angesichts der auf den Straßen offen zur Schau getragenen Waffen der Rechten, der offenen Zusammenarbeit zwischen Polizei und weißen Militanten, kann man das nicht so ohne Weiteres ausschließen. Die Bedingungen für einen kalten Bürgerkrieg existieren bereits seit Jahrzehnten. Sie gehen auf die Ära der Bürgerrechtsbewegung zurück. Parteipolitisch ist die Polarisierung seit der Ära Clinton extrem. Die Gräben sind derart tief, dass heute die Chancen, dass ein Weißer und eine Schwarze heiraten, höher sind, als dass ein Wähler der Republikaner einen demokratischen Wähler heiraten würde. Das ist ein Indiz für die Tiefe der Krise. Es gibt keinen gesellschaftlichen Umgang mehr untereinander bei den beiden Teilen Amerikas.
In Wirtschaftskrisen werden US-Präsidenten in der Regel nicht wiedergewählt. Wie könnte es diesmal ausgehen?
Sie haben recht. Aber die Polarisierung geht mittlerweile so weit, dass selbst in der Einschätzung der Wirtschaftslage die Meinungen weit auseinandergehen und zwar auch bei Menschen, die selbst arbeitslos sind. Wenn man Bürger nach der wirtschaftlichen Lage fragt, muss man die Zusatzfrage stellen, welche politische Partei sie wählen. Es ist eine Realitätsspaltung, die vermuten lässt, dass die gewohnten Korrelationen zwischen Beschäftigungszahlen, Bruttosozialprodukt und Wahlausgang nicht mehr in der gleichen Weise tragfähig sein werden.
Worüber man sich einig sein kann, hier stimmen auch einige aus dem linken Lager zu, ist, dass Trump und mit ihm der Kongress bewiesen haben, dass man mit einer außergewöhnlich massiven defizitorientierten makroökonomischen Politik tatsächlich die US-Wirtschaft anheizen kann. Und wenn man das macht, schafft man eine Vollbeschäftigung. Das hatte vor allem für die diskriminierten Minderheiten in den USA eine positive Wirkung. Vor allem die schwarzen Männer finden nicht zuletzt Beschäftigung. Wenn man die Wirtschaft heißlaufen lässt, profitieren sie davon, wenngleich nicht in gleichem Maße wie andere. Die Republikaner haben bewiesen, dass man die Wirtschaft heißlaufen lassen kann, ohne dass es zu einem inflationären Kollaps kommt. Daraus sollten auch die Demokraten ihre Schlüsse ziehen. Man ist in der Vergangenheit gerade unter Bill Clinton und Barack Obama viel zu zaghaft gewesen beim Streben nach Vollbeschäftigung. Man darf aber nicht vergessen, dass die Republikaner zugleich eine knallharte Umverteilungspolitik von unten nach oben betrieben haben. Sie haben die Ungleichheit angeheizt, obwohl es durch die Wirtschaftspolitik kompensierende Effekte gibt.
Die Europäer warten auf einen Wechsel im Weißen Haus. Machen sich die Europäer etwas vor, wenn sie glauben, dass die USA ohne Trump vollkommen anders agieren?
Der 3. November wird für Europa ein entscheidendes Datum sein. Eine Regierung unter Joe Biden wird nicht ein solch unmöglicher Partner sein wie die Trump-Regierung es ist. Auch sie werden amerikanische Interessen verfolgen, aber nicht in der wirklich zum Teil absurden Form, wie es unter Trump betrieben worden ist. Sicherlich werden auch die Demokraten eine harte Linie gegenüber China fahren, aber das ist bei den Europäern nicht anders. Eine Biden-Regierung wird stärker das versuchen, was man auch Trump geraten hätte, es nämlich mit den Europäern gemeinsam zu machen. Aber es wird auch nach Trump zu verhandelnde Fragen geben in Sachen Handelspolitik, Datenschutz, Klimapolitik.
Welche Lehren sollte Europa aus der Trump-Zeit ziehen?
Europa muss sich auch den Vorwurf gefallen lassen, und das ist durchaus peinlich, dass Amerikas Unzufriedenheit und Klagen gegenüber Europa erst da ernst genommen wurden, als Trump in seiner typischen Art gedroht hat, Ernst zu machen. Gegenüber Trump war man bereit, Konzessionen zu machen, die man Obama nicht eingeräumt hätte. Auch das sollte Europa eigentlich peinlich sein.
In Ihrem Buch „Crashed“ haben Sie bereits davon gesprochen, dass die massive Globalisierung zunächst an ihr Ende gekommen ist. Wird die Pandemie eine De-Globalisierung einleiten?
Eine Entkopplung der USA von Europa in Sachen Finanzwirtschaft fand nach 2008 statt. Was sich heute andeutet, ist eine selektive Entkopplung in Bezug auf China. Es ist unklar, wie lange Peking bereit sein wird, die Schläge einzustecken. Man vermutet, dass China auf den 3. November wartet und erst nächstes Jahr Entscheidungen treffen wird. Auch ohne die Wendung gegen China in den USA war aufgrund des Lohngefälles abzusehen, dass China zunehmend durch Niedriglohnländer wie Vietnam und Bangladesch als Produktionsstandort abgelöst wird. Es gibt also verschiedene Möglichkeiten, die nicht ein Ende der Globalisierung bedeuten, sondern eine neu organisierte Globalisierung.
Auch ohne China leben über drei Milliarden Menschen in Asien. Sehen Sie als Historiker eine massive Wohlstandsverschiebung Richtung Asien, die durch die Pandemie noch beschleunigt wird.
Sie wird eher bestätigt. Es ist kein Geheimnis, dass diese Gewichtsverschiebung stattfindet. Es entspricht auch den Tatsachen der globalen Demographie. Es ist nur ein Zurechtrücken, ein Zurückpendeln in dem Sinne, dass sich die ökonomischen Verhältnisse der Verteilung der Menschen anpassen – und das seit drei Jahrzehnten. Und dabei ist China führend. Man darf nicht vernachlässigen, dass andere Länder in Asien wie etwa Indien auf vielen Feldern bestimmend sein werden, was für die Klimapolitik gilt wie auch für die Entwicklung von Technik oder großen Märkten. Wir leben nicht mehr in einer G-7 oder G-20-Welt, sondern in einer G-30-Welt, in der große Staaten wie Malaysia oder im afrikanischen Bereich Nigeria oder Äthiopien, Riesenstaaten mit mehr Bevölkerung als die größten europäischen Staaten, für das nächste halbe Jahrhundert und damit die globalen Probleme eine erhebliche Rolle spielen. Als Historiker ist man mit einer Entwicklung konfrontiert, die eigentlich viel schneller hätte kommen müssen. Die Frage ist nicht, ob das stattfindet, sondern warum es so lange gedauert hat.
Wir erleben eine Neuordnung der Welt. Wo findet sich da Europa wieder?
Ich schwanke zwischen Frustration und Bewunderung. Es ist beklagenswert, wie gering das Gewicht der europäischen Politik in entscheidenden globalen Fragen ist, eben wegen der mangelnden Geschlossenheit Europas. Andererseits denke ich: Warum regen wir uns darüber auf? Europas Position ist im Grunde beneidenswert in vielerlei Hinsicht.
Bringt die Pandemie zugleich das Ende des Neoliberalismus, wie einige sagen?
Ob es ein Bruch mit dem Neoliberalismus ist, hängt davon ab, was man unter dem Neoliberalismus versteht. Wenn man unter ihm lediglich verstehen würde, dass Staatsausgaben reduziert werden, dann wäre diese Krise für den Neoliberalismus das Aus. Der real existierende Neoliberalismus beinhaltet seit den 70er Jahren jedoch eine Kombination aus Deregulierung und massiver Eingriffsfähigkeit des Staates, wann immer es zu Krisen kam. Man muss sich zunächst sehr grundsätzlich fragen, was dieser Neoliberalismus für eine Gesellschaftsform ist, welche Interessengruppen er stützt. Denn was wir in dieser Krise nicht gesehen haben, ist eine Herausforderung dieser Interessensgruppen, denen der Neoliberalismus dient. Im Grunde haben wir eine massiv interventionistische, aber zutiefst konservative Politik. Man stellt das Staatsbudget zur Verfügung, um die bestehende Struktur des Besitzes und Machtzentren in der Wirtschaft zu schützen. Die Eingriffe selbst stellen für mich keinen fundamentalen Bruch dar, sondern eine Kontinuität mit der Politik seit 2008. Es gibt jedoch eine Entzauberung, eine Desillusionierung, der Schleier ist weg, da man gesehen hat, wie der Neoliberalismus tatsächlich funktioniert. Die unverfrorene Behauptung, dass der Neoliberalismus ohne Staat funktionieren kann, lässt sich nicht weiter behaupten.
Interview: Michael Hesse, Frankfurter Rundschau 12.10.2020
Angstpolitik
Angstpolitik. Die Spaltung der USA
Richard Kreitner im Interview, in: taz, 3.10.2020
taz am wochenende: Machen wir ein Gedankenexperiment. Es ist das Jahr 2040, die Vereinigten Staaten von Amerika existieren nicht mehr. Wo würden Sie leben und wie würde das Land aussehen?
Richard Kreitner: Ich lebe in New York, ich mag die Stadt und die Menschen sehr. Wären die Vereinigten Staaten auseinandergebrochen, würde ich immer noch hier leben wollen. Vermutlich würden Kalifornien oder Texas die Union zuerst verlassen.
Warum?
Beide Staaten, auch deren Gouverneure und Mainstream-Politiker*innen, haben in den letzten Jahren mehr oder weniger laut über dieses Szenario nachgedacht. Die Geschichte zeigt, dass andere Staaten folgen, wenn einer seine Unabhängigkeit erklärt. Das haben wir aus dem Sezessionskrieg zwischen Nord- und Südstaaten von 1861 bis 1865 gelernt. Geografisch würde das Land wohl in mehrere regionale Nationen zerfallen und New York könnte eine nordöstliche Republik anführen. Ich bin kein Fan dieser Vorstellung. Im Endeffekt wäre das nur ein konfuser Prozess, um den Niedergang der Vereinigten Staaten zu verwalten.
Der Sezessionskrieg brachte die USA an den Rand der Auflösung. An welchem Punkt in der Geschichte war diese Gefahr ähnlich groß?
Zehn Jahre vor dem Sezessionskrieg hätte es beinahe einen ähnlichen Konflikt gegeben. Die Vereinigten Staaten expandierten in den Westen und die große Streitfrage war, ob die Sklaverei auch dort eingeführt werden sollte.
Was ist denn der historisch schwerwiegendste Faktor für die innere Instabilität der US-amerikanischen Union?
Besonders in der Anfangsphase der jungen Republik wirkte die Geografie des Landes destabilisierend. Nach der Revolution gegen Großbritannien, im späten 18. Jahrhundert, zogen Siedler auf die Westseite der Appalachen. Das Gebirge zieht sich im Osten der USA von Nord- nach Südosten. Um zu überleben, mussten diese Siedler Handel betreiben. Sie konnten ihre Waren aber nicht auf dem beschwerlichen Weg über die Berge schicken, an die östlichen Häfen wie New York. Also schickten sie ihre Waren den Mississippi runter, nach New Orleans. Allerdings war die Stadt damals nicht unter US-amerikanischer, sondern unter spanischer Kontrolle. Diese Leute standen also vor der Wahl, sich zum Osten zu bekennen, eine eigene Nation mit Treueschwur an Spanien zu gründen oder gleich ganz Teil von Spanien zu werden.
Wenn man in die Gegenwart schwenkt, auf die heutigen Konflikte und Diskurse in den USA, dann hat es den Anschein, als fände sich das Land erneut in einer Art Revolution wieder. Man könnte vielleicht sogar von einem diskursiven Kriegszustand sprechen.
Politik in den USA ist wie Bürgerkrieg mit anderen Mitteln. Manche Menschen sind bereit, auf noch schärfere Mittel als den Diskurs zurückzugreifen. Das ist beängstigend in einem Land, in dem es fast mehr Waffen als Einwohner*innen gibt. Linke und Rechte sprechen relativ locker über die Spaltung der USA. Nach den Wahlen 2016 meinten Bekannte von mir, dass sie gern ein eigenes Land gründen oder nach Kanada ziehen würden. Hinter den Rechten versammeln sich Verschwörungstheoretiker*innen, die schon den nächsten Bürgerkrieg kommen sehen. Solche Abspaltungsgedanken gibt es in den USA schon immer. Allerdings wirkt das politische System immer unfähiger, unsere inneren Streitereien abzufedern.
In seiner Wahlkampagne setzt Donald Trump auf Angst. Die Black-Lives-Matter-Proteste bezeichnet er als Terrorismus, China bedroht das wirtschaftliche Überleben der USA. Brauchen die Vereinigten Staaten die äußere und innere Bedrohung, um zusammenzuhalten?
Absolut. Es fing mit den Überfällen indigener Bewohner*innen auf die frühen Siedlungen an. Die Siedler*innen waren so verängstigt, dass sie sich zusammentaten, obwohl sie das nicht vorhatten. Das zieht sich bis heute durch. Die Angst hält das Land zusammen. Viel mehr als die Sprache, die Religion, Kultur oder die Geografie. Ständig wird irgendein Krieg ausgefochten, intern oder extern, kalt oder heiß, real oder metaphorisch, dauernd muss irgendein Feind bekämpft werden.
Ein konservativer Kommentator nannte die Sezession eine dumme Fantasie der Linken. Ihr Buch sei demnach nur ein Beweis für den linken Hass auf die Vereinigten Staaten.
Sobald sich Politiker*innen oder Intellektuelle, von welcher Seite auch immer, äußern, kommt gleich der Vorschlaghammer. All das sei festgefahren, links oder rechts. Ich bin nur ein Typ, der in seinem Kämmerlein ein Buch geschrieben hat. 2016, als ich die Idee zu dem Buch hatte, konnte ich natürlich nicht ahnen, dass wir heute eine Art Live-Action-Epilog dazu erleben würden.
Was wäre denn trotzdem ein triftiger Grund, die Union der Vereinigten Staaten aufzulösen?
Wir könnten so die Demokratie bewahren. Von den frühen Tagen der Verfassung bis heute sind sich viele Menschen einig, dass ein so großes Land nicht demokratisch regiert werden kann. 2016 gewannen die Demokraten die Präsidentschaftswahl mit drei Millionen Stimmen Vorsprung und trotzdem wurde Trump Präsident. Letztendlich bestimmt das Wahlmännerkollegium den*die Präsident*in. Wenn es dieses Jahr wieder so läuft wie 2016, könnte zum Beispiel ein Ultimatum zur Abschaffung dieses Kollegiums auf den Plan treten. Außerdem hat jeder Bundesstaat die gleiche Anzahl an Stimmen im Senat, obwohl zum Beispiel Kalifornien ungefähr 70 Mal so viele Einwohner*innen hat wie kleine Staaten wie Wyoming oder Rhode Island. Wo ist da die Balance? Ein weiteres Argument für eine Spaltung ist der Klimawandel. Wir haben zehn Jahre verloren, weil die USA völlig dysfunktional agieren. Anstatt nochmal zehn Jahre zu verlieren, wäre es besser, wenn die Staaten im liberalen Nordosten oder Kalifornien vorangehen.
Welche Wirkung hätte das denn auf die Bundespolitik?
In Kalifornien gelten strengere Regeln für Abgasemissionen von Autos. Aufgrund seiner Größe hat Kalifornien viel Gewicht bei der Bundesgesetzgebung. Wenn Kalifornien dieses Gewicht einsetzt, müssen sich andere Staaten diesen Regeln anpassen. Trump hat Kalifornien wegen seiner strengen Regeln verklagt, der Prozess steht noch aus. Wenn die Bundesregierung weiter progressive Vorstöße in den Bundesstaaten unterdrückt, werden sich mehr und mehr Menschen noch einmal überlegen, ob eine Loslösung von der Union nicht sinnvoller wäre. Aber wie gesagt, ich finde diese Vorstellung ganz und gar nicht gut.
Dennoch haben die Bundesstaaten Mittel an der Hand, um Widerstand zu signalisieren. Wie sehen die konkret aus?
Kalifornien könnte sich zum Beispiel langsam vortasten, ohne gleich komplett aus der Union auszutreten. Ein tragisches, aber interessantes Beispiel sind die großen Waldbrände dort. In solchen Fällen sind die Bundesstaaten sehr auf Hilfe von der Bundesregierung angewiesen und darin liegt ein wichtiger Beweggrund, nicht aus dem Staatenverbund auszutreten. Wie die New York Times kürzlich allerdings berichtete, wollte Trump diese offizielle Nothilfe für Kalifornien streichen, weil es nicht seine politische Basis ist. Wenn ein*e künftige*r republikanische*r Präsident*in ähnlich vorgeht, könnten Staaten wie Kalifornien zum Beispiel Steuereinnahmen zurückhalten, die an die Bundeskassen fließen. Demokratisch geführte Staaten zahlen mehr in diese Kassen ein als republikanisch geführte. Die nehmen mehr, als sie geben.
In ihrem Buch „Break It Up“ lesen Sie die Vorstellungen der USA gegen den Strich. Was wollen Sie im derzeitigen politischen Klima bei den Menschen auslösen?
Wir sprechen zu viel über Begriffe wie Nation oder Amerika. Letztendlich sind die Vereinigten Staaten eine Union einzelner Bundesstaaten, die schon seit langer Zeit schwächelt. Jeder Präsident spricht in der traditionellen Ansprache zur Lage der Union natürlich trotzdem davon, wie stark sie ist. Stattdessen steuern wir auf einen Bruch zu, auf eine Wahl, die möglicherweise angefochten werden wird, auf neue Gewalt auf den Straßen. Wir müssen also ganz bewusst und klar darüber diskutieren, ob die Union zusammenhalten soll oder nicht. Ansonsten schlafwandeln wir doch bloß in eine Katastrophe.
Die Spaltung der USA
Richard Herzinger
Kurz vor der US-Präsidentschaftswahl ist die Zukunft der Vereinigten Staaten von Amerika so ungewiss wie seit dem Sezessionskrieg von 1861 bis 1865 nicht mehr. Erhebliche Zweifel sind angebracht, ob die Wahl überhaupt regulär über die Bühne gehen kann und ob die unterlegene Seite das Ergebnis anerkennen wird. So extrem zugespitzt ist die politische und kulturelle Polarisierung des Landes, dass nach der Wahl mit massiven Ausbrüchen von Gewalt, wenn nicht mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen gerechnet werden muss.
Donald Trump bereitet diesem Szenario den Boden, indem er im Voraus erklärt, dass seine Wiederwahl nur durch einen gigantischen Betrug verhindert werden könne. Dass Trump sein Amt im Falle einer Niederlage freiwillig abgeben wird, erscheint unter diesen Vorzeichen immer unwahrscheinlicher. Seine angeblich überstandene Corona-Infektion lässt ihn in seinen eigenen wie in den Augen seiner Anhänger endgültig als unbesiegbar und unantastbar erscheinen. Mittels legaler wie illegaler Manöver könnte Trump die Amtsübergabe zumindest so lange hinauszögern, bis das Land in Hass und Chaos versinkt - und er sich dann als einzig berufener Retter der Nation vor ihrem Untergang präsentieren kann. Indirekt ermutigt er schon jetzt schwer bewaffnete rechtsextreme Milizen, sich für den entscheidenden Moment bereit zu halten.
Auf der anderen Seite würde ein Wahlsieg Trumps bei den Anhängern der Demokraten massive Zweifel wecken, ob dabei alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Tatsächlich stellt die in manchen republikanisch regierten Bundesstaaten zu verzeichnende Praxis, Wahllokale zu reduzieren und vor allem schwarzen Bürgern die Stimmabgabe zu erschweren, eine ernsthafte Beeinträchtigung des Wahlrechts dar. Auch eine massive Einschüchterung von Wählern und Wahlhelfern durch fanatische Trump-Anhänger ist denkbar. Das alles zeigt, wie akut das Überleben der US-Demokratie gefährdet ist.
Aber es steht für die USA noch mehr auf dem Spiel: Selbst das Auseinanderbrechen ihrer staatlichen Einheit scheint angesichts der extremen, hasserfüllten Konfrontation zwischen den gesellschaftlichen Lagern nicht ausgeschlossen. In einem taz-Interview (unser Resümee) erinnerte der US-Autor Richard Kreitner kürzlich an die Dynamik, die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Abspaltung der Südstaaten von der Union und zu dem darauf folgenden Bürgerkrieg führte. Die Fliehkräfte, die damals die Nation zerrissen, sind unterschwellig bis heute präsent - auch wenn eine mögliche Spaltung heute nicht entlang derselben geografischen Linie verlaufen würde. Zwar ist kaum vorstellbar, dass sich eine Tragödie dieses Ausmaßes in den USA wiederholen kann. Doch die Gefahr eines schleichenden Rückzugs einzelner Bundesstaaten aus der Union ist durchaus real.
Staaten wie Kalifornien und New York etwa stehen in Fragen des Grundverständnisses einer Gesellschaft in solch fundamentalem Gegensatz zum harten Kern des republikanischen Lagers, dass auf längere Sicht eine Separation geradezu zwingend erscheint. Gewiss, dies sind Negativszenarien, die keineswegs so eintreten müssen. Doch in einer Zeit, in der vieles wahr zu werden pflegt, was gerade noch für unmöglich gehalten wurde, tut man gut daran, auch den schlimmsten Fall nicht auszuschließen. Die Erfolgsgeschichte der USA seit dem Ende des Bürgerkrieges hat vielfach vergessen lassen, wie fragil die Konstruktion und die Balance der amerikanischen Gesellschaft stets gewesen ist.
Seit ihrer Gründung vor nahezu 250 Jahren führen die USA ein einzigartiges weltgeschichtliches Experiment durch. Das von den Verfassungsvätern eingeführte Prinzip der "Regierung durch das Volk und für das Volk", damals ein unerhörtes geschichtliches Novum, ist auch heute weltweit alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Nicht weniger kühn war die Gründungsidee der USA, Menschen unabhängig von ihrer Abstammung und Religion in einer Gesellschaft von Bürgern mit gleichen Rechten zu vereinen. Durch schwerste innere Konflikte und Rückschläge hindurch haben die USA an dieser Grundorientierung festgehalten.
Doch jetzt hat sich ein großer Teil der Nation, dessen Stimme Trump ist, von dem aufklärerischen, universalistischen Gründungsimpetus der amerikanischen Demokratie radikal losgesagt. Aber auch auf der äußersten Linken, deren Einfluss bis weit in die Demokratische Partei reicht, hat sich eine Ideologie verfestigt, die den klassischen Werten der amerikanischen Demokratie feindlich gesonnen ist. Im Namen einer an den Interessen unterdrückter Minderheiten orientierten "Identitätspolitik" denunzieren linke Radikale die universalistischen Grundwerte der USA als in ihrem Kern "rassistisch".
Der Wertekonsens, der die US-Gesellschaft jahrhundertelang zusammengehalten hat, droht von zwei Seiten her zertrümmert zu werden. Sollte die US-Demokratie kollabieren oder das Land zumindest durch eine existenziell bedrohliche Staatskrise paralysiert werden, würde es auch für die europäischen Nationen sehr schwer, ihre demokratische Ordnung zu bewahren. Erliegt die US-Demokratie den Kräften des Irrationalismus und der autoritären Regression, wird das die übrige demokratischen Welt zutiefst demoralisieren. Ein Scheitern der Demokratie in den USA, dem Leitstern moderner demokratischer Gemeinwesen schlechthin, könnte somit gar das Ende der Epoche der liberalen Demokratie insgesamt einläuten.
Nur ein überwältigender Erdrutschsieg Joe Bidens mit vielen Stimmen auch aus der republikanischen Wählerschaft könnte fürs erste sicherstellen, dass es nicht so weit kommt. Denn er würde signalisieren, dass die gesellschaftliche Mitte keine weitere Eskalation des Konflikts zwischen den beiden politisch-gesellschaftlichen Lagern, sondern deren Wiederannäherung wünscht. Dies würde die Republikaner zwingen, von ihrem Flirt mit der extremen Rechten abzulassen, und es würde zugleich die gemäßigten Kräfte in der Demokratischen Partei stärken. Doch eine solcher Wahlausgang ist kaum zu erwarten. Eher wird es zu einem knappen Ergebnis kommen - das die USA und mit ihr die Demokratien weltweit in eine existenzielle Krise stürzen könnte.
aus: Perlentaucher, 15.10.2020
Freitag, 1. November 2019
Europa. Wir
Europa. Wir
Das gemeinsame Bewusstsein schwindet – wir brauchen ein europäisches Wir
Wir brauchen keine «Vereinigten Staaten von Europa», die Nationalstaaten können ruhig bleiben. Was wir dagegen wirklich brauchen, ist eine Idee, ein Ziel von starker Bindekraft – ein europäisches Wir.
Der antike Mythos von Europa erzählt von der Tochter des phönizischen Königs Agenor, die von Zeus in Gestalt eines weissen Stiers nach Kreta entführt wurde. Der wahre Kern dieses Mythos ist das Bewusstsein, dass die europäische Kultur aus dem Orient stammt. Aus Phönizien stammt vor allem das griechische Alphabet. Kadmos, der Bruder der Europa, soll es in Griechenland eingeführt haben. Der Name Kadmos kommt von semitisch «qedem». In dieser Wurzel verbinden sich die Vorstellungen von «Osten» und «alter Zeit». Die Griechen blickten auf den Osten von Ägypten bis Anatolien als ihr Altertum, so wie wir auf Griechenland und Rom als unser Altertum blicken, und jedes Mal geht es um 2000 bis 3000 Jahre zurück in der Zeit. 2000 bis 3000 Jahre trennen uns vom klassischen Altertum, also von Homer bis Tacitus, und 2000 bis 3000 Jahre trennen diese wiederum von den ersten Pharaonen und sumerischen Königen.
Für die Griechen bedeutete Europa die griechische Welt, von Ionien bis Marseille. In Absetzung vom Orient galt Europa als die Welt der Freiheit und des Geistes, gegen Persien, die Welt der Despotie.
Bewusstes Europäertum
Das nächste Europa entstand in der Spätantike. Die Christianisierung Europas war das erste – nicht unbedingt gewaltlose – europäische Projekt im Zeichen der Einheit und Einigung und ging von zwei Zentren aus: Byzanz und Rom. Byzanz erschloss den Osten über Kiew und Moskau, Rom den Westen über ein im äussersten Westen gelegenes Zentrum. Schon im 4. und im 5. Jh. begann von Irland aus die iroschottische Mission, die das Europa der Klöster schuf und bis zum 7. Jh. auf dem Festland nicht weniger als 300 Klöster gründete. Die Christianisierung bedeutete glücklicherweise nicht nur die Zerstörung, sondern auch die Rettung des antiken Erbes. Die irischen Klöster fungierten als Skriptorien und kopierten nicht nur Bibel und Kirchenväter, sondern auch grosse Teile der heidnisch-antiken Literatur. Ähnlich wirkten im Osten die byzantinischen Mönche und sogar noch weiter östlich die islamischen Gelehrten, die sich um die griechische Wissenschaft, vor allem Medizin, Astronomie und Philosophie, kümmerten.
So wie die Christianisierung Europa vom 4. bis zum 12. Jh. geeinigt hat, so hat das «grosse morgenländische Schisma» von 1054 Europa in den orthodoxen Osten und den römisch-katholischen Westen gespalten. 1439 wurde in Florenz und Ferrara ein Konzil abgehalten, um im Angesicht der osmanischen Bedrohung die christliche Kirche wieder zu vereinigen. Eine griechisch-orthodoxe Delegation unter Leitung des Patriarchen von Konstantinopel war dazu angereist. Der betagte Patriarch war bei diesem Konzil am 14. Juni 1439 in Ferrara gestorben, und sein Grabstein trägt eine Inschrift, in der er sich explizit als Europäer bekennt: «Bischof der Kirche war ich und ein Weiser Europas. Hier liege ich, Joseph, gross an Glauben. Das eine wünschte ich, von wunderbarer Liebe entflammt, eine Gottesverehrung und einen Glauben für Europa.» Im Angesicht der osmanischen Bedrohung kommt es zu diesem ersten neuzeitlichen Moment bewussten Europäertums.
Leider wurde nichts aus dieser Wiedervereinigung. Zu gross waren auf längere Sicht die trennenden Punkte. Die Spaltung blieb und wirkt bis heute nach. Die griechische Delegation brachte aber auch die altgriechische Literatur ins Abendland zurück, und mit Renaissance und Reformation entstand ein drittes Europa, das Europa der Gelehrten und Künstler, die humanistische Idee einer Res publica litteraria, wie sie um 1500 mit dem Buchdruck aufkam und Dichter und Gelehrte praktisch aller europäischen Länder miteinander ins Gespräch brachte, erst in der Lingua franca des Lateinischen, die alle beherrschten, dann zunehmend mit Übersetzungen in die jeweiligen Landessprachen. Man schrieb sich Briefe, besuchte sich, kannte sich, quer durch ganz Europa, und das galt ebenso für die Künstler, vor allem die Musiker. Die Erfindung der Notenschrift brachte die Musik auf die Höhe der grossen Künste. Jetzt entstand Europa als ein Resonanzraum für Musik, Dichtung, Gelehrsamkeit, Kunst und Wissenschaft über alle nationalen und sprachlichen Grenzen hinweg.
Das geistige Europa bewahren
Gleichzeitig aber kam es zu einem gewaltsamen Ausgriff Europas auf den Rest der Welt. Seit Marco Polo, Vasco da Gama und Christoph Columbus benutzt Europa seine Küsten, Häfen, Flotten, um den Rest der Welt zu erforschen und zu kolonialisieren. Das Europa der Kriege und der kolonialistischen Expansion haben wir überwunden. Am geistigen Europa, dem Europa der Künstler und Gelehrten, aber gilt es festzuhalten.
Das europäische Bewusstsein droht verloren zu gehen. Wir brauchen keine «Vereinigten Staaten von Europa» nach amerikanischem Vorbild. Die Nationalstaaten können ruhig bleiben, was sie sind, sie haben sich bewährt als optimale Betriebsgrösse für Demokratien, in denen regelmässig Wahlen durchgeführt werden müssen, und als Hüter und Pfleger der kulturellen Vielfalt, die das Besondere der europäischen Staatengemeinschaft ausmacht. Was wir brauchen, ist eine Idee, ein Ziel von starker Bindekraft, ein europäisches Wir, ein Bewusstsein von Zusammengehörigkeit, Vertrauen, Solidarität und Hilfeleistung, wie es sich auf Erinnerung gründet an das, was wir durchgemacht und was wir erreicht haben und nicht wieder aufgeben dürfen.
Aus: 18.10.2019
Dienstag, 27. August 2019
Klimaschutz. Individuell, global
Vorgaben der Lebensführung als Erlösungsformel
Es gibt das eine: den „Greta-Moment“ – das neue gesellschaftliche Bewusstsein für die Dringlichkeit von politischen Maßnahmen zum Klimaschutz. Und es gibt das andere – die Übertragung auf die Person. Greta Thunberg verkörpert ihre Forderungen. Bei einer Ikone mag das gelten. Sie muss 65 Stunden mit dem Zug anreisen und in die USA segeln. Mit allen Nebenwirkungen. Denn ihr Handeln ist symbolisch. Übersetzt für uns alle ergibt das aber die „Greta-Formel“. Diese besagt: Nur strenge Konsumaskese des Einzelnen sei ein effizientes Vorgehen gegen die Klimakrise. Eine asketische Ideologie mit allem, was dazugehört: strenge Gewissens- und Schulddiskurse. Denunziation, gesellschaftliche Ächtung, Sozialkontrolle für Klimasünder. Mit steigender Tendenz.
Plötzlich sind wir unterteilt in gute und schlechte Konsumenten. Plötzlich wird die Angemessenheit von politischen Forderungen an der persönlichen Ökobilanz gemessen. Plötzlich werden Leute denunziert, weil sie Klimakrise predigen und dennoch fliegen. Die „Greta-Formel“ wird zum Maßstab. Aber stimmt dieser Maßstab? Ja und nein.
Nehmen wir etwa das Fliegen. Natürlich stimmt der Maßstab in Bezug auf die Schadstoffemission. Aber er stimmt dort nicht, wo es um den Stellenwert des individuellen Verzichts geht. Denn Hilfe, tatsächliche, effiziente Hilfe fürs Klima bedarf einer Dimension, die weit über jede individuelle Abstinenz hinausgeht.
Aber wäre der Verzicht des Einzelnen nicht einmal ein Anfang? Auch da muss man sagen: ja und nein. Das eigene schlechte Gewissen, sich „ökologisch schuldig“ zu fühlen (Fred Luks), ist eine Triebkraft. Keine Frage. Zugleich aber ist das schlechte Gewissen trügerisch: Tatsächlich kann eine asketische Regulierung nur dann wirksam werden, wenn sie eine gesamtgesellschaftliche Vorgabe ist – und nicht die persönliche Haftung des Einzelnen. Selbst die „protestantische Ethik“ mit ihrer verinnerlichten Vorgabe von Fleiß, Pflichterfüllung und Askese konnte nur dadurch zum „Geist des Kapitalismus“ werden, wie Max Weber es nannte, weil dieser Appell an den Einzelnen gesamtgesellschaftlicher Konsens war.
Ende des 20. Jahrhunderts hatte diese Askeseforderung mit den Anfängen der Umweltschutzbewegung eine Neuauflage erfahren. Damals kamen asketische und disziplinierende Vorgaben der Lebensführung als Erlösungsformel wieder auf. Mülltrennung und Konsumverzicht gegen die Apokalypse, lautete die Devise.
Das Besondere daran war, dass damit ein neues Subjekt ermächtigt wurde: der Konsument. Man begehrte nicht mehr als Ausgebeuteter auf, man meldete sich nicht mehr als Citoyen zu Wort – man agierte als Konsument. Das war die vielleicht letzte Handlungsoption, die man nach dem Zeitalter der Enttäuschungen noch hatte. Das Narrativ des mündigen Konsumenten – das war gewissermaßen die Versöhnung von Aufbegehren und Ohnmacht. Aber wenn dieses Versprechen, wenn die Handlungsmacht des Konsumenten nicht trügerisch gewesen wäre, dann hätten wir heute keine ökologische Dringlichkeit.
Deshalb zeigt sich jetzt – erstens: Konsumverzicht reicht nicht. Es gibt keine private Haftung fürs Klima. Die individuelle Askese kann bestenfalls Auslöser sein für das, was es jetzt braucht – große politische Lösungen (wie sie auch #fff fordern). Sie kann diese nicht ersetzen. Zweitens aber kann die „Greta-Formel“, die asketische Lebensführung, im schlimmsten Fall sogar kontraproduktiv sein. Denn sie bringt dem Einzelnen zu schnelle Befriedigung. Und das kann politisches Handeln verhindern oder zumindest reduzieren. Man errechnet seine Öko-Bilanz, man vermisst seinen ökologischen Fußabdruck und lehnt sich zurück. Askese erzeugt ein sattes Gefühl.
Es braucht bewusste Konsumenten. Keine Frage. Aber Konsum allein ist noch keine Lösung. Der Konsument ist keine Rettung – weder für sich noch fürs Klima. Er kann bestenfalls Druck erzeugen. Und das soll er auch. Aber um wirksam zu werden, muss dieser Druck ins Politische übersetzt werden. Von der „Greta-Formel“ in den „Greta-Moment“ sozusagen.
aus:
Donnerstag, 13. Juni 2019
Das Volk, das gibt es nicht
Thomas Steinfeld
Vor fast dreißig Jahren entstand in Schweden eine Partei, deren Programm aus drei Forderungen bestand: weniger Steuern, weniger Staatsapparat, weniger kriminelle Ausländer. Als die "Neue Demokratie" im Jahr 1991 in den Reichstag gewählt wurde, erklärte sie sich und ihresgleichen zum "Volk der Wirklichkeit" ("verklighetens folk"), in Abgrenzung zu den professionellen Politikern, die angeblich nicht von dieser Welt seien. Die "Neue Demokratie" dürfte die erste politische Organisation in einem westlichen Land nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein, die den Gegensatz zwischen einer diffusen Vorstellung von "Volk" und einer noch diffuseren Idee von "Elite" zu ihrer zentralen Botschaft machte.
Die "Neue Demokratie" gibt es schon lange nicht mehr. Die Partei ging im Jahr 2000 in Konkurs. Die Formel vom "Volk der Wirklichkeit" aber war so erfolgreich, dass sie einige Jahre später als Slogan einer anderen Partei zurückkehrte, nämlich der schwedischen Christdemokraten - wenngleich nunmehr gegen eine linksliberale "Kulturelite" gerichtet. Von dieser wurde behauptet, sie beherrsche die Medien. Diese Christdemokraten, die, anders als in Deutschland, in Schweden eine Partei für Pietisten und Antialkoholiker sind, ließen sich das "Volk der Wirklichkeit" sogar als Markenzeichen eintragen. Auch die Verwandlung eines Slogans in ein ideelles Monopol war wegweisend: Eine Realität, die unter dem Schutz des Urheberrechts steht, kann nichts anderes als eine Erfindung sein, auch wenn sie keiner für eine solche halten will. Populismus, erklärt der Basler Kulturwissenschaftler Sebastian Dümling in der Zeitschrift Merkur ("Volk durch Verfahren", Juni 2019) ziele darauf, "Simulationen zu finden, an denen sich das Da-Sein des Volks festmachen lässt".
Das "Volk" hat, wie auch die "Elite", in den vergangenen Jahren eine steile Karriere durchlaufen: in der "Alternative für Deutschland", vor allem in deren straßentauglichen Varianten, bei den "Gelben Westen" in Frankreich, bei den italienischen Ligisten. Schon lange entspricht dieses "Volk" nicht mehr dem "Volk", das in den Straßen von Leipzig demonstrierte, einzig dadurch, dass es sich selbst als "Volk" bezeichnete, die in der DDR stets behauptete Einheit von Volk und Führung bestritt und der Regierung auf diese Weise einen Dissens eröffnete, der bald nicht mehr zu überbrücken war. "Wir sind das Volk", hieß die Parole damals, mit der Betonung auf dem bestimmten Artikel, also im Sinne der "plebs", die sich gegen die Herrschenden erhebt. Später hieß es dann: "Wir sind ein Volk", wiederum mit der Betonung auf dem Artikel, dieses Mal aber dem unbestimmten. Er verwandelte sich dadurch in ein Zahlwort. Das "Volk" begriff sich in dieser Variante der Parole als "populus", also nicht in der Differenz zur Macht, sondern in der Differenz zu anderen Völkern.
In den populistischen Bewegungen, die gegenwärtig die im herkömmlichen Sinne demokratischen Politiker vor sich hertreiben, werden "das Volk" und "ein Volk", "plebs" und "populus", in eins gesetzt. Auf diese Weise entsteht ein "Volk", das sich, gleichgültig, was ihm gerade widerfährt oder was es zu verhandeln gibt, grundsätzlich im Recht glaubt, sich aber um die Verwirklichung dieses Rechts betrogen sieht: von bösartigen Eindringlingen aus dem Ausland einerseits sowie von einer "Elite" (wahlweise einer Bande von "elitären Hipstern", Jens Spahn) andererseits, die das "Volk" verrät, indem sie dessen Reichtum an angebliche Flüchtlinge verschleudert, indem sie sich ausländischen Konzernen und einheimischen Spekulanten an den Hals wirft, indem sie eine Kaste von Bürokraten, Funktionären und Halsabschneidern ernährt, die nichts Besseres zu tun haben, als sich die eigenen Taschen zu füllen und das "Volk" um die eigentlich ihm zustehenden Erträge seiner Arbeit zu bringen.
Mit dem Empört-Sein verbindet sich der Anspruch auf Gehör
Oft schon sind die Fiktionen offengelegt worden, die einem solchen Begriff von "Volk" zugrunde liegen. Das "Volk", im vereinten, emphatischen Sinn verstanden, ist eine Abstraktion, die von keiner "Wirklichkeit" gedeckt wird, sei diese nun ethnischen, sprachlichen oder kulturellen Charakters. Ein "Volk" ist, nüchtern betrachtet, nichts anderes als das Ensemble von Menschen, die ein Staat als seine Bürger betrachtet. Aber wer will das wissen? In der Fantasie der Empörten erscheint der Staat vielmehr als eine Institution, die in erster Linie und überhaupt für das Wohlergehen seines und nur seines "Volks" zu sorgen hat. Erfüllt der Staat, oder genauer: erfüllen die Politiker diese Ansprüche nicht, machen sie sich, in den Augen des "Volks", an ihren Bürgern schuldig. Mit dem Gefühl aber, man habe etwas Besseres verdient als die Behandlung, die einem von Staats wegen zugemutet wird, wie mit der Ehre, von der Hegel sagt, sie sei das "schlechthin Verletzliche": Es kennt keinen objektiven Maßstab. Es empört sich, wer sich empören will - worüber er sich empören will und in dem Grad, in dem er sich empören will.
Diese Empörung ist negativ bestimmt und will nicht zwischen eingebildeten und realen Anlässen unterscheiden. Sie besteht in der Wahrnehmung von Zumutungen, und die Zurschaustellung der entsprechenden "Wut" bildet den Kern des öffentlichen Engagements, was zur Folge hat, dass sich mit dem schlichten Faktum des Empörtseins, bis hin zu Thilo Sarrazin, auch der Anspruch auf öffentliches Gehör zu verbinden scheint. Dem Engagement eine politische, argumentativ fassbare Richtung zu geben, widerspräche dabei dem Anspruch auf Authentizität, der mit der Selbstinszenierung der Betroffenheit verbunden ist: Ein Programm, das über die Aufzählung von vermeintlichen Zumutungen hinausginge, wäre nur um den Preis von Einschränkungen zu haben, was im Übrigen auch für alle Versuche gilt, große Kategorien wie "Volk", "Nation" oder "Wir" auf ihren rationalen, historischen oder auch nur irgendwie empirischen Gehalt hin zu prüfen.
Dass "es" irgendwie reicht, ist dagegen immer schon ausgemacht. Geistfeindlichkeit gilt hier als Befreiung, und jeder noch so begründete Hinweis auf die Empirie erscheint als Versuch, dem "Volk der Wirklichkeit" die ihm rechtlich zustehende Berücksichtigung zu entziehen. Mit "Faschismus" haben diese Bewegungen, entgegen manchen Behauptungen, bislang nur bedingt etwas zu tun (nämlich im Hinblick auf die Volksgemeinschaft), umso mehr aber mit einer Art formaler Radikalisierung der Demokratie jenseits der "Wertegemeinschaften". Vor ein, zwei Jahren hätte man noch gedacht, dass die sogenannten rechtspopulistischen Bewegungen der Demokratie irgendwann den Garaus machen. Mittlerweile stellen sich die Verhältnisse anders dar: als eine Übernahme der Demokratie zugunsten eines "Volks der Wirklichkeit", das sich um seinen fiktiven Charakter nicht schert.
Die "Elite" ist nunmehr ein hässliches Phantom
In dieser Radikalisierung gibt sich ein Grundwiderspruch des Demokratischen zu erkennen: Es hat nur Bestand, wenn sich eine deutliche Mehrheit des Wahlvolks in den wesentlichen Anliegen einig ist. Ist es mit der Wertegemeinschaft vorbei, wird offenbar, dass es keine inhaltliche Bestimmung der Demokratie gibt und ihr vielmehr rein mathematische Verhältnisse zugrunde liegen. Anders formuliert: Die Demokratie, im herkömmlichen Sinn begriffen, kann sich nicht verteidigen, wenn der lange Zeit bestehende "Common Sense" von einer großen Wählergruppe in Zweifel gezogen oder gar bekämpft wird. Sie kann, weil sie sich über den Willen des "Volkes" definiert, nur mitmachen. In der Folge bewegen sich die meisten europäischen Parteien, und nicht zuletzt die sozialdemokratischen, in die Richtung, die von den populistischen Bewegungen vorgegeben wurde, und zwar in einem Maß, das noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre: Die heftige Niederlage der Dänischen Volkspartei bei den nationalen Wahlen in der vergangenen Woche erklärt sich zu einem großen Teil dadurch, dass die Sozialdemokraten das Ressentiment gegen alles, was nicht dänisch ist, mittlerweile erfolgreicher bedienen als die eigentlichen Rechtspopulisten.
Die "Elite" (noch vor fünfzehn Jahren eine Lieblingsparole der Bildungspolitik) ist nunmehr ein hässliches Phantom, das seine Gestalt wechseln kann, solange sie nur irgendwie als etwas diffus Höheres und Feindliches identifizierbar bleibt: Sie erscheint politisch als Erhöhung der Kraftstoffsteuern zugunsten der Energiewende, sie erscheint ökonomisch als das internationale Kapital, sie erscheint kulturell als die heimat- und gewissenlose Klasse, die aus der Globalisierung persönlichen Gewinn zieht. Sie kann auch als das liberale Bürgertum erscheinen, weil dessen Öffentlichkeit einen gewissen Grad von Bildung voraussetzt, zumindest in Gestalt der Fähigkeit, Argumente zu bilden und zu verstehen, also auf der Objektivität von Urteilen zu bestehen. Die Beschwörung eines Volksfeinds namens "Elite" ist dabei keineswegs ein Privileg von sogenannten Rechts- oder Linkspopulisten. Diesen Volksfeind nämlich kennt jeder demokratische Politiker und jeder Journalist, der schon einmal Formeln wie "die Menschen da draußen" oder die "hart arbeitenden Menschen" (Franz Müntefering, Martin Schulz, Wolfgang Thierse und viele andere) benutzte.
Das Bewusstsein, dass rechtschaffene Bürger nicht nur einen Anspruch auf staatliche Fürsorge besitzen, sondern auch bevorzugt behandelt werden müssen, teilen die Empörten außerdem nicht nur mit der Mehrheit der Bevölkerung, sondern auch mit großen Teilen der medialen Öffentlichkeit. Sie werden gestützt durch eine "Partizipationsmacht" (Jan Philipp Reemtsma) in Gestalt von Intellektuellen, die in Essays und Büchern beklagen, eine bürgerliche, liberale "Elite" habe darin versagt, die Sorgen der unteren Gesellschaftsschichten beizeiten ernst zu nehmen. Das "Volk der Wirklichkeit" hat insofern eine große Karriere durchlaufen. Das prominenteste Beispiel für einen solchen Intellektuellen ist in Frankreich gegenwärtig Edwy Plenel, der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Le Monde, der in seinem jüngst erschienenen Buch "La victoire des vaincus" ("Der Sieg der Besiegten", Paris, März 2018) zum Sturz des gewählten Königs Emmanuel Macron ermuntert, unter Berufung auf die großen Volksaufstände des 19. Jahrhunderts. Der Staat, darin sind sich die neuen Volksbewegungen einig, ist den falschen Leuten in die Hände gefallen. Aber abgesehen davon, dass die meisten deutschen Bürger mit den zivilen Errungenschaften der Bundesrepublik immer noch zufrieden sein dürften: Wann hätte es je einen Staat der richtigen Leute, wann hätte es je den guten Staat gegeben?
Es mag sein, dass sich viele Empörte über die Widersprüchlichkeit ihrer Proteste im Klaren sind - oder dass sie zumindest ahnen, dass deren Voraussetzungen so klar nicht sind. Ihre Wut wäre dann nicht nur Ausdruck ihrer Empörung, sondern auch ein Mittel, mögliche Zweifel in sich selbst auszulöschen. Die Demonstration wird dann zum eigentlichen Zweck der Demonstration. Denn zu erleben gibt es dort den "fleischlichen Körper" (Sebastian Dümling) einer Erfindung, nämlich eben jenes "Volks". Das gute Gewissen des empörten Bürgers, für das "Volk der Wirklichkeit" zu stehen, liefert dann nicht nur das Recht zum Zuschlagen, im übertragenen sowie im realen Sinn. Es ist auch umgekehrt: Das Zuschlagen birgt auch die Gewissheit, dass es dieses "Volk" tatsächlich gibt, mitsamt seinem Feind, der "Elite". So schließlich kommt das "Volk der Wirklichkeit" zu sich selbst, in einem Akt der Selbsterzeugung, als nicht nur leibhaftig, sondern auch militant gewordene Fiktion.
Süddeutsche Zeitung 11. Juni 2019
Montag, 27. Mai 2019
Zerfall der Öffentlichkeit
Alles geht in Trümmer – und das, was Öffentlichkeit war, wird bald nicht einmal mehr eine Erinnerung gewesen sein
Wo jeder seine personalisierte Öffentlichkeit hat, da gibt’s keinen echten Streit mehr und auch keinen Kompromiss. Volksparteien zerfallen, die Feuilletons dieser Welt werden bedeutungslos. Was bleibt, sind: Zersplitterung und Erbitterung. Ein Abgesang.
Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit einem Klimaforscher, mit dem Titel «Für Pessimismus ist es zu spät». Gernot Wagner, ein Österreicher, der in Harvard forscht, beschrieb den Klimawandel als das «perfekte Problem». Selbst wenn wir es schaffen würden, unsere Emissionen von einem Tag auf den anderen abzudrehen wie einen Lichtschalter, schnellten die Temperaturen erst recht katastrophal hoch. Warum? Weil wir nicht nur das klimaschädliche CO2 in die Atmosphäre blasen, sondern auch das luftverschmutzende SO2, das die Sonneneinstrahlung abmildert. Es wirkt für die malträtierte Erde wie ein Sonnenschirm.
Das «perfekte Problem» ist eine Formulierung, die mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht. Sie scheint der perfekte Ausdruck für unsere gesamte Lage. Die Aussichten sind apokalyptischer denn je. Und trotzdem, oder gerade deshalb sagt dieser Klimaforscher voller vibrierender Energie: Für Pessimismus ist es zu spät.
Dieser Geist passt zu Ludwig Börne. Er war der Prometheus der deutschsprachigen Publizistik, er hat ihr das Feuer gebracht. Für sein scharfes, wie ein Schwert geführtes Wort ohne Rücksicht auf Höflichkeiten oder Comment verehren wir ihn bis heute. Er hat vor zweihundert Jahren das Licht einer kulturellen Errungenschaft angezündet, das wir gerade ausblasen.
Dieses Ende ist nicht etwa deshalb gekommen, weil das Personal nicht mehr taugt. Das Ende ist auch kein blosses Abgelöstwerden, wie es früher den Melkern, den Setzern, den Schneidern und Kürschnern widerfahren ist. Das wäre nur traurig. Dramatisch aber ist, dass sich die Öffentlichkeit als solche, die sich damals erst gebildet hat als eine Gegenöffentlichkeit zum Staat, gerade komplett auflöst. Ihre Bestandteile sind zwar noch da, aber so fragmentiert wie das Mikroplastik in den Ozeanen. Wen wollen wir denn heute noch erreichen, wenn wir in der Paulskirche sprechen, wenn wir in der NZZ oder in der FAZ schreiben?
Das liest keiner mehr
Kürzlich führte ich ein sich zufällig ergebendes Gespräch mit einem erfreulichen jungen Mann, gerade dreissig, rhetorisch gewandt, intelligent, reflexiv. Er war beruflich mit Politik beschäftigt, berät Politiker, Parteien, manchmal sogar Ministerien. Er erzählte, dass manche seiner Kunden Wert auf die Anerkennung der deutschen Feuilletonleser legten. Doch diese Gruppe sei völlig bedeutungslos für seine Arbeit. Die deutschen Medien insgesamt hätten die Erfordernisse der Digitalisierung bis heute nicht begriffen.
Ich fühlte mich mit einem Schlag wie hundertzwanzig. In dieser Situation wären viele Fragen möglich gewesen, ich stellte aber, fast atemlos, nur zwei: Als Erstes, ob es ihm nicht leidtäte um die enorme Verschwendung von Wissen und Erfahrung, denn diese Menschen in den komischen alten Zeitungen verfügten doch über einen grossen Schatz an, ja, ich sagte wohl wirklich: Content, der vielleicht für das eine oder andere noch zu gebrauchen sei . . . Er zuckte die Schultern. Er habe das alles schon so lange nicht mehr gelesen, sagte er, ihm habe nichts gefehlt.
Als Zweites fragte ich drängend, wo sich die vielzitierten Digital Natives denn in Zukunft verständigen würden über ihre Anliegen, ihre Prioritäten, über das, was als Nächstes zu tun sei, also über ihre Erwartungen an die Politik? Wo sind die digitalen Wasserstellen, fragte ich, die ihr aufsucht, wenn ihr reden, streiten, verhandeln müsst? Er zuckte wieder die Schultern und sagte, das würde sich wohl erst mit der Zeit herausstellen. Er war dabei so gelassen wie die Zehnjährigen, die jedes elektronische Gerät erst einmal in Betrieb nehmen, auch wenn sie gar nicht wissen, was es ist.
Öffentlichkeit ade
Die Technosoziologin Zeynep Tufekci und der Politologe Ivan Krastev forschen dazu, zur Politik im digitalen Raum. Ihre Untersuchungen von Protestbewegungen wie etwa Occupy ergeben, dass ihnen langfristige politische Wirkung bisher versagt blieb. Erst machen sie eine Menge Wirbel, dann verpuffen sie. Menschen lassen sich so zwar erreichen, aber bald laufen sie etwas anderem hinterher.
Krastev schreibt, Protestbewegungen im Netz seien bis anhin eine Form der Partizipation ohne Repräsentation. Und dieser Befund gilt wohl auch für das Verschwommene, das die Öffentlichkeit ersetzt hat: massenhafte Teilhabe, aber die Fragmentierung jeder Wirkung und die Aufhebung aller Regeln. Reichlich vorhanden für alle sind nur Verunsicherung und Wut.
Zwar interessierten sich viele nur für den Musikantenstadel und nicht für das Feuilleton, aber Letzteres blieb tapfer dabei, alles, was grösseren Anklang fand, zu analysieren und zu reflektieren.
Natürlich gab oder gibt es nicht die eine Öffentlichkeit. Es gab immer viele davon. Als grosse und kleinere verschiedenfarbige Kreise lagen sie übereinander wie ein Schaubild aus der Mengenlehre. Die politische Öffentlichkeit war lange ungerecht, wenn etwa in der Antike nur männliche Patrizier auf das Forum oder die Agora durften. Aber langsam bekamen immer mehr Menschen Zugang zu etwas, das man auch eine Plattform der Selbstvergewisserung nennen könnte.
Zu Börnes Zeiten, dank unerbittlichen Streitern wie ihm, erhob sie sich machtvoll. Und schliesslich definierte Habermas die «abstrakte Öffentlichkeit», hergestellt über Massenmedien. Sie war verdächtig, weil sie einem Niveauverlust Vorschub zu leisten schien. Da hatten wir noch Sorgen: Denn möglicherweise war diese massenmediale Öffentlichkeit das Beste, was zu bekommen war, einen historischen Moment lang, bevor die Digitalisierung alles durchdrang. Das Beste im Sinne von: grösste Verbreitung bei niederschwelligem Zugang. «Tagesschau», «Bild»-Zeitung, die Samstagabendshow und der «Tatort», dazu die Feuilletons und die Radios.
Wir hatten etwas gemeinsam, zumindest in diesem Land, zumindest in diesem Sprachraum, wir wussten so ungefähr voneinander und wie es uns ging. Zwar interessierten sich viele nur für den Musikantenstadel und nicht für das Feuilleton, aber Letzteres blieb tapfer dabei, alles, was grösseren Anklang fand, zu analysieren und zu reflektieren. Man konnte daran glauben, dass es Orte gab, an dem die Zeitphänomene diskursiv aufbewahrt wurden.
Beschleunigter Untergang
Dem Historiker Per Leo verdanke ich den Einwand, dass «die Öffentlichkeit» historisch gesehen niemals Mehrheitsmeinungen abgebildet hat. Trotzdem, möchte ich beharren, gab es doch einmal diese halbwegs verlässliche Plattform, auf der, und sei es grob und ungefähr, erfasst wurde, was uns bewegte und zusammenhielt. Ich denke sie mir als Fläche, als riesigen Platz, eben ein Forum. Der Platz hatte zu allen Zeiten seltsame Ränder und die eine oder andere dunkle Ecke. Aber weil er grundsätzlich einsehbar war, galt hier der Rechtsstaat.
Heute haben wir etwas anderes, etwas, das in die Tiefe geht, aber nicht in die sinnbildlich wertvolle: ein Bergwerk, in dem sich jeder sein eigenes Tunnelsystem gräbt, weitläufig und verzweigt, aber wo es dennoch möglich ist, niemals auf Widerspruch zu treffen. Zumindest kann man den Sammelplätzen, den grossen Kreuzungen ohne weiteres entgehen. Und es ist möglich, dort ungestraft alles zu tun, was an der hellen Oberfläche verboten ist.
In diesem Sinne meine ich: Die alte Öffentlichkeit ist vorbei. Sie wird nicht irgendwann vorbei sein, sie ist es schon. Die Digitalisierung, die wunderbare Effekte auf viele Lebensbereiche hat, hat auf ihrem Urgrund, der menschlichen Kommunikation, eine alles zerstörende Explosion verursacht.
Für die ehemalige Öffentlichkeit, die, mit all ihren Fehlern und Schwächen, einmal die informelle Macht der Demokratie war, hat es den Effekt, den es auf die Wirtschaft hätte, wenn jeder sich zu Hause sein eigenes Geld drucken könnte. Diese Zersplitterung in Millionen inkonvertibler Einzelmeinungen, dieses unverbundene und beziehungslose Sprechen und Schreiben, könnten wir Ludwig Börne, wenn er plötzlich wiederauferstünde, wahrscheinlich wirklich nicht erklären.
Alles geht in Trümmer. Ehemalige Grossparteien zerfallen zugunsten von Clowns, Komikern oder zynischen Glücksrittern. Nein, es reicht nicht zu sagen, dass sie offenbar schlecht gearbeitet haben, dass sie nun eben durch etwas Neues ersetzt werden. Ihre Bedeutung als Hafen ist damit nicht gewürdigt, als erstes grobes Ordnungssystem in einer hochdifferenzierten Gesellschaft.
Andere Meinungen dienen längst nicht mehr dazu, unsere eigenen zu überprüfen, nur dazu, den Gegner dingfest zu machen.
Unsere deutschen Grossparteien benahmen sich rührenderweise umso inklusiver und mittiger, je unversöhnlicher die allgemeine Stimmung wurde. Das hat ihren Untergang beschleunigt. Sie haben nicht bemerkt, dass das Wort vom Sammelbecken zu einer Beleidigung geworden ist. In ein solches will niemand mehr steigen, es fühlt sich äusserst unhygienisch an. Die Gruppen, denen man noch vertraut, werden immer kleiner und exklusiver. Ein falscher Tweet, und man fliegt raus.
Ein Neuanfang – vielleicht?
Beides, die Zersplitterung und die erbitterten Kämpfe, sind die Zerfallsprodukte der Streitkultur. Zehn Jahre Internet für alle, mobil auf die Hand, haben genügt, um uns das, was Börne und Heine vor zweihundert Jahren begründet haben, verlernen zu lassen. Die vielgerühmte Freiheit, dass sich jeder zu allem äussern kann, schafft die gefährliche Illusion, dass das Aushalten anderer Meinungen nicht mehr nötig ist.
Es war schon immer schwer, Kindern zu erklären, dass es keine garantierte Gerechtigkeit gibt, sondern dass man nur beständig an ihr arbeiten kann. Heute ist es schwer, Erwachsenen zu erklären, was ein Kompromiss ist und wozu man ihn braucht. Fast unmöglich, für ein zeitweiliges taktisches Nachgeben zu werben. Andere Meinungen dienen längst nicht mehr dazu, unsere eigenen zu überprüfen, nur dazu, den Gegner dingfest zu machen.
Und so ist die alte Öffentlichkeit an ihr Ende gekommen. Sie ist fast komplett ins Private diffundiert. Es ist nicht mehr annähernd festzustellen, was der eigene Nachbar weiss, erfährt und glaubt, welcher Minderheit er anzugehören wünscht oder welchen Phantasmen er gerade aufsitzt. Jeder hat seine eigene winzige Öffentlichkeit, er hat sie sich nämlich personalisiert. Das aber ist, nach allem, was man bis jetzt sehen kann, so gefährlich wie eine Autoimmunkrankheit.
Doch jedem Ende folgt ein neuer Anfang, auch wenn ich befürchte, dass wir uns diesen wahrscheinlich ohne uns vorstellen müssen. Am tiefsten Punkt meiner Verzweiflung fiel mir allerdings auf, dass vielleicht sie, neben der Wut, die andere grosse Emotion ist, die die Fähigkeit hat, Menschen über alle Differenzen hinweg zusammenzubringen. Die Bilder, die wir alle gesehen haben, über die wir alle gesprochen haben, egal, in welchen Echokammern wir uns sonst vergraben – das waren die der schulschwänzenden Klima-Kinder, in Marsch gesetzt von dem kleinen Mädchen mit den komischen Haaren.
Ob auch sie dasselbe schnelle Ende nehmen werden wie die beschriebenen Internet-Protest-Phänomene? Bis jetzt erscheint mir die Verzweiflung dieser Kinder so gross, dass sie die Widersprüchlichkeit ihres eigenen Verhaltens übertrumpft. Sie sind die Ersten, die der Zersplitterung ihres Themas in tausend Untergruppen widerstehen.
Sie kümmern sich nicht um die Zyniker, die sie verhöhnen, und nicht um die heuchelnden Paternalisten, die ihnen empfehlen, die Sache den Experten zu überlassen. Sie sind intelligent genug, um zu wissen, dass auch ihre Eltern und sie selbst ihre Lebensweise massiv ändern müssen. Aber das hindert sie nicht daran, aktiv zu werden. Sie sind der Gegenentwurf zu den Verkrampfungen, die wir uns gerade leisten.
Die Streiks und Demonstrationen unserer Kinder sind eine Wiederkehr alter, wirksamer, für alle sichtbarer Öffentlichkeit. Jedenfalls gilt für uns alle nur noch dieser Satz: Für Pessimismus ist es zu spät.
Neue Zürcher Zeitung, 27.5.2019
Montag, 11. März 2019
Alles bloß keine Heimat!
Nina Monecke
Warum der Begriff Heimat nicht zu retten ist
Von wem stammt das folgende Zitat? „Wir lieben dieses Land. Es ist unsere Heimat. Für diese Heimat werden wir kämpfen.“ Als erstes denkt man an Namen aus den Reihen der AfD. Oder von der rechtsextremen Identitären Bewegung. Das ist so verständlich, wie in diesem Fall falsch.
Denn es handelt sich nicht um Alexander Gauland und auch nicht um Martin Sellner. Hier bringt die ehemalige Parteivorsitzende der Grünen Katrin Göring-Eckardt ihre Heimatliebe zum Ausdruck. Genauso gut hätte es ein Zitat der aktuellen grünen Parteichef*innen, Annalena Baerbock und Robert Habeck, sein können. Oder von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der meint, wer sich nach Heimat sehne, sei nicht von gestern. Sogar Bodo Ramelow, Thüringens linker Ministerpräsident, will Heimat als „Sehnsuchtsort für die Seele“ zulassen.
Sie alle eint ein Anliegen: Sie wollen die Heimat nicht den Rechten überlassen. Sie sprechen von Heimat und meinen es gut. Wo bleibt das Unbehagen bei so viel parteiübergreifender Einigkeit darüber, wonach sich die Menschen in Deutschland sehnen und wie darauf reagiert werden soll?
Bis vor nicht allzu langer Zeit spielte der Heimatbegriff noch kaum eine Rolle in politischen Debatten. Erst als rechte Stimmungen, getragen von der AfD, stärker wurden und die vermeintliche Alternative in ein Landesparlament nach dem nächsten gewählt wurde, fand er auch Einzug in die Reden von Politiker*innen links der Mitte. Der politische Begriff Heimat hat seinen Ursprung also im rechten Diskurs. Für die AfD war er eine Kernforderung, um sich von den übrigen Parteien abzugrenzen: Endlich wieder stolz sein dürfen auf Deutschland, endlich wieder Deutschland lieben. Mittlerweile lässt sich förmlich ein Wettstreit beobachten, wer die deutsche Heimat mehr für sich beansprucht.
Warum uns das Sorgen machen sollte, erklärt der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch in einem Gastbeitrag für die taz sehr prägnant: „Wird Heimat zu einem politischen Begriff, wird es gefährlich, denn dann wird Heimat etwas, das durch die bedroht ist, die ein Zuhause suchen. Wenn der politische Heimatbegriff von einem konkreten Ort auf ein ganzes Land ausgedehnt wird, entsteht eine Nation, deren Mitgliedschaft durch Abstammung bestimmt ist.“ Für viele mag Heimat ein wohliges Gefühl sein, mit dem sie ihre Kindheit verbinden, ein Ort, an dem Eltern und Familie noch wohnen und an den sie immer zurückkehren können. Doch andere haben diesen Ort vielleicht nie gehabt, mussten ihn zurücklassen oder er wurde ihnen genommen.
Mit dem Gefühl ist das ohnehin so eine Sache. Der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn schreibt dazu, dass das Heimatgefühl, anders als zum Beispiel das Gefühl von persönlicher Zuneigung, nicht mit realen zwischenmenschlichen Interaktionen und individueller Entwicklung verknüpft sei, „denn es basiert auf der Unterscheidung von vermeintlich Gleichem und Ungleichem.“
Das heißt: Heimatgefühle haben mit der Realität so ziemlich gar nichts zu tun. Während reales Leben sich ständig durch neue Erlebnisse und Erfahrungen wandelt, fußt Heimat auf Identitätsbildung, auf Abgrenzung und damit Ausgrenzung. Salzborn weiter: „Heimat ist ein Fantasie- und Wertkonstrukt, mehr Erinnerung, Imagination und Magie als wahrgenommene Gegenwart. Mehr Sehnsucht, Hoffnung und Utopie als erfahrene Wirklichkeit und berechenbare Zukunft.“
Links ist da, wo keine Heimat ist
Real ist hingegen das, was die Menschen, die sich nach Heimat sehnen, dazu treibt: der Verlust von Kontrolle in einer sich rasant wandelnden Welt, die soziale Kluft in der Gesellschaft. Nur ist es eben falsch, auf diese Probleme mit Heimat zu antworten, statt beispielsweise mit sozialpolitischen Forderungen. Denn wer Heimat will, will nichts verändern, sondern allenfalls Bestehendes versöhnen. In dieser fälschlich imaginierten Idylle ist es nur logisch, dass es die vermeintlich Fremden sind, die diese Idylle stören und für Probleme zu Unrecht verantwortlich gemacht werden.
Nun haben Politiker*innen wie Göring-Eckardt, Habeck oder Ramelow selbstverständlich anderes als eine homogene Volksgemeinschaft im Sinn, wenn sie von Heimat sprechen. Doch statt umzudeuten, was Rechte stark gemacht haben, sollten sie ihnen den politischen Begriff Heimat ruhig überlassen. Denn da gehört er hin. Links ist da, wo keine Heimat ist. Wo man über persönliche Lebensrealitäten und Erfahrungen hinaus solidarisch mit anderen ist – vor allem mit jenen, die in unserer Gesellschaft geschwächt sind, ausgegrenzt und diskriminiert werden. Wo daran gearbeitet wird, dass es irgendwann egal ist, woher jemand kommt. Oder wie der Soziologe und Autor Thorsten Mense es so schön formulierte: „Die Linke sollte nicht dafür eintreten, dass alle eine Heimat haben, sondern dafür, dass niemand mehr eine braucht.“
Aus: ze.tt, 10. März 2019
Mittwoch, 27. Februar 2019
Grand débat national
Ein Wagnis mit offenem Ausgang
Man kann in Europa derzeit zwei Formen von direkter Demokratie beobachten. Und beide haben eminente Folgen für das Schicksal Europas: der Brexit und Frankreichs „grand débat national“. Zwei Formen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während der Brexit Chaos herstellt, ist Macrons „nationale Debatte“ der Versuch, das Chaos zu regulieren.
Jenes Chaos, das die Gelbwesten erzeugt, aber auch jene Missstände, die sie sichtbar gemacht haben: den Mangel an sozialer Gerechtigkeit, die markanten regionalen Ungleichheiten, den Bruch des Vertrauens der Bürger in die Politik. Und die Wut, die auch drakonische Polizeimaßnahmen nicht eindämmen konnten.
Macrons „grand débat“ ist der Versuch einer Antwort auf all das, was da aufgebrochen und offenkundig geworden ist. Dazu besinnt sich Macron, der als Präsident bislang den arroganten Schnösel gegeben hat, auf Macron als Wahlkämpfer. Es ist ein dringlicher Versuch, denn hier droht etwas aus dem Ruder zu laufen. Und wie man am Brexit-Debakel im Umgang mit derselben Wut sieht: Die Antwort kann kein Votum sein, wo nur ein Ja oder Nein möglich ist. Sie muss ein exakter Gegenentwurf zu einem Brexit-artigen Referendum sein.
Die „große Debatte“ soll drei Monate lang, von Mitte Januar bis Mitte März, stattfinden. Es ist dies eine nationale Initiative, die online, aber vor allem auch landesweit Bürger zu Wort kommen lassen soll. Genau jene Bürger, die von sich sagen, sie würden sich „in dieser Demokratie nicht mehr wiedererkennen“. Auf lokaler, auf Gemeindeebene sollen sich die Bürger versammeln. Hier sollen sie ihre „cahiers de doléances“ – jene aus der Französischen Revolution kommenden Beschwerdehefte und Wunschzettel formulieren: Dabei soll nicht nur Kritik geübt, sondern auch Vorschläge gemacht werden – und diese sollen nicht nur deponiert, sondern auch diskutiert werden. Die Resonanz ist groß.
In Europa wird zurzeit ein großes Paradoxon demokratischer Gesellschaften sichtbar: gut integrierte Gesellschaften konsolidieren sich nicht etwa durch Harmonie, sondern durch Streit – durch begrenzten, produktiven Streit. Polarisierten, gespaltenen Gesellschaften hingegen ist dieser Weg versperrt. Denn Streit auf schwankendem Gesellschaftsboden kann leicht in den Abgrund führen. In solchen akuten Situationen bedarf es eines anderen Mediums der Konsolidierung. Etwa des Gesprächs.
Eine solche nationale Gesprächstherapie, wie Macron sie ausgerufen hat, ist außergewöhnlich für eine repräsentative Demokratie. Ein beispielloses demokratiepolitisches Experiment. Und ein Wagnis.
Macron versucht, den Kontakt zu den Bürgern wiederherzustellen – nicht im Ausnahmezustand eines Wahlkampfs, sondern im laufenden Betrieb. So ist er selbst immer wieder vor Ort. Und er sowie alle anderen Funktionäre sind dabei nur Zuhörer. Stundenlang hören sie den Bürgern zu. Mit dem Rücken zur Wand – eine Position, in die ihn die Gelbwesten gebracht haben – sucht Macron in einer Massendemokratie eine direkte Bindung zu den Citoyens, ohne Zwischeninstanzen, herzustellen.
Die Übung ist nicht nur neu – ihr Ausgang ist auch höchst ungewiss. Sie birgt zwei Risiken. Zum einen ist es völlig offen, ob es solch einer „nationalen Debatte“ gelingen wird, das tiefe Misstrauen der Bevölkerung gegen ihre Repräsentanten zu überwinden. Kann solcherart wieder Vertrauen hergestellt werden? Wird die Mehrheit es als realen Ausweg aus der Krise akzeptieren – oder wird sie es als Ablenkungsmanöver, als Manipulation, als Falle, um ihre Wut zu ersticken, wahrnehmen, wie mahnende Stimmen schon heute meinen?
Der Ausgang ist aber nicht nur ungewiss, wenn das Experiment scheitert. Er ist mindestens ebenso ungewiss, sollte es gelingen. Denn was passiert, wenn alles wie geplant läuft – was macht die Regierung dann? Ändert sie ihr Programm? Baut sie den Staat um? Es sind dies Fragen, die uns alle betreffen – denn die Krise der politischen Repräsentation betrifft ganz Europa. Und es braucht einen Ausweg. Und wie man gerade erlebt: Der Brexit ist keiner.
taz, 26.2.2019
Donnerstag, 21. Februar 2019
Vermessung des Menschen. Zur Gesundheitspolitik der Konzerne
Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski
Die neue Vermessung des Menschen: Die App weiss, wann Du stirbst
Facebook, Apple und Co. wollen mit Erfindungen wie der Smartwatch unsere Gesundheit optimieren. Dafür soll der Körper bis ins kleinste Detail vermessen werden. Doch können Algorithmen wirklich heilen?
Die Grosskonzerne aus dem Silicon Valley arbeiten bekanntermassen daran, unsere Welt wie eine Karte lesbar zu machen. Jedes geschriebene Wort soll gescannt, jede Strasse und jedes Haus erfasst, jede soziale Regung gesammelt, abrufbar, zugänglich gemacht werden. Man will nicht nur viel, man will alles wissen. Damit sich die Menschheit weniger irrt und verwirrt, besser durch die Gegenwartsgischt navigiert – damit sie datenbasiert an sich selbst gesunde.
So nimmt es nicht wunder, dass GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) und Co., während sie bereits die Kommunikationssphäre dominieren, den Sektor Gesundheit wie eine Terra incognita vor sich liegen sehen. Die neuen Horizonte bestimmen dabei keine ferne Utopie, sondern ein Land der unendlich profitablen Möglichkeiten, einen Sehnsuchtsort für Weltvermesser.
Krankheit als Geschäft
In dieser Optik scheint der jüngste Vorstoss Tim Cooks nur folgerichtig: Wenn man einst, so die Prophezeiung des Apple-CEO Anfang Januar, nach dem «grössten Beitrag Apples für die Menschheit» frage, werde es nur eine Antwort geben: «Die Gesundheit.» In der «Bereicherung des menschlichen Lebens» erkannte die Firma immer schon ihre Mission. Um diese zu erfüllen, spielt die neue Apple Watch, die jeden Schritt und Pulsschlag erfasst, die entscheidende Rolle – «this is a huge deal».
Das Silicon Valley hat die Krankheit als Marktpotenzial, unser Sein zum Tode als Innovationstreiber erkannt. So drängen die Konzerne zielstrebig in einen Markt, der allein in den Vereinigten Staaten ein Volumen jenseits der drei Billionen erreicht.
Amazon gründete unlängst eine Krankenversicherung, baut gerade Kliniken – probeweise – für die eigene Belegschaft und hat sich die Internetapotheke Pillpack einverleibt. Facebook verhandelte bis zum Datenskandal um Cambridge Analytica mit Krankenhäusern über anonymisierte Gesundheitsdaten, um sie mit denen seiner Nutzer abzugleichen. Und zuletzt entwickelte das soziale Netzwerk einen Algorithmus, der die Aussagen amerikanischer User auf die Gefahr eines Suizids scannt.
Der avancierteste Player im Rennen um unsere Gesundheit ist derzeit jedoch Alphabet. Das Mutterschiff von Google entwickelte zuletzt KI-basierte Software-Lösungen, um Krankheitsverläufe und gar den Todeszeitraum von Patienten in Spitälern genauer zu bestimmen. Mit dem Subunternehmen Verily, vormals bekannt als Google Life Sciences, forschte man bereits an einer Kontaktlinse, die mittels Tränenflüssigkeit die Glukosekonzentration misst.
Live-Ticker für den Körper
Doch mit dem ehrgeizigen «Project Baseline» geht Alphabet noch aussichtsreichere Wege, wagt sich mit der «Landmark Study» immer tiefer in unkartiertes Feld: Bis zu 10 000 Probanden sollen, wissenschaftlich von der Duke und der Stanford University begleitet, ihre Gesundheits-, besser: Lebensdaten mit eigens von Verily entwickelten Wearables über vier Jahre lang messen.
Wie der biologische ist auch der Datenkörper immer «work in progress»: So werden nicht nur die Schlafqualität oder die körperliche Aktivität aufgezeichnet, sondern auch Langzeit-EKG durchgeführt, Genome sequenziert, Labor-Scans, Tests auf Herz und Nieren oder zur mentalen Verfassung unternommen. Krankheiten und ihre Entwicklung sollen – in einer Art Live-Ticker – genauer analysiert werden und damit immer besser vorhersagbar werden.
Von den Bakterien im Darm bis zur Karies im Zahn, in alle Gebiete des Lebens und Sterbens erhält das Unternehmen nun Einsicht, vermisst sie transparent und setzt alles in einen grösseren, biopolitischen Zusammenhang. Der Begriff des gläsernen Patienten, den man in den Plänen einer elektronischen Gesundheitskarte wie in Deutschland heraufziehen sieht, mutet im Vergleich geradezu brav an.
Denn wer bei «Baseline» mitmacht, stellt nicht nur seine alltäglichen Gewohnheiten, den Body-Mass-Index oder die Stimmung unter ständige Beobachtung. Er wird vielmehr, so versichert das Imagevideo des Projekts, zum Teil eines «Movements», einer «Community», die den «Kurs der Menschheit» zu verändern hilft: «Sharing is Caring» lautet das Motto – nun auch bei Google.
Die Vermessung des Menschen
Im grossen Gesundheitsdatenrausch hat sich also die Tonlage gewandelt. Es geht hier nicht mehr um die fast biedere Transparenz, aseptische Kurven oder gelangweilte Standardfragen. Es geht um kollektives Empowerment. Man könnte hier fast von einer Revolution sprechen, so emphatisch wird die «unglaublich tiefe und detaillierte» Vermessung der Welt in einer Sphäre aufgeladen, die sich sonst lediglich zum «quantified self» durchringt.
Dabei verzichtet diese Umwälzung auf Barrikaden und dreckige Hände, wirkt beinahe unpolitisch – weil sie den Einzelnen lustvoll bis sinnstiftend motiviert, ganz sanft das Leben punktiert: «We’ve mapped the world. Now let’s map human health.»
Dass dieses kollektivistische «Wir» nicht ganz so reibungslos funktioniert wie verlautbart, dass hier tektonische Verschiebungen in ganz anderen Dimensionen vor sich gehen, lässt sich erahnen, wenn man Apps und Startups anschaut, die im Umfeld des Grossprojekts wie Pilze aus dem kalifornischen Boden schiessen. So haben Entrepreneure aus dem Valley erkannt, dass das Erfassen mentaler Dissonanzen über Fragebögen nicht ganz verlässlich ist, die Selbstbekenntnisse häufig von verzerrenden Meinungen und lästigen Empfindungen kontaminiert sind.
Psychologie ohne Psyche
Man entwickelt daher mit Hochdruck Methoden, die das Innere der Blackbox «objektivieren», das heisst, die trübe Brühe der menschlichen Psyche über beobachtbares Verhalten zu decodieren versuchen. Als das beste aller behavioristischen Aufschreibesysteme bewährt sich hier zurzeit das Smartphone, ein multisensorisch-gläsernes Device, auf dessen Oberfläche sich – zumindest für die digitale Gesundheitsavantgarde – das Unbewusste zu spiegeln scheint.
Besonders das Startup Mindstrong Health des früheren Direktors des amerikanischen National Institute of Mental Health und nicht zufällig auch vormaligen Leiters der Abteilung für psychische Gesundheit bei Verily, Thomas Insel, eröffnet ganz neue Sichtachsen. Man analysiert das Tippverhalten des Smartphone-Users – wie er scrollt, klickt oder wischt –, um qua Mustererkennung Verhaltensprofile zu erstellen, die wie Kompassnadeln auf mentale Schwachpunkte verweisen.
Insel nennt das Verfahren «digital phenotyping», eine Form der Kartierung, die anhand von digitalen «Biomarkern» und ohne Inhalt oder Semantik des Getippten zu deuten, Depressionen zu diagnostizieren verspricht. Wer, vereinfacht gesagt, zu langsam tippt, der erscheint geknickt; wer sehr schnell auf sein Smartphone einhämmert, befindet sich womöglich in einer manischen Phase.
Jede äussere Regung, so die Annahme, reflektiert eine innere Bewegung. Denn nicht das Was oder Warum, sondern lediglich das Wie interessiert, nicht die inneren Konflikte, die Geschichte oder die soziale Konstellation werden mit Begriffen umstellt. Allein die mathematischen Korrelationen zählen, bedeuten nun mehr als jede Intention. Zweckhaftes Verhalten wird in der Folge ohne schwerverständliche Zwecke beschrieben, die Psychologie, wie es der Philosoph Hans Jonas einmal ausdrückte, ganz «ohne Psyche».
Der Mensch als Datenpaket
Das, was bei Baseline oder Mindstrong schliesslich anschaulich wird, ist das Zusammenschnurren des Subjekts auf die Summe seiner Datenpunkte. In der Netzwerkgesellschaft gibt es keinen Ort für das einzelne Individuum, denn es ist im Zuge der Auswertungen – das hochgejazzte «Wir» wirkt wie ein latenter Hinweis – kaum noch als solches sichtbar. Allenfalls kennzeichnet es einen Knotenpunkt, der sich lose im Spiel der Patterns bewegt; eine ephemere Hülle, die mehr als Profil denn als fühlendes Subjekt erscheint.
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine weitere Verschiebung ab: Indem das Leben der Menschen immer detaillierter unter dem digitalen Schleier der Konzerne erfasst, ihr Verhalten immer präziser bestimmt werden kann, werden auch Krankheiten möglicherweise bald immer früher erkannt – wenn wir nichtsahnend auf dem Smartphone daddeln. Das Abwesende ist anwesend im Potenzial, und so hiesse es zeitnäher auf Gefahren zu reagieren, bei Risiken gegenzusteuern, das Verhalten früher zu verbessern, das heisst, es umzuprogrammieren, um damit das Leiden, aber auch die Kosten zu senken.
Datenbasierte Angst
Zugleich träte man aber in das ein, was man eine datafizierte Präventionsgesellschaft nennen könnte: in eine Existenz, die via Smartphone und Wearable permanent einer Semiotik des Misstrauens unterworfen wird. Jede Faser des Körpers, jede Unstimmigkeit oder Unebenheit des Geistes würden stets nach Abweichungen von der Normal- oder Idealform abgetastet, gewogen oder gesichtet, so dass nichts dem blossen Schicksal, nichts dem groben Verschleiss überlassen bliebe. Leben wäre – um es mit Michel Foucault zu sagen – tatsächlich ständige, datenbasierte Sorge um sich selbst. Doch kann man jemals gesund genug sein oder wirklich ausgesorgt haben?
In der Prävention liegt die produktivste und wohl auch lukrativste Antwort auf unser Sein zum Tode. Denn die Vorbeugung erkennt in der Sorglosigkeit die Nachlässigkeit, gibt eine Richtung vor, schafft Orientierung und legitimiert die Erhebung jedes noch so kleinen Datenpunktes.
Geht man also normalerweise davon aus, dass die Prävention nichts hervorbringt, weil sie zu vermeiden hilft, wissen die Konzerne aus dem Valley, dass das Gegenteil wahr ist. Denn wer vernünftig vorbeugen will, hat nie genug Daten gesammelt, hat nie genug Wahrscheinlichkeiten berechnet.
So kartieren GAFA und Co. vermeintlich nur die sichtbaren Oberflächen und Lebenswege, schaffen dabei jedoch ein präventionsindustrielles Wissensregime, das die Pfade des Wohlergehens vermisst und damit vorzeichnet. Unverbesserlich erscheint nur, wer sich nicht danach richtet.
Aus: NZZ online 21.2.2019