Mittwoch, 11. Juni 2025

Queere Tiere

Das Berliner Naturkundemuseum bietet einen Audioguide an, der unter dem Titel „Queering Nature“ unterschiedliche Formen von Geschlechteridentität bei Tieren erläutert und über den generellen Umgang mit Queerness in Wissenskommunikation und Gesellschaft informiert.

Die taz berichtet darüber: "Es geht um Fische, deren Geschlecht sich ändert. Darum, ob Pa­lä­on­to­lo­g*in­nen überhaupt feststellen können, welches Geschlecht ein Dinosaurier hatte, und wieso ein Wissenschaftler lieber wieder aus seinen Aufzeichnungen gestrichen hat, welche Sexualpraktiken er bei Pinguinen beobachten konnte." 


 

Dienstag, 3. Juni 2025

Wem gehört der Holocaust?

Avraham Burg

Niemand hat ein Monopol auf den Holocaust

Der frühere britische Premier Edward Heath bemerkte einmal, dass ein Diplomat „eine Person ist, die zweimal nachdenkt, bevor sie nichts sagt". Israels Botschafter Ron Prosor scheint für seine jüngsten Artikel in der israelischen und der deutschen Presse nicht ein einziges Mal nachgedacht zu haben, bevor er eine doppelte Portion an Propaganda und logischen Verzerrungen veröffentlichte. In dieser Zeitung griff er den israelischen Holocaust-Forscher Omri Boehm als „Sprachrohr des Antisemitismus von links" an. In der israelischen Presse ging er noch einen Schritt weiter: Boehm und andere, so Prosors Vorwurf dort, betrieben eine „kulturelle Geiselnahme" am Holocaust, indem sie ihn „in einen universellen Kontext" einbetteten und seiner „jüdischen Züge" beraubten. 

Getarnt mit der Sprache der „Gerechtigkeit", der „Menschenrechte" und der „legitimen Kritik an Israel", werde hier der Holocaust relativiert und Israel als jüdischer Staat delegitimiert. Heute, angesichts des wachsenden Antisemitismus und des verheerenden Krieges in Gaza, müssen wir erkennen: Es ist keine kulturelle Geiselnahme, dem Holocaust eine universelle Bedeutung zuzumessen. Es ist eine vitale Entwicklung des Gedenkens hin zu Verantwortung. Der Horror des 7. Oktobers hat das Trauma Holocaust mit der Gegenwart verbunden und damit eine politische Atmosphäre befeuert, in der für Israel „alles erlaubt ist", um einen weiteren Holocaust an den Juden zu verhindern. Das müssen wir kategorisch zurückweisen. Nichts, was Israel den Palästinensern im vergangenen Jahrhundert zugefügt hat, rechtfertigt die Gräueltaten der Hamas, und nichts, was die Hamas getan hat, rechtfertigt Israels anhaltende Verwüstung im Gazastreifen. Ein Verbrechen wiegt ein anderes nicht auf. Die schrecklichen Taten der Hamas waren kein Holocaust. Und gerade weil wir den Holocaust erfahren haben, müssen wir mehr als alle anderen die ethischen v und rechtlichen Grenzen von Macht und Brutalität verstehen.

Doch stattdessen nutzen zu viele Israelis den Holocaust, um diese Grenzen aufzuheben. Wer die Universalisierung der Lehren aus dem Holocaust als Bedrohung der jüdischen Identität darstellt, verrät eine zentrale jüdische Tradition: Israels Gründer strebten in der Folge der biblischen Propheten eine Gesellschaft an, die von Gerechtigkeit geleitet wird und nicht von Militarismus oder Opferdenken. Prosors Artikel propagieren hingegen eine engstirnige, isolationistische Agenda, die das Gedenken als Waffe einsetzt, um das Unentschuldbare zu entschuldigen. Sich auf den Holocaust zu berufen, um sich gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht zu stellen, ist keine Erinnerung es ist eine Form der Holocaust-Leugnung. Das Argument, dass es die Einzigartigkeit des Holocausts schmälere, wenn seine Lehren verallgemeinert würden, ist eine gefährliche Täuschung. Die Besonderheit des Holocausts des systematischen Völkermords am jüdischen Volk bleibt vollkommen unversehrt, wenn seine Lehren für Juden, Palästinenser und alle Menschen gleichermaßen universell angewendet werden. 

Wenn Prosor diejenigen, die die universelle Bedeutung des Holocausts anerkennen, beschuldigt, ihn seiner jüdischen Züge zu berauben, ist das eine Manipulation, die die Realität auf den Kopf stellt: Die jüdische Zivilisation hat die Menschheit immer wieder in ihren Bann gezogen, nicht aber sich selbst isoliert. Den Holocaust als Ereignis mit universeller Geltung zu verstehen, stärkt seinen Platz in der Geschichte der Menschheit und sichert seine Lehren für zukünftige Generationen. Prosor wirft anderen vor, die Erinnerung an den Holocaust zu politisieren. Doch er verkörpert selbst diesen Missbrauch. Seine Behauptung, die Ausweitung der Bedeutung des Holocausts bedrohe die Legitimität Israels, ist ein intellektueller Bankrott. Und während er den linken Antisemitismus anprangert, verbündet sich seine Regierung mit Figuren wie Marine Le Pen, Viktor Orbán, Matteo Salvini und Geert Wilders und legitimiert sie als Gäste in Yad Vashem. Enge Beziehungen zu Donald Trump und Elon Musk, Unterstützern der AfD, runden diese groteske Allianz ab. 

Sollen diese Leute für uns künftig die Erinnerung an den Holocaust definieren? Für uns, die wir aus Sorge um das Gedeihen Israels seit Monaten davor warnen, dass die Zerstörung des Gazastreifens und des Westjordanlandes untrennbar mit der Gefahr eines inneren Zusammenbruchs moralisch wie politisch verbunden ist? Sollen wir zulassen, dass diejenigen, die Le Pen und die AfD unterstützen, diktieren, dass die Verteidigung der Menschenrechte und des Völkerrechts linker Antisemitismus sind? Können wir diese Leute und ihren Botschafter als selbst ernannte Wächter über die deutsche und israelische Moral akzeptieren? Auf keinen Fall! Die Erinnerung an den Holocaust ist nicht das Privateigentum einer Gruppe. Sie ist ein lebendiges, sich entwickelndes Erbe. Im Laufe der Zeit muss die Erinnerung wachsen und für jede neue Generation Relevanz gewinnen. In einer Zeit des wiederauflebenden Antisemitismus ist die Monopolisierung des Holocausts kein Schutz sie ist Verrat. Seine Einzigartigkeit muss bewahrt werden, die Lehren aber müssen universell gelten. Nur so stellen wir sicher, dass niemand vergisst. 

Der Autor war Präsident der israelischen Knesset.                  

Sonntag, 25. Mai 2025

Männerphantasien

 Klaus Theweleit

"Diese Männer sind nicht zu Ende geboren"

Wir leben in einer undenkbaren Zeit, sagt der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit. Soldatische Körper, leere Sprache, dreiste Lügen: Da entsteht eine neue Wirklichkeit.

Interview: Lenz Jacobsen und Livia Sarai Lergenmüller

Aus: DIE ZEIT, 16. Mai 2025


Sein Buch "Männerphantasien" war ein Ereignis: Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit hat 1973 als einer der Ersten den Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Gewalt auch psychoanalytisch untersucht und damit den Diskurs bis heute geprägt. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat er sich kaum öffentlich geäußert. Jetzt empfängt uns Theweleit in seinem Haus in Freiburg zum Gespräch. Es wird um Trump und Putin gehen, um die Rückkehr der soldatischen Männlichkeit, um Incels – und die Frage, ob man diese Gegenwart überhaupt verstehen kann.

ZEIT ONLINE: Herr Theweleit, wir hätten Sie für dieses Interview gern fotografiert. Sie wollten das nicht. Warum?

Theweleit: Es ist gerade nicht die Zeit für solche Personenunterstreichungen. Vor ein paar Wochen war in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Herfried Münkler, auf dem Foto ist er mit denkerischer Stirn zu sehen. In dem Gespräch trifft er lauter Voraussagen, was man von Putin erwarten kann, von Europa, von Trump. Willkürliche Einschätzungen, von denen die allermeisten wahrscheinlich nie eintreffen. Die Schrecken des Krieges, die fürchterliche Wirklichkeit, die zerfetzten Körper, die zerstörten Leben, die durch den Krieg zerstörten Gesellschaften kommen in dieser kühlen strategischen Rede nicht vor. Es ist so völlig unangemessen. Real ist an dieser Rede nur die maßlose Überschätzung der Eigenbedeutung des Redners. Das gilt genauso für die Fotos und die Äußerungen von Jürgen Habermas in derselben Zeitung ein paar Tage später.

ZEIT ONLINE: Sie stören sich an der Inszenierung und an der Selbstgewissheit?

Theweleit: Absolut. Am gesamten Sprachgestus, nicht nur bei Münkler und Habermas. In einem Zeitungskommentar schrieb ein Journalist neulich, "Putin spielt auf Zeit". Was sind das für irre Wörter? Wie zu einem Fußballspiel. Oder wie aus einem Politikseminar: Wir hören deutsche Politikerinnen, die in jedem Land der Erde verbreitet haben, dass zu Putins Krieg immer das Adjektiv "völkerrechtswidrig" gehört. Das ist das Bodenloseste überhaupt: Das Völkerrecht ist Gerede. Daran können sich Leute halten, die einmal der Menschenrechtscharta zugestimmt haben, die anderen aber interessiert das null, Putin, Trump oder Netanjahu. Die politischen Reden geschehen mit großer Selbstverständlichkeit im Irrealen. Und die sogenannten Experten reden ihnen hinterher, als hätten ihre Stimmen Weltbedeutung.

Klaus Theweleit: "Diese Männer sind nicht zu Ende geboren"

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ZEIT ONLINE: Wie ginge es anders, wie könnten wir anders über die Welt reden?

Theweleit: In Claude Lanzmanns Filmen zur Schoah kommt der polnische Offizier Jan Karski vor. Dem war es während des Zweiten Weltkriegs gelungen, sich in eines der Vernichtungslager der Nazis in Polen einzuschleusen. Er sah, was die Nazis dort anrichteten, und berichtete an die polnische Exilregierung in London. 1943 bekam er Audienzen, auch bei Franklin D. Roosevelt in Washington. Roosevelt leitete ihn weiter an einen seiner Berater, Felix Frankfurter, einen der obersten Richter der USA, einen in Wien geborenen Juden. Als Karski fertig war mit seinem Bericht aus den Vernichtungslagern, stand der Richter auf und sagte: "Junger Mann, ich glaube Ihnen nicht." Denn: Er kenne die Menschheit, das menschliche Gehirn. Er sage nicht, dass Karski lüge, "ich sage, dass ich ihm nicht glaube". Als Karski Jahrzehnte später im Film Lanzmann davon erzählt, fügt er dem hinzu, wie zur Entschuldigung Frankfurters, dass er es selbst immer noch nicht glaube, obwohl er es gesehen habe. Niemand auf der ganzen Welt habe das glauben können.  

ZEIT ONLINE: Wir kommen nicht ganz mit. Warum erzählen Sie uns diese Geschichte?

Theweleit: Wegen des Schlusses, den Claude Lanzmann mit Karskis Hilfe daraus gezogen hat. Die Reaktion des Richters Frankfurter ist ihnen der Beleg dafür, dass es den Nazis tatsächlich gelungen war, jenen "neuen Typ Mensch" zu schaffen, von dem sie dauernd redeten. Mit den Nazis sei ein neues Denken und Handeln in die Welt gekommen, das man vorher nicht für möglich gehalten hätte. Es war zu unfasslich. Es legte das Handeln lahm und ließ das eigene Hirn daran zweifeln, was die Augen gesehen hatten. Mir scheint im Moment in der Welt etwas Ähnliches zu passieren. Was Trump und Putin und andere Potentaten tun, wie die reden – ich zum Beispiel habe das nicht für möglich gehalten.

“Daraus folgt, dass wir nicht so tun sollten, als könnten wir das alles, was um uns herum abläuft, verstehen und erklären wie den Lauf von Billardkugeln.”

ZEIT ONLINE: Und was folgt daraus?

Theweleit: Daraus folgt, dass wir nicht so tun sollten, als könnten wir das alles, was um uns herum abläuft, verstehen und erklären wie den Lauf von Billardkugeln. Ich habe am Abend vor Putins Überfall auf die Ukraine in einer Diskussion in einem Buchladen hier in Freiburg gesagt: Das macht er nicht, das ist ausgeschlossen. Und morgens um sieben sagt mir meine Frau, ich solle Radio hören. An meiner Einschätzung stimmte nichts. Das sagt doch etwas aus über die Mängel der eigenen Wahrnehmung.

ZEIT ONLINE: Sie haben sich deshalb seitdem drei Jahre lang kaum öffentlich geäußert. Jetzt aber geben Sie uns dieses Interview. Warum?

Theweleit: Ich möchte zumindest die Frage stellen, ob sich mit der Spezies Mensch nicht gerade wieder etwas vollzieht, wie in der Geschichte von Karski, das unsere Auffassungsmöglichkeit übersteigt. Und ob die floskelhafte und bescheidwisserische Sprache, in der öffentlich gesprochen wird, uns nicht eher im Weg steht. Politiker und andere tun so, als wüssten sie, wovon sie reden. Sie wissen es meist nicht.

ZEIT ONLINE: Wir haben eigentlich den Eindruck, dass das, was Sie vor fast 50 Jahren in Ihrem Buch Männerphantasien geschrieben haben, auch verstehen hilft, was heute passiert. Besonders das erneute Auftrumpfen einer bestimmten Form von gewalttätiger Männlichkeit. Wir haben Ihnen ein Bild mitgebracht, das Elon Musk gepostet hat.

Das erinnert uns sehr an die "Panzermenschen", die Sie in Männerphantasien gezeigt und beschrieben haben.


Theweleit: Ja, das ist sehr ähnlich. Ohne massive Gewaltanwendung könne man auch nicht friedlich sein, sagt Mr. Musk. So wie der Körpertyp, um den es hier geht, immer behauptet, aus Notwehr zu handeln – weil der Rest der Welt ihm den Platz zum Leben nimmt und seine Körperlichkeit zu zerstören droht. Sein Körper droht ständig zu fragmentieren. Wogegen er sich zu panzern versucht. Seine Daseinsweise ist Gewalt.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit fragmentierendem Körper?

Theweleit: Diese Männer sind, wie ich das nenne, "nicht zu Ende geboren".

"Das ist das angstbesetzte Männlichkeitsprinzip"

ZEIT ONLINE: Wir Menschen kommen alle unfertig auf die Welt.

Theweleit: Aber wie man sich dann entwickelt, ist bei jedem verschieden. Ein Babykörper, der freundlich behandelt wird, entwickelt das, was die Psychoanalyse die libidinöse Besetzung der Haut nennt, der eigenen Außengrenze; durch Berührung, durchs Gehaltenwerden, durchs Füttern. Diese Erfahrungen ermöglichen es kleinen Kindern, sich aus der Symbiose mit der Mutter herauszuentwickeln. Das Kind lernt, sich als ein von der Umwelt und anderen Menschen unterschiedliches Selbst wahrzunehmen. Es entwickelt ein Gefühl für die eigenen Grenzen. Es wird ein Ich. Wenn man geprügelt wird, kaltgelassen, nicht regelmäßig gefüttert oder anders abgelehnt wird, gelingt das nicht.

ZEIT ONLINE: Was passiert dann?

Theweleit: Dann flüchtet man vor diesen intensiven und negativen Reizen nach Innen. Der Körper füllt sich mit Ängsten, die nicht nach außen abführbar sind. Das ist das angstbesetzte Männlichkeitsprinzip, das ich beschrieben habe. Deshalb versuchen sich diese Männer, einen Panzer zu bauen, und deshalb sprechen diese Männer immer in Notwehr. Ihr Hauptmittel der "Kommunikation" wird Gewalt. Die Selbstpanzerung ersetzt ihr Ich.

ZEIT ONLINE: Auch bei Politikern.

Theweleit: Hitler redete nur in behaupteter Notwehr. Die ganzen Dreißigerjahre hindurch sagte er, Deutschland sei zerschnitten worden. Elsass-Lothringen, Saarland und Nordschleswig weg, Oberschlesien weg und polnischer Korridor. Das sollte alles wieder dran sein, eine Körperganzheit werden. Die Nazis haben ihre Deutschlandkarten mit dicken Rändern gezeichnet: Deutschland ausgeschnitten aus der Welt. Dann fügten sie einen Teil nach dem anderen wieder an: Saarland, Nordschleswig, polnischer Korridor, Oberschlesien, Münchner Abkommen. Und als er so weit war, griff Hitler Polen an. "Make Germany Great Again" war das Programm. Mit Österreich dran war der Körper dann komplett, "heil". Was Trump jetzt erzählt, mit der Bay of America, Grönland, Gaza oder Panama, ist etwas sehr Ähnliches.

“Männer weltweit sind nach wie vor eine Spezies, die Leute hervorbringt, die Lust am Töten haben.”

ZEIT ONLINE: Sie skizzieren in Männerphantasien das, was Sie "soldatische Männlichkeit" nennen. Beobachten Sie seit dem Überfall Putins auf die Ukraine und der Aufrüstung in Europa eine Rückkehr dieser Form von Männlichkeit?

Theweleit: Natürlich, das ist leicht zu sehen und läuft schon seit spätestens dem jugoslawischen Zerfallskrieg in den 1990er-Jahren. An den Befunden ist nicht viel zu ändern: Die Töter töten, die Vergewaltigungen geschehen, Opfer sind überwiegend Zivilisten. Die Zahl der Femizide steigt. Männer weltweit sind nach wie vor eine Spezies, die Leute hervorbringt, die Lust am Töten haben. Auch der Terror der Hamas fügt dem nichts hinzu, was wir nicht schon an anderer Stelle gesehen hätten. Wer all dies kennen will, kennt das. Wechselnd ist die Intensität, mit der der Horror abläuft in den verschiedenen Weltteilen. Über Krieg habe ich dabei nie geschrieben. Sondern über Gewalt von bestimmten Männern. Über die Lust an der Gewalt und die Lust am Töten. Die ist nicht an den Krieg gebunden.

ZEIT ONLINE: Was macht diese Lust aus, warum ist gerade das Militär so attraktiv für die Sorte gewalttätiger Männer, die Sie beschreiben?

Theweleit: Vielen dieser Männer mit den angsterfüllten Körpern hilft das Militär. Sie genossen und genießen seine Zwangsstruktur. In Deutschland bis 1945 galt das Militär als Stätte männlicher Neugeburt. Es half, aus der als negativ empfundenen Verbindung mit dem Prinzip Weiblichkeit herauszukommen. Der Typ, der sich panzert, wandelt die körperlichen Symbiosen in Hierarchien um. Das ist der Grundprozess des sogenannten faschistischen Handelns. Alles, was mal symbiotisch war, alles was in Beziehungen wurzelte, wird in ein abgestuftes, hierarchisches Gesellschaftsprinzip umgewandelt. Das geht, wie wir jetzt lernen, auch ohne Militär.

“Wir haben es aber zu tun mit Menschen, die sozusagen körperlich antidemokratisch sind.”

ZEIT ONLINE: Die klaren Hierarchien ersparen mühsame Beziehungsarbeit.

Theweleit: Die ja eine Arbeit unter Gleichen sein sollte. Wir haben es aber zu tun mit Menschen, die sozusagen körperlich antidemokratisch sind. So viel kann man sagen. Sie bauen zwanghaft ihr Leben lang an der Unverletzlichkeit ihrer Körpergrenzen. Ihr Panzer wird brüchig, sobald komplizierte Situationen an den Körper herankommen. Dazu gehören Forderungen von Frauen, dazu gehört auch die Erotik. Jede differenzierte Wirklichkeit bedroht sie sofort, alles um sie herum soll genau so funktionieren, wie sie sich das zwanghaft vorstellen. Deshalb kommt dann bei den Incels raus: Keine Frau genügt meinen Ansprüchen.

ZEIT ONLINE: Ausgangspunkt ihrer Analyse in Männerphantasien waren die Aufzeichnungen von Freikorpskämpfern in den 1910er- und 1920er-Jahren. Das ist nun hundert Jahre her. Seitdem hat sich doch einiges verändert, Jungs werden anders erzogen, einfühlsamer, liebevoller.

Theweleit: Natürlich, da hat sich ungeheuer viel verändert! Mein Vater sagte noch: Wer seine Kinder liebt, züchtigt sie. Das stehe in der Bibel. Das war der einzige Satz, den er je aus der Bibel zitierte. Meine Generation musste aber nicht mehr zum Militär. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren haben wir als Jugendliche einen spezifischen Blick entwickelt. In der Stadt flanierend, von Flipperhalle zu Flipperhalle, sagten wir: "Sieh mal den da drüben. In welchem KZ der wohl Wächter war." Das war unser Blick auf "die Alten". Dann kamen in den Sechzigern und Siebzigern politisch der Antikolonialismus dazu, der Feminismus und die Ökos. Durch all das ist der Giftpegel, wie ich das nenne, bei uns deutlich gesunken.

ZEIT ONLINE: Aber jetzt steigt er wieder.

Theweleit: Ja, jetzt steigt der Giftpegel wieder.

ZEIT ONLINE: Wie erklären Sie sich das?

"Rechts aus Verlassenheit"

Theweleit: Erklären wäre zu viel gesagt. Aber es könnte die Reaktion auf ein Vakuum sein. Es passiert ja nicht zum ersten Mal. Thomas Heise hat in den Neunzigern den Dokumentarfilm Stau gemacht, über rechte Jugendliche in der Ex-DDR, in Halle-Neustadt. Die liefen durch die Straßen und grölten rassistische Parolen. Viele waren Kinder alleinerziehender Mütter, die mit der sogenannten Wende die Strukturen verloren, die sie sich in der DDR aufgebaut hatten. Diese Jungen kamen nicht aus dem Militär, hatten nicht die prügelnden Väter erlebt wie die Freikorpsleute. Einige waren arbeitslos, mit 16, suchten eine Stelle, bestanden eine Prüfung nicht, flogen raus, hatten nichts. Vorher gab es in der FDJ immer jemanden, den sie ansprechen konnten, sagt einer. Dieses Gerüst fiel weg. Manche waren aus Überzeugung rechts, andere aber waren rechts aus Verlassenheit, weil sie in einem Vakuum waren.

ZEIT ONLINE: Und dieses Vakuum füllten dann Neonazis.

Theweleit: Westdeutsche Neonazirechte, die sich um die Jugendlichen kümmerten. Während der "liberale Westen" ihre Jugendzentren dichtmachte. Diese Jugendlichen sind heute im guten AfD-Alter.

ZEIT ONLINE: Auf welches Vakuum ist dann der jetzige maskuline Backlash eine Reaktion?

Theweleit: Das Vakuum ist an verschiedenen Stellen der Welt und zu verschiedenen Zeiten ein anderes. Wir sollten nicht glauben, wir könnten alles mit einer Sache erklären. Im neuen Nachwort der Männerphantasien habe ich Untersuchungen von Shereen El Feki an arabischen jungen Männern aus Ägypten, dem Libanon, Marokko und Palästina zitiert, die sich regelrecht "entmannt" fühlen, wenn sie keinen Job haben. Sie sollen ihre Familie ernähren, können es aber nicht. Sie fühlen sich im Geschlechtsteil bedroht, sprechen tatsächlich von Kastration. Das ist in unserer Kultur nicht ganz so krass.

ZEIT ONLINE: Auch in westlichen Ländern ist das männliche Versorgermodell auf dem Rückzug, alte Industriejobs gehen verloren, Jungs schwächeln in der Schule. Das sind ja reale Erfahrungen. Bei der Bundestagswahl war die AfD bei Männern zwischen 35 und 44 Jahren die stärkste Partei.

Theweleit: Ja, aber ich vermute mittlerweile, man kann von der Struktur der laufenden Entwicklungen am ehesten etwas wahrnehmen, wenn man auf das große Wort "verstehen" verzichtet. Das Eingeständnis, dass wir es mit etwas Ungewohntem zu tun haben, womöglich mit einer neuen Art Wirklichkeitsauffassung, wäre angemessener.

ZEIT ONLINE: Neue Art der Wirklichkeitsauffassung – was meinen Sie damit?

Theweleit: Ich habe die angstbesetzte, gewalttätige Männlichkeit beschrieben. Denken Sie an den Attentäter von Halle: Als es ihm nicht gelingt, die Tür zur Synagoge aufzubrechen, beschimpft er sich selbst als Flasche, die wieder mal alles verkackt hat. Dabei filmt er sich. Aber das, was jetzt passiert, was Trump, Putin oder auch Le Pen oder Weidel machen, das hat eine Seite, die angstfrei scheint. Eine neue Sorte auftrumpfender Überlegenheit. Das zieht Leute an. Sie lügen und betrügen völlig unverblümt, sie verdrehen alles, wie es ihnen passt, und sie sind sicher, dass ihre Anhänger genau das wollen. Es ist ein Sprung in eine neue Art des Umgangs mit der Wirklichkeit.

“Man hört sie immer dasselbe sagen, als seien wir alle schwer von Begriff.”

ZEIT ONLINE: Für die Ihnen aber noch das Instrumentarium fehlt, die Sprache?

Theweleit: Ja, die Sprache, die ich allenthalben höre, fasst es nicht. Das ist wie bei den Quantenphysikern, die keine Worte mehr finden für die Fähigkeiten der neuen Computergenerationen, die sie erfinden. Gottfried Benn schrieb, unsere Sprache sei hinter der tatsächlichen Entwicklung der Menschheit weit zurück. Auch deshalb wirkt das Gerede von Politikern heute so formelhaft. Man hört sie immer dasselbe sagen, als seien wir alle schwer von Begriff. Diese Sprache ist auch eine Art Panzer, der vor dem schützt, was schon real ist, aber was man nicht beschreiben kann oder will. Ich bin allerdings in der glücklicheren Lage, mich nicht äußern zu müssen. Diese Freiheit haben die Politprofis nicht.

ZEIT ONLINE: Das Spektakuläre an den Männerphantasien war, dass es Ihnen gelang, mithilfe der Psychoanalyse eine neue Sprache für männliche Gewalt zu finden. Was ist in der jetzigen Phase psychoanalytisch das Neue, was gibt es hinter den Ideologien zu entdecken?

Theweleit: Es gibt Neues zu entdecken, wenn man die Elektronik miteinbezieht. Eine riesige Masse von Leuten, die vorher im Dunkel saßen, können sich heute übers Netz verbinden und für jede Scheiße, die sie schreiben, Millionen Klicks und eine imaginäre Macht kriegen, die sich politisch in Wirklichkeiten umsetzen lässt. Auch die Strategie Flood the zone with shit geht nur dank der Elektronik. Man darf über jeden irgendeinen Blödsinn verbreiten, vollkommen egal, ob das stimmt, und kommt damit durch.

ZEIT ONLINE: Warum?

Theweleit: Weil zum Beispiel die Fernsehmoderatoren völlig hilflos damit umgehen. Die glauben noch, wir könnten mit solchen Leuten argumentieren. Jedes Mal wieder reden sie auf die ein und rechnen denen vor: Das stimmt doch nicht, was Sie sagen, Frau Weidel. Aber man kann doch nicht mit Leuten argumentieren, die erstens wissen, dass es nicht stimmt, was sie erzählen, und die zweitens triumphieren, dass sie damit durchkommen. Sie wissen, dass ihre Anhänger das, was andere "Argumente" nennen, lächerlich finden.

“Man kommt nicht umhin, heute das Elektronische als Körperteil wahrzunehmen.”

ZEIT ONLINE: Wie kommt es zu diesem neuen Denken und was haben die elektronischen Medien damit zu tun?

Theweleit: Man kommt nicht umhin, heute das Elektronische als Körperteil wahrzunehmen. So wie in den Jahrhunderten zuvor das Maschinelle zum Teil unserer Körperlichkeit wurde. Die Elektronik verändert früh die Gehirne, verschaltet die Synapsen anders. Das kann man mittlerweile neurologisch nachweisen. Ich bin nicht etwa gegen Elektronik, im Gegenteil. Die Bekämpfung des Klimawandels geht nur unter Anwendung neuester Technologien. Aber meiner Frau, mit ihrem Blick als Psychoanalytikerin auch für Kinder, fallen dauernd Kinder auf, die schon im Kinderwagen einen Monitor in der Hand haben. Angeschoben von Eltern, die am Handy hängen. Auch da entsteht so etwas wie ein Beziehungsvakuum.

"Das geht nur mithilfe von Frauen"

ZEIT ONLINE: Junge Männer scheinen auch davon besonders betroffen, sie orientieren sich im Digitalen teils an Vorbildern, die man heute toxisch nennt. Für sie bräuchte es doch ein Angebot, eine attraktive Männlichkeit, in die sie hineinwachsen können, die weder gewalttätig ist, noch einfach nur in der Übernahme weiblich konnotierter Eigenschaften besteht.

Theweleit: Man muss dafür keine feminisierten Rollen annehmen. Wieso sollte das Kümmern um Kinder nur eine weiblich konnotierte Eigenschaft sein? Meine Frau und ich haben uns die Kinderbetreuung geteilt, beide mit Halbtagsjob, sie als Psychologin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, ich als Halbtagsschriftsteller. Das war gut machbar. Es ist nur schlecht für die Rente, sonst war das prima. Zur männlichen Selbstverpflichtung gehört es in meinen Augen, die in den eigenen Körper eingegangenen Gewaltformen zu bemerken und sich davon zu entfernen, sie abzubauen – so etwas wie die zivilisierende Aufgabe für Männlichkeit heute. Das geht nur mithilfe von Frauen.

ZEIT ONLINE: Das ist auch ihre persönliche Erfahrung?

Theweleit: Ich war als Junge ein ziemlich cholerischer Typ und habe mich dauernd geprügelt. Fußball half schon mal, aber wenn ich ein einigermaßen aushaltbarer Mensch geworden sein sollte, geht das überwiegend auf Frauen zurück.

“Das einzelne Subjekt aber gibt es nicht, das ist eine historische Schimäre.”

ZEIT ONLINE: Aus eigener Kraft kann der Mann es nicht schaffen.

Theweleit: Man sollte immer davon ausgehen, dass ein Mensch nicht alleine existiert. Die Zahl eins wäre zu streichen. Philosophen und Historiker gehen immer von der Zahl eins aus: Das Hirn denkt, das Subjekt agiert. Das einzelne Subjekt aber gibt es nicht, das ist eine historische Schimäre. Das Subjekt beginnt zwischen Zweien; dann Dreien, Vieren – die Konstellation ist erweiterbar. 

ZEIT ONLINE: Sie meinen, man steht immer in Beziehung zu anderen.

Theweleit: Ja, und wenn man diese Beziehungen abschneidet, wie es bei den bekannten Attentätern gut belegt ist, endet das in Gewalt. Menschen können sich überhaupt nur durch Beziehungen verändern und entwickeln. Man selbst bildet sich ja alles Mögliche über die eigene Struktur ein, das bedeutet aber nichts.

ZEIT ONLINE: Was bedeutet das für die Politik? Gibt es beispielsweise einen Umgang mit der Bedrohung durch Russland, mit der Möglichkeit eines Krieges, der nicht in die alten Muster soldatischer Männlichkeit zurückfällt?  

Theweleit: Das Erste wäre, zu begreifen, dass die eigene Redeposition keine Machtposition ist. Das, was wir ins Private oder ins Literaturhaus hineinreden, kümmert sonst ja keinen Menschen. Das halten die meisten Leute schon nicht aus. Sie wollen, dass das, was sie sagen, bedeutungsvoll ist. Darin steckt der Anspruch einer Machtausübung, der leicht dazu führt, dass alles, was diese Machtausübung stört, unterdrückt wird; zum Beispiel andere Positionen oder die leidigen, sogenannten Widersprüche, die als störend empfunden werden und verschwinden sollen.

ZEIT ONLINE: Sie meinen die ganze performative Kriegsdiensterklärung, Promis, die sagen: "Ich würde kämpfen!"

Theweleit: Furchtbar! Ebenso wie diese Männer und auch Frauen, die aus ihren Talkshowsesseln heraus Waffen und Bomben fordern. So zu sprechen, finde ich, um es freundlich zu sagen, gedankenlos. Wenn man mal mit dem Nachdenken anfinge, würde man feststellen, wie tief man in den sogenannten Widersprüchen feststeckt. Ich kann sagen: Ich bin absolut gegen den Krieg. Was Putin tut, wird an dieser Haltung nichts ändern. Trotzdem hat die Ukraine natürlich das Recht, sich zu wehren. Und sie brauchen Waffen dafür, irgendwer muss ihnen die geben. Das widerstrebt vollkommen dem, was ich als absoluter Kriegsgegner denke. Ich gehe aber deshalb nicht auf die Straße und halte Transparente hoch mit der Aufschrift "Keine Waffen für die Ukraine". Passiver Widerstand zum Beispiel wurde nicht einmal erwogen. Solche Gemengelagen sind voller Widersprüche, sie sind nicht mit irgendeiner Logik auflösbar.

ZEIT ONLINE: Gilt das auch jenseits des Ukrainekriegs?

Theweleit: Ja. Die Hamas will Israel auslöschen, Netanjahu die Hamas. Das heißt, diese Lage ist ein unlösbares Problem. Das dauerpräsente Allmachtsgerede, das auch dazu beinahe alle Medien durchzieht, das so tut, als hätte es Lösungen, löst nichts.

ZEIT ONLINE: Wie hält man das aus?

Theweleit: Nicht irre zu werden an der "Konstruktion Mensch" ist schon eine ziemliche Kunst. Man kann von der Psychoanalyse unter anderem lernen, sich mit der eigenen tatsächlichen Ohnmacht vertraut zu machen. Denken wir noch mal an die Geschichte von Karski. Hitler und Eichmann waren nicht zu stoppen, schlossen Karski und Lanzmann, da kein real existierender Mensch es glauben konnte, was die betreiben. An solche Verschiebungen im Realen kommt man nicht heran, indem man einer Partei beitritt oder sowas. Das funktioniert alles nicht. Es geht nur über die Art des Zusammenlebens. Das ist meiner Meinung nach ein wirklicher, für die einzelnen Menschen gangbarer Weg. Es gibt doch genug Vernünftiges und Hilfreiches, was man im Alltag tun kann, in aufmerksamen Lebensabläufen, und in dem, was man schreibt und sagt. Ich muss mir dabei nicht einbilden, ich könnte einen Putin oder einen Trump bekehren. Die können mich mal. Oder nein: besser nicht zu nah ranlassen.



Samstag, 24. Mai 2025

Höre Israel!

 Elfriede Jelinek

Auf ihrer Website hat sie am 2.April 2025 folgenden Text veröffentlicht:

"Höre, Israel!
Ich versuche das für mich große Wagnis, an Stelle eines reflexhaften und auch ausgehöhlten, formelhaften Kampfs gegen Antisemitismus, der jedoch leider immer noch sehr nötig ist, alle Opfer des Gazakrieges in den Blick zu nehmen. Ich versuche es, hier, es ist ja nur geschrieben, Geschriebenes tut niemandem weh:
Schmerz verheißen dagegen breitbeinige Herrenmenschen in palästinensischen Siedlungen, mehr Einschüchterung geht von keinem Körper aus, der irgendwo steht, doch dieser Körper steht im Irgendwo, in fremdem Leben, auf fremdem Grund.
Wir aber hangeln uns von einer Antifaschismus-Demo zur nächsten, schleppen uns im Chor der Gleichgesinnten, die nur auf Gutes sinnen, über die Straßen. Von irgendwoher schreit eine Gegendemonstration, aber wir stehen bomben-fest auf unserer anständigen Gesinnung, die ausnahmsweise wirklich anständig ist, sich nicht nur als solche herausgeputzt hat. Wir meinen es ernst und ehrlich, wir meinen es gut mit allen Seiten, aber mit einer etwas mehr, sehr viel mehr. Israel muß leben, die Palästinenser soll man aber auch leben lassen. Haben wir nicht große Opfer aufeinandergehäuft, indem wir große Teile der europäischen Judenheit (na ja, es waren unsere Eltern und Großeltern, die das getan haben, doch wir nehmen sie auf uns, vor Rechtschaffenheit in diesem kollektiven schuldhaften Wir) vernichtet haben wie Ungeziefer? Wir stehen zurecht da, auf sicherem Grund, den wir uns aber durch kein Opfer verdient haben, den uns aber auch niemand streitig macht, sonst würden wir nicht immer wieder und zu Recht, es ist unsere Pflicht! aufstehen gegen Rechts und Antisemitismus, wir sind dabei! Wir sind da immer dabei, wie die lieben Soletti-Salzstangerln!
Dienen sollen diesem edlen Ziele andre, wir sind ja nicht dort, sondern hier, und zahlen sollen sie auch noch, mit der Zerstörung ihrer Häuser, der Schleifung ihrer Siedlungen, dem Tod von Zehntausenden, mehrheitlich Frauen und Kindern. Für unsere philosemitische Symbolpolitik, in der wir uns wohlig einrichten, wir sind ja die Guten, ist das ganz schön viel Arbeit. Zum Glück müssen wir sie nicht machen. Immer andere müssen es machen.
Doch der moralische Schutzwall, den wir, um unserer, der Nachgeborenen Rechtschaffenheit auch ordentlich zu beweisen (und uns bequem darin zu suhlen, gestorben wird ja woanders), errichtet und, wenn es um nichts geht, für uns geht es ja auch um nichts!, schön geschmückt und mit unserem Eifer bemalt haben, dieser Wall muß teuer bezahlt werden: Siedlerkolonialismus unter Mißachtung von Völkerrecht und Menschenrechten, ethnische Säuberung für ein gelobtes Land, das allen Juden gehört, ja, allen, aber sonst niemandem, egal, wer vorher dort gelebt hat. Die noch da sind, müssen alle weg. Die jetzt noch woanders sind, sollen kommen. Sie allein gehören dort hin, sonst niemand, höre, Israel! Du bist Alleinherr! Der Ewige, unser Gott, ist eins. Wir sind uns doch einig? Nur einer, nur unsrer soll es sein, und hier in diesem geschundenen Land soll er wohnen.
Israel ist, verglichen mit den arabischen Despotien, ein demokratisches Land mit freien Wahlen, und die Politik eines verbrecherischen Bibi (was für ein netter Kosename!) Netanyahu wird wohl nirgends so bekämpft wie in Israel selbst, von Demokraten, die gegen diese rechtsextreme Regierung aufstehen, immer wieder. Und nur diese Menschen, die da auch über die Straßen ziehen, wie wir, haben das Wohl der Geiseln im Auge, die es ja noch gibt, wer weiß, ob sie noch leben. Hauptsache, Bibi sitzt fest im Sattel!
Doch der Inhalt einer einzigen Internetausgabe der israelischen Tageszeitung Haaretz reicht aus, um den Bogen von den historischen Plänen zur Annexion Gazas (unter "Ausdünnung" seiner Bevölkerung) nach dem Sechstagekrieg, die jetzt, zum heuchlerischen Erstaunen der Öffentlichkeit, Realität zu werden drohen, bis zu den Vertreibungsphantasien und der entsprechenden Kriegsführung der Regierung Netanyahu zu spannen.
Und dazu die faktisch bedingungslose Israel-Solidarität Deutschlands und Österreichs, der ehemaligen Täterländer, die aber mit immer größer werdenden wirtschaftlichen Interessen auftreten (Kurz-und-Klein-Schlagen nehmen die Profiteure in Kauf, sie müssen ja nicht um Boden kämpfen, der Boden wird ihnen schon fertig aufbereitet und serviert für ihre Geschäfte und die andrer. Irgendwann werden hier Luxushotels stehen! Wer könnte das nicht wollen!). Die von den Nazis zerstörten Leben der europäischen Juden werden als neue Währung auf den Tisch der Geschichte geworfen, diesmal zahlen andre, darunter eine Unzahl genauso Unschuldiger. Hören Sie: Nicht alle Palästinenser sind Hamas-Sympathisanten, nicht alle Palästinenser setzen auf einen Terror, der ja auch gegen sie ausgeübt wird.
Die faktisch bedingungslose Solidarität mit Israel als Doktrin der Außenpolitik unserer Länder, die zur Staatsräson erklärt wurde, das ist aus dem berühmten, aber leeren "Nie Wieder" geworden, eine leere Schrapnellhülle, ein mit Bombenteppichen belegter Boden, auf dem nichts mehr wächst und nichts mehr aufsteht, aber unseren rechtschaffenen Bürgern, die auf der richtigen Seite sind, wie immer, die Füße wärmt.
Wir, die es wagen, sowas und ähnliches zu schreiben, sollten uns, an Stelle einer nur reflexhaften, geschichtsgeblendeten und unreflektierten "proisraelischen" Position der Politik und Öffentlichkeit unserer Länder, besser an der Seite der verzweifelten Bemühungen israelischer Menschenrechtsgruppen wie z.B., des israelischen Informationszentrums für Menschenrechte in den besetzten Gebieten stellen, die unausgesetzt ignoriert oder desavouiert werden.
Bis auch noch die letzte Geisel tot ist. Von den immer noch schmachtenden Geiseln ist nämlich immer weniger die Rede, als hätten sie sich alle in Luft aufgelöst. Wie die europäische Judenheit im Rauch der Konzentrationslager. In der Vergangenheit haben immer wieder Politiker (Kreisky, Brandt und wenige andre) versucht, dieser geschundenen Region Frieden zu verschaffen. Dem Frieden dienen wir derzeit nicht.
Der ist offenbar derzeit nicht zu schaffen ohne Waffen. Aber Frieden wird er sich dann nicht mehr nennen dürfen. Er muß aber zu schaffen sein, endlich ohne Waffen."
Veröffentlicht am 02.04.2025 auf elfriedejelinek.com

Freitag, 9. Mai 2025

Populistische Kulturpolitik

Valeria Heintges

Bedrohen, einschüchtern, absetzen und totsparen

Was droht der Kultur, wenn populistische Regierungen das Sagen haben? Ein Blick in die USA, nach Ungarn, Deutschland – und in die Schweiz.

Aus: Republik, 12.04.2025


Die neuen Führer grüssen von der Wand des John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington. Links ein Porträt von Donald Trump. Daneben Melania, die sich resolut auf einem Tisch abstützt. Rechts daneben Vize­präsident J. D. Vance. Und schliesslich Usha Vance, drapiert vor einer amerikanischen Flagge.

Das Präsidenten- und das Vizepräsidenten­paar der USA. Und gleichzeitig die Leitungs­ebene, von rechts nach rechts aussen: der Vorsitzende des Kuratoriums, die Ehren­vorsitzende und, neben dem Ehemann, ein Mitglied des Kuratoriums.

Es war eine Nachricht, die die Welt erstaunte: Am 10. Februar entliess Donald Trump David Rubenstein, den Chairman des grössten amerikanischen Kultur­zentrums, und machte sich selbst zu dessen Nachfolger; er ernannte Richard Grenell zum neuen Interims­präsidenten und 14 neue Kuratoriums­mitglieder. Darunter Stabs­chefin Susie Wiles und Usha Vance, die Frau des Vize­präsidenten. Die meisten Demokraten im Komitee wurden entlassen, ebenso die noch amtierende Präsidentin Deborah Rutter.

Doch alarmierende Nachrichten kommen längst nicht nur aus den USA.

Der Kulturkampf von rechts findet nicht erst irgendwann in ferner Zukunft statt, sondern jetzt (…). Sein Ziel ist nicht allein, Feindbilder zu schaffen und Ressentiments zu bedienen – er richtet sich letztlich gegen die Aufklärung, die Menschen­rechte und die universelle Idee der Gleichheit aller Menschen.


Die Sätze aus der Broschüre «Alles nur Theater? Zum Umgang mit dem Kultur­kampf von rechts» stammen von 2019. Sie beschreiben einen Trend, der in Deutschland seit Jahren andauert und mit den Wahl­erfolgen der rechts­populistischen AfD an Dynamik gewinnt.

Die Kultur wird angefeindet. Nicht nur in den USA oder in Deutschland, sondern weltweit. Zum Beispiel in Argentinien, Russland, Serbien, im Iran, in der Slowakei, in Bulgarien.

«Kultur ist immer das erste Opfer rechter Regierungen», sagte der Schweizer Theater­macher Milo Rau letztes Jahr im Republik-Interview. Rau selbst erlebte die Folgen erst als Theater­leiter in Belgien. Und jetzt fürchtet er sie als Festival­chef in Österreich. In all diesen Ländern versuchen rechte und vor allem rechts­extreme Regierungen, die Opposition zu ersticken.

Und deshalb begrenzen sie zuerst die Macht der Kultur. Weil sich Kultur­betriebe für eine offene, diverse Gesellschaft engagieren, abwägend und diskussions­freudig Debatten offenhalten; weil sie tendenziell in Opposition zur Regierung stehen und sich für die Rechte von Minder­heiten einsetzen.

Rechtspopulistische Politik bedroht alle Kunst­sparten und viele Kultur­institutionen. Aber immer wieder stehen Theater im Kreuzfeuer der Anfeindungen. Sie sind besonders gefährdet, weil sie nur überleben, wenn sie staatlich subventioniert werden. Um ihre Arbeit zu behindern und langfristig unmöglich zu machen, müssen ihre Gegnerinnen ihnen nur die Zuwendungen streichen. Oder mit einer Politik der Nadel­stiche wie in der Schweiz deren Sinn, Zweck und deren Höhe immer wieder neu infrage stellen:

Deshalb kämpft die SVP einerseits gegen die Aufblähung der Kultur­bürokratie und andererseits gegen ideologisch motivierte, einseitige Förder­massnahmen, welche die aktuelle Kultur­politik prägen. Dasselbe gilt für unverhältnis­mässige Veranstaltungen, die nicht auf eine Nachfrage der Bevölkerung reagieren.

Aus dem SVP-Parteiprogramm.

Eine offene Kultur­gesellschaft stirbt nicht über Nacht. Aber Attacken wie in den USA überlebt sie nicht lange.

Es dauerte allerdings auch in Ungarn Jahre, bis die Kultur­betriebe ausgehöhlt waren. Heute kann man dort besichtigen, was übrig bleibt, wenn Populisten an die Macht kommen. Von ungarischen Verhältnissen sind Deutschland und die Schweiz noch weit entfernt. Noch.

1. USA: Kunst in Gefahr

Musicals, Musicals, Musicals. Und Auszeichnungen an Sportler. Das ist in etwa das Kultur­programm, das Donald Trump für das Kennedy Center vorschwebt. «Das Beste aus den Vierzigern bis Neunzigern, nichts von heute», fasste «Die Zeit» zusammen.

Das Kennedy Center wurde 1958 vom republikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower geplant. Seine demokratischen Nachfolger John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson führten die Idee fort. Das Kennedy Center for the Performing Arts ist einer der ganz wenigen nationalen Kultur­betriebe der USA – und war damit schnelle Beute für Donald Trump.

In einem Post auf seinem eigenen Social-Media-Kanal verhiess Trump, Richard Grenell würde seine Vision eines «GOLDENEN ZEITALTERS» der amerikanischen Kunst und Kultur teilen. Weiter hiess es: «NO MORE DRAG SHOWS, OR OTHER ANTI-AMERICAN PROPAGANDA – ONLY THE BEST. RIC, WELCOME TO SHOW BUSINESS!» (Keine Dragshows oder andere antiamerikanische Propaganda mehr – nur das Beste. Ric, willkommen im Show-Geschäft!)

In der Kulturszene wurde das als feindliche Übernahme gesehen und stiess auf breite Kritik, mehrere Künstlerinnen haben ihre Auftritte abgesagt, darunter Schauspielerin Whoopi Goldberg und Sängerin Rhiannon Giddens, die immer wieder auf die afro­amerikanischen Wurzeln der Country­musik hinweist.

Die neue Führung des Hauses cancelte derweil bereits diverse Vorstellungen, darunter eine Serie der Komödie «Eureka Day». Diese spiegelt die Diskussionen zwischen Lehrern und Eltern an einer privaten Grundschule wider, «die Inklusion über alles stellt» – bis ein Ausbruch von Mumps alle dazu bringt, «die liberale Impf­politik der Schule zu überdenken», wie es in der Ankündigung heisst. Als Grund für die Absage wurden finanzielle Probleme genannt. Das ist vorgeschoben: Das Stück lief kurz vorher erfolgreich am Broadway.

Noch immer heisst es im Credo des Kennedy Center, «Multi­kulturalismus ist einer der grössten Plus­punkte unseres Landes und seit Generationen die Seele unseres künstlerischen Ausdrucks». Man darf mutmassen, dass dieser Text demnächst geändert wird.

Denn das Wort multicultural steht auf der Liste der Wörter, die die Trump-Regierung laut einer Recherche der «New York Times» zum Verschwinden bringen will. Grob gerechnet zwei Drittel der fast 200 aufgeführten Wörter lassen sich mit den Programmen kritischer Kultur­betriebe verbinden: von activism oder anti-racism über climate crisis, cultural differences, diverse, female oder gender bis hin zu immigrants, inclusiveness, pronouns, transgender, underprivileged und women in Kombination mit under­represented. Die Begriffe tauchen bereits auf Tausenden Regierungs- und Behörden­websites nicht mehr oder deutlich weniger auf. Das ist Zensur. Kritische Stimmen reden sogar von «digitaler Bücher­verbrennung».

Längst hat sich Trump auch die anderen Künste vorgenommen. Bereits am ersten Tag seiner Präsidentschaft zog er die Executive Order – und 77 andere – zurück, mit der Präsident Joe Biden das «President’s Committee on the Arts and Humanities» wieder eingesetzt hatte. Es hatte bei politischen Entscheidungen und der Zusammen­arbeit mit dem privaten Sektor beraten.

Zudem will Trump Museen von «unangemessener Ideologie säubern» und die US-Geschichts­schreibung ändern; es habe in den letzten Jahren «konzertierte und weitverbreitete Versuche gegeben», die Historie umzuschreiben und Fakten durch ein verzerrtes Narrativ zu ersetzen, das eher von Ideologie als von Wahrheit bestimmt gewesen sei. (Dass eher das Gegenteil wahr ist und diese Verdrehung der Tatsachen Teil der Strategie ist, steht auf einem anderen Blatt.) Vize­präsident J. D. Vance soll deshalb die renommierte Smithsonian-Institution auf Linie bringen. Sie umfasst 21 Museen, 14 Bildungs- und Forschungs­zentren und den Nationalzoo in Washington.

Wohin wird das führen? Zu einer Kunst, die gleich­geschaltet ist und kaputt­gespart. Wie in Ungarn.

2. Ungarn: Gleich­geschaltete Kunst

Nach Jahren der Repression holte die ungarische Regierung 2019 zum finalen Schlag gegen die subventionierten Häuser aus. Mit dem sogenannten «Kulturgesetz» stellte sie viele der bisher noch eigenständigen Kultur­betriebe, vor allem Theater, unter die Kontrolle eines «Nationalen Kulturrats». Das sollte «die strategische Lenkung der kulturellen Sektoren durch die Regierung gewährleisten». Von da an hatten die Institutionen die Wahl: entweder auf Subventionen verzichten oder staatliche Eingriffe akzeptieren.

Manche Theaterleute gründeten eigene Ensembles, mit denen sie in Häusern der freien Szene ab und zu noch arbeiten konnten. 2023 kam der Todesstoss, als den freien Häusern, die ohnehin nur noch dank internationaler Koproduktionen überlebten, die Subventionen erneut um 40 Prozent gekürzt wurden. In der Folge schlossen die Kunstorte, die Künstler verlegten ihre Aktivität endgültig ins Ausland. «Kultur kann in Ostmittel­europa nicht ohne staatliche Förderung bestehen», konstatiert der Theater­kritiker Tamás Jászay.

Um die Kultur auszuhöhlen, war keine brachiale Gewalt nötig, wie der renommierte ungarische Theaterregisseur Árpád Schilling erklärt:

In Ungarn werden Theater­regisseure und -intendanten nicht inhaftiert oder unter Haus­arrest gestellt wie in Russland. Orbáns Ordnung braucht keine Gewalt und keine Repressionen, sie funktioniert über Geld und gesetzliche Bestimmungen. Kritiker werden ausgeblutet, viele wandern einfach aus.

Schilling lebt mittlerweile in Paris und arbeitet an internationalen Häusern, im Januar inszenierte er die Oper «Eugen Onegin» an den Bühnen Bern. Auch seine Kollegen Viktor Bodó oder Kornél Mundruczó arbeiten international, Mundruczós letzte Arbeit «Parallax» feierte Premiere an den Wiener Festwochen und konnte nur zustande kommen, weil sich elf Koproduktions­partner beteiligten. Der Abend, der über drei Generationen die Geschichte einer Familie zwischen Holocaust und Antisemitismus, Identitäts­findung und Leben in der LGBTQIA+-Szene erzählt, ist die erste Arbeit des Künstlers, die überhaupt nicht in Ungarn gezeigt wurde.

Dort sind mittlerweile andere Werke gefragt. Die auch auf Deutsch erscheinende Website «Ungarn heute» lässt wissen, dass der stellvertretende Staats­sekretär des Verteidigungs­ministeriums, János Czermann, und der Generaldirektor des National­theaters in Budapest, Attila Vidnyánszky, im Kultur­zentrum der Streitkräfte eine Kooperations­vereinbarung unterzeichnet hätten.

Czermann sagte demnach, die Militär­kultur und die künstlerischen Aktivitäten, die von den Soldaten repräsentiert werden, einschliesslich der Militär­musik, der Militär­lieder und der historischen Lieder, seien eindeutig Teil der Kultur und auch wichtige Instrumente der Verteidigungs­erziehung und der -ausbildung.

Vidnyánszky erklärte, das National­theater und das Verteidigungs­ministerium verbinde das gleiche Ziel, eine sich entwickelnde, sich bildende Generation dazu zu erziehen, ihr Land zu lieben und ihm zu dienen. Stücke würden deshalb an den Heldenmut der ungarischen Soldaten im Ersten Weltkrieg erinnern. Ohnehin habe sich das National­theater auf die Fahnen geschrieben, Inszenierungen zu präsentieren, «in denen man sich mit den Protagonisten identifizieren kann und die Werte vermitteln, die das Land aufbauen».

Ob dies das Theater ist, das die Leute sehen wollen?

Es ist mit seinem klar didaktisch-populistischen Auftrag jedenfalls ein Theater, wie es auch der deutschen AfD gefällt.

3. Deutschland: Kunst­anfeindungen in der Fläche

Im Juni 2017 schlug Hans-Thomas Tillschneider, der kultur­politische Sprecher der AfD-Landtags­fraktion Sachsen-Anhalt, vor, den Operndirektor der Bühnen Halle zu ersetzen und als Nachfolger einen «Charakter­kopf vom Format eines Attila Vidnyánszky» zu suchen. Tillschneider, der dem rechts­extremen Flügel um Björn Höcke zugeordnet wird, hat auch Ideen, wie die Theater auf gesicherte Beine gestellt werden können. Statt etwa das Rainer-Werner-Fassbinder-Stück «Angst essen Seele auf» zu zeigen – der Filmer und Dramatiker gilt immerhin als einer der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films – und Flüchtlingen vergünstigte Tickets zu gewähren, schlägt Tillschneider vor:

Würden zeitgemässe und gediegene, stolze und intelligente Werk­interpretationen geliefert statt hohler Experimente und statt dümmlicher Willkommens­propaganda – ich bin mir sicher, wir würden die Krise des Theaters, und zwar nicht nur die finanzielle, überwinden.

Die AfD hat konkrete Pläne für die Kultur. Als Marc Jongen 2018 die Aufgabe als kultur­politischer Sprecher der AfD-Bundestags­fraktion übernahm, gab er als Parole aus: «Es wird mir eine Ehre und Freude sein, dieses Amt auszuüben und die Entsiffung des Kultur­betriebs in Angriff zu nehmen …»

Das AfD-Parteiprogramm gibt sich zu Kultur­fragen eher kurz angebunden. Punkt 7 «Kultur, Sprache und Identität» widmet der Kultur zwei Absätze, bevor «die deutsche Sprache als Zentrum unserer Identität» beschworen, das Gendern abgelehnt und erklärt wird: «Der Islam gehört nicht zu Deutschland.»

Eine AfD-Kulturpolitik «will den Einfluss der Parteien auf das Kultur­leben zurück­drängen, gemeinnützige private Kultur­stiftungen und bürgerschaftliche Kultur­initiativen stärken» und weg von der Aufarbeitung des National­sozialismus hin zu einer «erweiterten Geschichts­betrachtung aufbrechen, die auch die positiven, identitäts­stiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst».

Zudem bekennt sich die Partei zu einer «deutschen Leitkultur» und sieht in der «Ideologie des Multi­kulturalismus» (Sie erinnern sich an die trumpsche Wörter­liste?) eine «ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit». Demgegenüber müssten «der Staat und die Zivil­gesellschaft die deutsche kulturelle Identität selbst­bewusst verteidigen».

Die Politik der AfD ist längst zu einer realen Bedrohung vor allem auf Landes­ebene geworden. Mit dem Einzug der Partei in die Kultur­ausschüsse des Bundestags und aller 16 Landes­parlamente haben Vorstösse gegen Kultur­einrichtungen zugenommen, «um deren Integrität in Abrede zu stellen – und sei es in der bekannten Rhetorik der Verschwendung von Steuer­geldern», schreibt die Mobile Beratung gegen Rechts­extremismus Berlin. Sie arbeitet seit 2001 als Anlauf­stelle für alle, die bei konkreten rechts­extremen, rechts­populistischen, rassistischen und antisemitischen Anlässen «sprech- und handlungs­sicher» werden wollen.

Die Redaktion der ARD-Sendung «Titel, Thesen, Temperamente» und die «Süddeutsche Zeitung» sammelten bereits 2019 in einer schier endlosen Liste Angriffe gegen die Kultur: Deutlich wird eine Politik der versuchten Einfluss­nahme, der Bedrohung und der Einschüchterung – auch über Social Media. Die Angriffe reichen von Hassmails und Bomben­drohungen über Strafanzeigen und Demonstrationen bis zu übermässig vielen Anfragen in den Parlamenten und Ausschüssen. Zwei Jahre später erneuerte die «Süddeutsche Zeitung» die Liste mit aktuellen Beispielen. Das Fazit des Journalisten Peter Laudenbach:

Insgesamt umfasst die Chronik rund 100 Übergriffe aus den vergangenen fünf Jahren, darunter mehrere Brand- und Sprengstoff­anschläge, zahlreiche, zum Teil sehr konkrete Mord­drohungen, versuchte Körper­verletzung, Sach­beschädigungen und die Verletzung der Privat­sphäre der attackierten Künstler.

Die AfD schreckt auch vor Angriffen auf berühmte Institutionen nicht zurück. So demonstrierten rechts­extreme Gruppen gegen ein Konzert der – dezidiert linken – Punkband Feine Sahne Fischfilet, die für das ZDF auf einer historischen Bühne am Bauhaus Dessau auftreten sollte. Daraufhin stellte die AfD-Fraktion den Antrag, der Landtag solle sich «kritisch» mit der Design- und Architekturschule des Bauhauses auseinander­setzen und dabei auch «problematische Aspekte» beachten. Wohlbemerkt: Die Rede ist vom Bauhaus in Dessau. Das ist Weltkulturerbe.

Wie reagieren auf solche Attacken?

Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Wegducken ist sicherlich keine Lösung. Die Bauhaus-Stiftung liess das Konzert absagen und teilte mit: «Politisch extreme Positionen, ob von rechts, links oder andere, finden am Bauhaus Dessau keine Plattform, da diese die demokratische Gesellschaft – auf der auch das historische Bauhaus beruht – spalten und damit gefährden.»

Die Reaktion führte zu einem Aufschrei: Während Mitglieder der CDU den Fehler bereits bei der Einladung an die Punk­band sahen, kritisierte die Fraktions­vorsitzende der Grünen Cornelia Lüddemann: «Das Bauhaus ist 1932 auf Betreiben der Nazis aus politischen und ideologischen Gründen geschlossen worden. Jetzt aus politischen Erwägungen in die Programm­gestaltung des ZDF einzugreifen, halte ich für gefährlich geschichts­vergessen.»

4. Schweiz: Politik der Nadel­stiche gegen die Kunst

Wer denkt, gegen solche Eingriffe sei die Schweiz gefeit, dem sei die Lektüre des SVP-Partei­programms empfohlen. Das unterscheidet sich nur marginal von dem der AfD; es wird in manchen Punkten sogar noch deutlicher. Würde es komplett umgesetzt, drohten amerikanische und ungarische Verhältnisse. Offen werden «Gender-Terror» und «Auswüchse der Trans-Kultur» (die Trump-Liste …) angeprangert. Gleichstellungs­büros will die SVP abschaffen und den «staatlich finanzierten Einrichtungen aus dem Bildungs-, Kultur- und Sozial­bereich, die diese Ideologien unterstützen und verbreiten, die Steuer­gelder» streichen.

Die zu erwartenden Angriffe auf die Kultur werden aber noch deutlicher benannt. Schliesslich bräuchten «Amateur­theater und -orchester, Gesangs­vereine, Musik­vereine, Volksmusik­gruppen bis hin zu Guggenmusik­formationen und Rockbands» keine Subventionen, sondern nur «Anerkennung und faire Bedingungen».

Während also die Volks- und Amateur­kunst hoch­gehalten wird, geht es der subventionierten Kunst an den Kragen: «Der Staat soll keine Kultur­botschaften vorschlagen, die ständig Ausgaben­erhöhungen vorsehen, um zu unverantwortlichen Budgets zu gelangen.» Denn «eine Produktion, die das Publikum nicht interessiert, hat kaum einen Nutzen. Der kommerzielle Erfolg gebührt der Kultur, die dem Publikum gefällt.»

Daraus folgt: «Nein zu einer vom Staat aufgezwungenen Kultur!» Wieder werden die Theater explizit als Ziel der Veränderungen genannt: «Die SVP lehnt die millionen­teure Zwangs­subventionierung städtischer Kultur­einrichtungen ab und verlangt, dass überkommene Kultur­strukturen, wie zum Beispiel die Theater­häuser, den heutigen Bedürfnissen angepasst und reduziert werden.»

Da ist es wieder, das altbekannte Prinzip: weg mit den Subventionen für kritische Künste.

Das schweizerische System der Konkordanz­politik mag der vollständigen Umsetzung dieser Ideen einen Riegel vorschieben. Doch können die Partei­mitglieder in diversen Gremien mit einer Politik der Nadel­stiche ihre Ideen immer wieder einfordern. Vor allem dann, wenn Inszenierungen aus politischen Gründen nicht genehm sind.

Im Kleinen erreichen die Populisten in der Schweiz längst, dass Aufführungen abgesagt werden. So erlebten Schauspielerin Brandy Butler und Dragqueen Ivy Monteiro, dass Mitglieder der Neonazi-Gruppe Junge Tat ihre «Drag Story Time» im Tanzhaus Zürich störten. Das Angebot wurde, obwohl beliebt, beendet: «Ich konnte die Sicherheit der Kinder nicht mehr garantieren», sagte Butler.

Und wer die Angriffe auf «Gender-Terror, Woke-Wahnsinn und Cancel-Culture» im Partei­programm liest, die angeblich «auf Ausgrenzung und Zensur» abzielten, erinnert sich natürlich an die Diskussionen um das Zürcher Schauspiel­haus, wo FDP-Gemeinde­rätin Yasmine Bourgeois befand: «Der woke Einheitsbrei vergrault die Zuschauer.» Genau diese Vorwürfe im Verbund mit den angeblich zu hohen Subventionen brachten das Intendanten-Duo Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg zu Fall.

Der Kampf um die Kultur, er hat auch in der Schweiz längst begonnen. 

Mittwoch, 23. April 2025

Neufaschismus

Neuerfindung des Faschismus

Sven Reichardt: Trump und Co. Neuerfindung des Faschismus, aus: FAZ (online) 20. April 2025 

Aus Protest gegen die amerikanische Regierung, die die Universitäten mit Antisemitismusvorwürfen gängelt und mit finanziellen Druckmitteln erpressen will, wird der Philosoph Jason Stanley die Eliteuniversität Yale in Richtung der Universität Toronto verlassen. Auf die Frage, ob er gegenwärtig von „faschistischen Zuständen“ in den USA sprechen würde, antwortete Stanley: „Ja, natürlich.“ Er sieht keine anderen, treffenderen Begriffe: „Trump ist ein Faschist, seine Bewegung ist faschistisch.“

Liegen die Dinge so eindeutig? Robert Paxton von der Columbia University, eine Koryphäe der vergleichenden Faschismusforschung, hat darauf hingewiesen, dass Trump im Gegensatz zum historischen Faschismus keinen starken Staat will und keine uniformierten Paramilitärs befehligt. Darin ist er sich mit den meisten deutschen Historikern einig. Für viele ist der Begriff des Faschismus durch seine polemische Übernutzung diffus und ausgeleiert. Dass Trump oder Giorgia Meloni sich in keiner Feier des Krieges oder der Anwendung paramilitärischer Gewalt ergehen, ist in der Tat ein triftiges Argument gegen die Begriffswahl. Und so klar Robert Paxton die Unterschiede benannt hat – schon unter der ersten Regierung Trump erkannte er zahlreiche Elemente faschistischer Rhetorik in Sprache und Inszenierung des Präsidenten. Die Aggressivität, die Verherrlichung des Rechts des Stärkeren, der Ultranationalismus, die rassistischen Attacken gegen Migranten, die obsessiven Untergangsphantasien – all dies stamme aus dem Arsenal des klassischen Faschismus. Daran erinnerten auch die personalistische Ausrichtung seiner Politik und die Hartnäckigkeit, mit der Trump sein erratisches Programm verfolge. Auch die Auftritte vor seinen Anhängern folgen einer aus dem Faschismus bekannten Liturgie: Trump schwört seine Bewegung auf unbedingte Gefolgschaft ein und präsentiert sich als charismatischer Führer.

Kampf gegen „parasitäre Elemente“

Auch in Frankreich stimmt man spätestens seit der zweiten Trump-Regierung den amerikanischen Faschismusprognosen zunehmend zu. Intellektuelle wie Olivier Mannoni vergleichen Trumps und Hitlers Propaganda: „Inkohärenz als Rhetorik, extreme Vereinfachung als Argumentation, Anhäufung von Lügen als Beweisführung“. Und der argentinische Faschismusforscher Federico Finchelstein bezeichnet Trump als „Wannabe“-Faschisten in Stil und Verhalten – auch wenn er keine vergleichbare Gewalt anwende und die Gewaltenteilung in den USA noch nicht so stark aufgeweicht sei wie im historischen Faschismus.

Bei einer Tagung führender Faschismusforscher im Januar 2025 in Rom hielt der italienische Historiker Enzo Traverso einen aufsehenerregenden Vortrag: Die Faschismusforschung sei nicht länger ein historisches Phänomen im Zeichen stabiler Demokratien, sagte er. Um die Neuartigkeit der Situation zu charakterisieren, plädierte er für das Konzept des „Postfaschismus“. Staatsterrorismus sei eher die Ausnahme als die Regel, anders als nach dem Ersten Weltkrieg hätten die Gesellschaften einen anderen Bezug zur Gewalt. Heute sei die Arbeiterklasse in Marine Le Pens, Matteo Salvinis, Victor Orbáns oder Trumps Bewegung voll integriert. Statt der Juden gelten jetzt Einwanderer, Muslime und Schwarze als Feinde, aber auch liberale Gruppen von Umweltaktivisten bis zu Vertretern von LGBTQI-Rechten, die eine den Kommunisten vergleichbare Rolle einnehmen. Als Nationalisten, Rassisten und Antifeministen kämpften auch die Postfaschisten gegen „parasitäre Elemente“ und präsentierten sich als Verteidiger der arbeitenden Bevölkerung. Ihr Autoritarismus werde von einer Verkultung der Marktwirtschaft begleitet – radikaler Wirtschaftsliberalismus und Postfaschismus seien „gefährliche Verbündete“.

Sind darüber hinaus die gesellschaftlichen Konstellationen, die den Aufstieg des historischen Faschismus begünstigten, auch heute gegeben? Die gesellschaftliche Fragmentierung hat ein vergleichbares Ausmaß erreicht. Drei gesellschaftliche Entwicklungen sind entscheidend: die ökonomische Krise, der Wandel der Geschlechterordnung und der radikale Umbau des Mediensystems. Das sind die Gelegenheitsfenster des Postfaschismus. Und die Bankenkrise, die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben sich in ihrem Zusammenwirken zu einer im Kern ökonomischen Polykrise ausgeweitet. Massive Aufrüstung und Störungen der globalen Handelsströme haben zu hoher Staatsverschuldung und Inflation geführt. Schuldenlast, Defizitfinanzierung, Banken- und Währungskrise – diese Faktoren führten auch in den Zwanzigerjahren zu einer Vertrauenskrise des Staates. Die halsbrecherische Zollpolitik Donald Trumps hat diese Entwicklung noch einmal beschleunigt. Die Entstehung autoritärer Dynamiken des Präsidialstaats, die Zersplitterung der Politik in unversöhnliche Lager, Abstiegsängste und Globalisierungsfurcht lassen sich durchaus vergleichen.

2016 konnte Trump demokratische Gebiete durchbrechen

Jürgen Falter beschrieb die NSDAP aufgrund von Wahlanalysen als „Volkspartei mit Mittelstandsbauch“. Auch heute scheint sich eine Panik im Mittelstand auszubreiten. Während Deklassierungsängste von Handwerkern und Kleinhändlern der NS-Bewegung in die Hände spielten, sind es heute weiße Männer aus dem „Rust Belt“ und dem Mittleren Westen der USA, die Trump überproportional unterstützt haben. Ähnlich sieht es in Europa und Deutschland in den entindustrialisierten Zonen aus. Bei den Europawahlen im Juni 2024 erreichte der Rassemblement National (RN) 53 Prozent in der Arbeiterschaft. Der RN hat seine Basis vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten mit niedrigem Bildungsgrad, kann aber auch auf Teile des Bürgertums zählen. Ähnlich wie bei den AfD-Wählern in Ostdeutschland nimmt der Anteil der RN-Wähler umso mehr zu, je weiter man sich in dünner besiedelte und ethnisch homogenere Gegenden begibt, in denen die Bindung an lokale Traditionen stärker ausgeprägt ist. Auch Untersuchungen in primär weißen Armutsgebieten in und um London haben gezeigt, dass sich Arbeiter vom britischen Wohlfahrtsstaat im Stich gelassen fühlen und sich als Opfer der Globalisierung wahrnehmen. Die politische Einstellung der Anhänger von Nigel Farage, ihr Rassismus und ihr populistisch-faschistischer Autoritarismus basieren auf realen sozioökonomischen Problemen. In Deutschland sind es die Facharbeiter aus dem Ruhrgebiet und aus Ostdeutschland, die sich seit 2017 durch die AfD Gehör verschaffen und ihrer Angst vor Migranten Ausdruck verleihen. Die gegenwärtigen Verlustängste, Unsicherheiten und Abwehrreflexe der Arbeiter und Mittelschichten im Zuge des Sozialabbaus, ihr Aufstand gegen die Globalisierung, wirtschaftliche Transformation und Kulturwandel erinnern fatal an den Aufstand des Mittelstandes in den Dreißigerjahren.

In den USA haben die typischen Trump-Wähler ein leicht überdurchschnittliches Einkommen und sind zu einem geringeren Anteil arbeitslos als Wähler der Demokraten. Trumps Kernwählerschaft besteht aus den Selbständigen und den Mittelschichtsmilieus. Diesen geht es nicht schlecht, aber sie fürchten sich vor dem Abstieg, leben sie doch zu einem Großteil in abgehängten Gebieten mit schlechter ärztlicher Versorgung. Es gelang Trump bereits 2016, die ehemals demokratisch dominierten Gebiete des „Rust Belt“ durch Wahlerfolge in den Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin zu durchbrechen. Der wirtschaftsliberale Traum von Eigenverantwortung und Freiheit ist für viele Amerikaner ausgeträumt. Die Ungleichheit hat zugenommen, immer mehr Menschen in den vergangenen drei Jahrzehnten wurden wirtschaftlich und sozial abgehängt. Die Realeinkommen der unteren 40 Prozent sind über die vergangenen 30 Jahre geschrumpft. Knappheitsbedingungen und die ungerechte Verteilung von Ressourcen erklären auch, warum sich Industriearbeiter in Europa von der Sozialdemokratie abgewendet haben. Im Mittleren Westen der USA, in den bäuerlichen Schichten Osteuropas, in Zentren der Schwerindustrie und des Bergbaus in ganz Europa – der Protest gegen die globale Konkurrenz und Lohndrückerei verhallte bei den etablierten Parteien. Während sich die Sozialdemokratie stärker den neuen Mittelschichten zuwandte, sind ihre alten Trägerschichten zur AfD oder den Trumpisten abgewandert.

Aufstieg der Rechtsradikalen

Zweitens befeuert der Wandel der Geschlechterordnung den Aufstieg rechtsradikaler Bewegungen. Deren nostalgische Männlichkeitsorientierung ruft eine hegemoniale Geschlechterordnung auf, die auch die historischen Faschisten angesichts der Geschlechteremanzipation nach dem Ersten Weltkrieg auszeichnete. Die weibliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verunsicherte vor allem jene Männer, deren kriegerische Heldenideale im maschinisierten Schlachthaus des Ersten Weltkriegs zerschossen worden waren. Neue queere Lebensformen in den Metropolen und selbstbewusste Feministinnen wurden in den Zwanziger- und Dreißigerjahren durch die Faschisten mit Repression und einer rückwärtsgewandten Familienpolitik beantwortet. Heute ruft der AfD-Politiker Maximilian Krah auf Tiktok jungen Männern zu: „Echte Männer sind rechts – dann klappt’s auch mit der Freundin.“

In den USA und Großbritannien ist zu beobachten, dass der Anteil junger Männer steigt, die ungewollt Single sind und sich einsam fühlen. Die Rechtsradikalen adressieren auch hier ein reales Problem. Dazu passt die Rückkehr zur fossilen Wirtschaft, die Trump mit der Rückkehr zum Fracking und dem Schlagwort „Drill, baby, drill“ propagiert. Die Politikwissenschaftlerin Cara Daggett nennt das „pe­tromaskulin“. Der Verweigerung der Anerkennung queerer Lebensweisen entspricht die Ideologie eines industrie­gesellschaftlich-autoritären Patriarchats, welches Kohle, Stahl und Öl mit traditionell maskulinem Sex und heteronormativer Geschlechterordnung assoziiert. Gender Studies und Queer Studies sollen von den Universitäten verbannt werden. Eine pronatalistische Politik soll höhere Geburtenraten in der weißen, christlichen Bevölkerung erreichen und traditionelle Männlichkeit zu neuem Ansehen bringen. Nicht nur in den USA, sondern auch in Ungarn oder Russland zeigen sich feminismusfeindliche Einstellungen und eine Verschärfung der Abtreibungsgesetze. Die lateinamerikanischen Postfaschisten rücken den Antifeminismus sogar ins Zentrum ihrer Politik.

Wer den Aufstieg der Rechtsradikalen verstehen will, muss drittens von den Veränderungen des Mediensystems sprechen. Der Umbruch von der kontrollierten Medienöffentlichkeit zu den Internetmedien öffnet ebenfalls ein Gelegenheitsfenster für postfaschistische Politikformen. Populisten wie Trump stellen sich ostentativ als plump, ungehobelt und unkultiviert dar, um Volksnähe zu simulieren. Sie pflegen einen medialen Politikstil der Dramatisierung, Konfrontation, Emotionalisierung und Personalisierung, der mit den schnellen und leicht zugänglichen elektronischen Medien unserer Zeit korrespondiert. Ähnliche Kommunikationsmuster prägten die Zwischenkriegszeit. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich mit der Sensationspresse und dem Illustriertenmarkt ein Formwandel der politischen Repräsentation: „An die Stelle des Ideals vom räsonierenden Publikum war die massenmediale Vermarktung politisch diversifizierter und marktgängig stratifizierter Meinungssegmente getreten“, schreibt der Historiker Bernd Weisbrod. Heute entbindet die beschleunigte Entwicklung neuer Kommunikationstechniken Politiker von herkömmlichen politischen Institutionen und etablierten Medien. Digitale Medien bieten beste Bedingungen für die Verbreitung von Hass und völkischer Abwertung. Ihre Algorithmen verbreiten negative Nachrichten schneller als die alten Medien. Der digitale Faschismus formiert sich in Gestalt informeller Schwärme, die sich in rechtsstaatlich gefestigten Demokratien leichter einnisten als uniformierte Schlägertrupps. Natürlich führen die neuen Medien nicht zwangsläufig in postfaschistische Politik – aber sie können von solchen Politikern besser instrumentalisiert werden als unabhängiger Qualitätsjournalismus. Segmentierte Teilöffentlichkeiten, die sowohl zur Dramatisierung als auch zur Dämonisierung des Gegners genutzt werden, boten dem historischen Faschismus und bieten heute dem Postfaschismus ein Gelegenheitsfenster. Faschisten und Rechts­radikale waren und sind technikaffine, eifrige Nutzer von Massenpresse, Film, Radio und sozialen Medien.

Dezentral und transnational vernetzt

So erschreckend viele Parallelen auch sind: Was den Faschisten der Gegenwart fehlt, sind der ausufernde Paramilitarismus, der aus dem Ersten Weltkrieg gespeiste Gewalt- und Totenkult, ausufernde Repression und Willkürherrschaft und der kriegslüsterne Imperialismus. Mit der Ausnahme Putins, der sich jedoch weniger auf die populistische Mobilisierung seiner Gesellschaft versteht, hat kein postfaschistisches Regime einen Krieg begonnen. Der radikale Wirtschaftsliberalismus der Neunzigerjahre hat die Möglichkeit starker Staatlichkeit unterhöhlt, was in den gemeinschaftsorientierten Dreißigerjahren so nicht denkbar war. Wenn Trump jetzt die Bürokratie gegen eine digitale Verwaltung austauscht, so bedeutet dies die Entfesselung der freien Marktwirtschaft im Staatsinneren. Anstelle der Bolschewisten werden heute Universitäten und Medien aufgrund ihrer angeblichen linksradikalen „Wokeness“ attackiert. Und zu den klassischen „starken Männern“ des Faschismus haben sich längst Frauen wie Marine Le Pen, ­Giorgia Meloni und Alice Weidel gesellt, die sich als stark und unabhängig inszenieren.

Der Schriftsteller und Holocaustüberlebende Primo Levi konstatierte 1974, dass „jedes Zeitalter seinen eigenen Faschismus“ hat. Das gilt bis heute. Der Postfaschismus unterhält nicht nur keine organisierten Schlägertrupps, er alimentiert seine völkisch erwünschten Untertanen auch nicht durch einen Wohlfahrtsstaat, er agiert kommerzieller als seine Vorgänger. Die postfaschistischen Bewegungen ähneln einem Wurzelgeflecht – sie agieren dezentral und sind zugleich transnational vernetzt. Seine vielfältigen Varianten verbinden aber Rassismus und Nationalismus mit einer Sprache und Symbolik, die auf den Mythos nationaler Wiederauferstehung zielt. Ob wir uns heute in der Gründungsphase neuer Diktaturen befinden und ob diese dann ähnliche Schritte wie der historische Faschismus gehen werden, ist offen. Unmöglich ist es nicht.

Samstag, 19. April 2025

Demokratiendämmerung

Daniel Binswanger

Die Zukunft der Demokratie

Was tun angesichts der Bedrohung des demokratischen, liberalen Verfassungs­staats? Wir müssen uns verpflichten auf den Universalismus. «Demokratie unter Druck», Folge 8.

aus: Republik, 11.04.2025   

Da sie nicht mehr selbst­verständlich ist, wird die Zukunft der Demokratie zur alles bestimmenden Frage. Wird die demokratische Herrschafts­form auch morgen noch das politische Modell sein, an dem sich der grössere Teil der Menschheit orientiert? Wird sie Ideal und Flucht­punkt der historischen Entwicklung bleiben? Oder werden blosse Schein­demokratien – ob in einer ungarischen, russischen oder türkischen Variante – nun auch im Westen Schule machen?

Es ist nicht mehr auszuschliessen, dass die Maga-Bewegung die demokratischen und rechts­staatlichen Institutionen irreversibel beschädigt und sich in den USA der Illiberalismus dauerhaft festsetzt. Dass der trumpsche Zollkrieg die internationale Wirtschafts­ordnung ins Chaos stürzt, eine weltweite Rezession auslöst, rund um den Globus massivste Spannungen erzeugt. Dass Putins Russland sich erneut als Hegemonial­macht Osteuropas etabliert. Dass in Deutschland, Frankreich und Gross­britannien die rechts­radikalen Parteien, die vor den Pforten der Macht stehen, schon bald Regierungs­mehrheiten finden. Dass in immer zahl­reicheren Demokratien autoritäre Kräfte die Gewalten­teilung unterlaufen, die Medien­vielfalt zerstören, die Freiheit von Forschung und Lehre unterbinden.

Alle diese Entwicklungen sind auf den Weg gebracht und schaffen schon heute konkrete Fakten. Nie seit dem Ende des Kalten Krieges war ungewisser, welche Zukunft die Demokratie überhaupt noch hat.

Die Antwort auf diese Frage kann sich allerdings nicht damit begnügen, von Land zu Land, von Medien- und Wahlsystem zu Medien- und Wahlsystem, von Schreckens­meldung zu Schreckens­meldung Prognosen zu machen, Kräfte­verhältnisse abzuwägen, Gegen­strategien zu erörtern. Diese Arbeit ist wichtiger denn je. Aber sie ist nicht ausreichend.

Denn infrage steht nicht nur, welche Zukunft die Demokratien heute haben, sondern auch, auf welchem Begriff von Zukunft demokratische Politik beruhen muss. Was sind unsere Erwartungen an die historische Entwicklung? Was sind unsere Fortschritts­forderungen? Politisches Handeln wird in seinem Kern vom Geschichts­bild seiner Akteurinnen geprägt. Welche Zukunft muss Demokratie herbei­führen wollen, um weiterhin eine Zukunft zu haben? Was ist ihr Glaube an die Utopie – und jenseits aller Utopien?

Es geht nicht nur um unsere Analyse der Macht­verhältnisse und ihrer Entwicklung. Es geht um unsere Werte. Und um unseren Glauben an politische Gestaltungs­macht. Das ist die Grund­frage der Zukunft der Demokratie.

Das ist nicht das Ende

Es sind keine neuen Debatten, die unsere politischen Perspektiven nun plötzlich zu beherrschen scheinen, auch wenn sie heute eine existenzielle Dringlichkeit bekommen. Der konzeptuelle Rahmen, innerhalb dessen wir diese Diskussionen führen, hat sich jedoch über die letzten Jahrzehnte stark verändert.

In den 90er-Jahren, nachdem die USA den Kalten Krieg gewonnen hatten, schienen sie einer unipolaren Welt eine Pax Americana zu garantieren, auf der Grundlage des Washington Consensus den Freihandel, die globale Zirkulation der Kapital­ströme und mit nation building gar den Siegeszug des demokratischen Verfassungs­staates voranzutreiben. Der amerikanische Politik­wissenschaftler Francis Fukuyama brachte das Selbst­verständnis der Epoche bekanntlich mit der Formel vom «Ende der Geschichte» auf den Begriff. Der Grund­gedanke war, dass keine Macht der Welt den historischen Sieg des liberalen, demokratischen Verfassungs­staates noch würde gefährden können. Er hatte sich als überlegen erwiesen, er würde alternativlos bleiben. Das Ende der Geschichte deklarierte den End­sieg der Demokratie. Durch einen seltsamen Automatismus schien ihre Zukunft für alle Zeiten gesichert.

Dass diese Diagnose auf einem schweren Irrtum beruhte, manifestierte sich allerdings sehr rasch, nicht erst mit dem Siegeszug der anti­liberalen neuen Rechten, der uns spätestens seit dem ersten Trump-Sieg und dem Brexit in Atem hält, sondern Jahre früher und in mehreren Wellen.

Da war erstens der 11. September 2001, die brutale Eruption nie da gewesener terroristischer Gewalt im Namen eines religiösen Fundamentalismus. Die anschliessenden Kriege und der vermeintliche Kampf der Kulturen lenkten auf fatale Weise von der Tatsache ab, dass die islamische Welt zwar in der Tat brutalste Modernisierungs­krisen durchläuft, dass aber auch in sämtlichen anderen Kultur­kreisen die Macht des religiösen Fundamentalismus in keiner Weise gebannt ist.

Nicht nur in Indien, wo Narendra Modi seine Herrschaft auf eine fundamentalistische Hindukratie gegründet hat, auch in Israel, wo ein nationalistischer Messianismus inzwischen die Regierungs­politik und die Kriegs­führung bestimmt, und ganz besonders in den christlich geprägten, westlichen Demokratien, wo evangelikale Strömungen und ein teilweise reaktionärer Katholizismus zu wieder­erstarkten politischen Macht­faktoren geworden sind, zeigt sich die zunehmende Dynamik einer regressiven Religiosität. Das Ende der Geschichte postulierte implizit auch die Vollendung der politischen Säkularisierung – die leider niemals stattgefunden hat.

Im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausend­wende wurde zweitens die System­konkurrenz zwischen dem demokratischen Kapitalismus des Westens und dem Staats­kapitalismus der Volks­republik China eine immer dominierendere Realität. 2001 tritt China der Welthandels­organisation bei und wird definitiv zum weltweit wichtigsten Produktions­standort. Ob die demokratischen Volks­wirtschaften ihre wirtschaftliche Überlegenheit werden verteidigen können, ist seither offen. Mit dem Zoll­krieg und einem jeden Tag wahr­scheinlicher erscheinenden Angriff der Volks­republik China auf Taiwan eskaliert die amerikanisch-chinesische Rivalität nun immer stärker. Definitiv durchgesetzt zu haben scheint sich nur der Kapitalismus, doch seine nicht demokratischen Spielarten erweisen sich als konkurrenz­fähig, potenziell als überlegen. Wird es längerfristig zu einer kriegerischen Konfrontation kommen zwischen dem demokratischen und dem autoritären Kapitalismus oder werden die Systeme koexistieren? Auch diese Geschichte ist nicht zu Ende.

Es kam drittens 2008 mit der Finanz­krise zu einer endogenen Krise der westlichen, kapitalistischen Wirtschafts­ordnung, die mit verschärfter Dringlichkeit infrage stellte, ob die Volks­wirtschaften der westlichen Staaten tatsächlich für die Ewigkeit gebaut sind. Was, wenn sie zu instabil sind? Was, wenn sie aus strukturellen Gründen zu viele Verlierer produzieren? Eine Welt­wirtschafts­krise konnte zwar verhindert werden, das Finanz­system wurde wieder gefestigt und durch Zusatz­regulierung etwas resilienter gemacht (allerdings, wie etwa das Schweizer Beispiel zeigt, in lachhaft ungenügendem Mass). Politisch wurden die Exzesse von Deregulierung und Liberalisierung jedoch nicht im Ansatz bewältigt.

Der Trumpismus hat seine Wurzeln in der Tea-Party-Bewegung, einer heftigen ersten Reaktion auf die wirtschaftlichen Verwerfungen von 2008. Inzwischen werden zahlreiche wirtschafts­liberale Glaubens­sätze vom Rechts­populismus frontal attackiert – nur dass weiterhin um jeden Preis die Steuern gesenkt und der Staat zurück­gebunden oder am besten gleich zertrümmert werden soll. Leider ist es nicht erstaunlich, dass die politische Rechte auf die illiberale Seite kippt.

Der Zombie-Liberalismus

Denn auf welchen Grundlagen soll das vermeintliche Posthistoire, das heisst die Unantast­barkeit einer liberalen Wirtschafts­ordnung nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, heute beruhen? Die klassischen Argumente für ihre Legitimierung mögen theoretisch weiterhin valide sein, wurden durch die real­wirtschaftliche Entwicklung der letzten 30 Jahre aber allesamt infrage gestellt. Fairness durch Chancen­gleichheit, allgemeine Wohlfahrt durch Trickle-down-Effekte, ständig verbesserte Produktivität durch markt­gerechte Anreiz­strukturen, Nachhaltigkeit und Stabilität durch ökonomischen Realismus, Leistungs­prinzip und Unterbindung von Rent-Seeking – alle diese Leit­prinzipien haben sich als nur begrenzt oder gar nicht tragfähig erwiesen.

Wo wären die neo- oder wirtschafts­liberalen Theorien, die sich den immer manifesteren Fehl­entwicklungen gestellt und seriöse Antworten geliefert hätten? Wo sind umgesetzte Policy-Konzepte, um die Opfer der wirtschaftlichen Trans­formationen, die durch den Freihandel im Welt­massstab ausgelöst wurden, aufzufangen und angemessen in ihre jeweilige Volks­wirtschaft zu integrieren? Wo sind die Strategien, um innerhalb der Europäischen Union die Einkommens­konvergenz herbeizuführen, die dereinst doch das versprochene Ziel war, aber weiter auf sich warten lässt? Wo sind die Konzepte, damit in einer Welt, in der kein Politiker mehr darauf verzichtet, die Chancen­gleichheit zu beschwören, die soziale Mobilität nicht ständig abnimmt?

Der Wirtschafts­liberalismus befindet sich in vielen Bereichen in einem frei­schwebenden Zombie-Modus. Dass seine Unantastbarkeit nun plötzlich den unsinnigsten Wildwest-Spielarten von Politik­konzepten weichen muss, kommt deshalb nicht ganz überraschend. Allerdings wird auch der libertäre Amoklauf die Krise des Liberalismus ganz gewiss nicht beheben.

Es ist, als ob sämtliche Glaubens­sätze, auf denen die Welt­ordnung nach 1989 zu beruhen schien, ins Rutschen gekommen sind. Und einer dieser Glaubens­sätze, um den es schon damals nicht mehr allzu gut stand, führt uns direkt zum Problem der Zukunft der Demokratie: der Glaube an den Fortschritt.

Ohne Fortschritt keine Demokratie

Gibt es eine Demokratie ohne bessere Zukunft? Lange Zeit waren Fortschritts­glaube und Demokratie unabdingbar miteinander verknüpft. «Der Fortschritt der Gleichheit ist schicksalshaft, dauerhaft und schreitet täglich voran», heisst es etwa bei Alexis de Tocqueville in der Einleitung zu «Über die Demokratie in Amerika». John Stuart Mill erblickt in der Demokratie das beste Mittel, um den «allgemeinen geistigen Fortschritt» zu fördern.

Demokratie, so signalisiert das politische Denken des 19. Jahrhunderts, ist ohne Fortschritt gar nicht denkbar. Dass die Menschheit ständig voran­schreitet und sich wirtschaftlich, wissen­schaftlich und auch gesell­schaftlich entwickelt, ist im Übrigen ein Gedanke, der viel weiter zurückreicht.

Er hat seinen Ursprung nicht nur im Erbe der christlichen Theologie, die davon ausging, dass am Ende der Zeiten die Erlösung kommen werde, sondern auch in der Aufklärungs­philosophie. Sie liegt Leibniz’ Vorstellung von der unendlichen Perfektibilität der Welt genauso zugrunde wie Voltaires Glauben an den Fortschritt des Menschen­geschlechts durch die Wissenschaft. Sie setzt sich fort in Kants Philosophie der Geschichte, die zur «Idee zu einer allgemeinen Geschichte in welt­bürgerlicher Absicht» führt.

Allerdings ist dieser Aufklärungs­gedanke verschüttet und verdrängt worden, sowohl durch das geistige Erbe des Kalten Krieges als auch durch die verfehlte Vorstellung vom Ende der Geschichte. Das heisst durch die Illusion einer Politik, die alles schon erreicht zu haben glaubt und ihre Haupt­aufgabe nicht mehr im politischen Gestalten, sondern in der Entpolitisierung zu erblicken scheint.

Eine der bemerkens­werten ideen­geschichtlichen Publikationen der letzten Zeit ist «Der Liberalismus gegen sich selbst» von Samuel Moyn. Er zeichnet die Theorie­geschichte des politischen Liberalismus zu Zeiten des Kalten Krieges nach – und wie dieses Erbe bis in die heutige Zeit hineinwirkt. Was Moyn in seiner Analyse der kanonischen Werke von Denkerinnen wie Isaiah Berlin, Hannah Arendt, Friedrich von Hayek oder Karl Popper darlegt, ist vor allen Dingen, wie die antitotalitäre Gegen­stellung – der Wille, sowohl gegen die Erfahrung des Nazi-Totalitarismus als auch gegen die Drohung des Sowjet­reiches die Parade zu finden – diese Generation von politischen Philosophinnen dazu führte, jede Geschichts­philosophie und damit auch jeden Fortschritts­gedanken zurückzuweisen.

Es ging primär darum, gegen die Zumutung des real existierenden Sozialismus den Freiheits­gedanken zu verteidigen. Doch diese Freiheit, die auch mit einem Ethos der Ermächtigung oder der kreativen Selbst­entfaltung hätte verbunden sein können, blieb eingeschränkt auf eine antitotalitäre Abwehr­haltung: Sie wurde definiert als die Abwesenheit von Zwang, als eine – in der berühmten Konzeptualisierung von Isaiah Berlin – ausschliesslich negative Freiheit. Freiheit sollte garantiert werden allein durch die Zurück­weisung von kollektiver beziehungs­weise staatlicher Einengung der individuellen Rechte.

Eng gebunden an diesen antitotalitären Minimalismus des Freiheits­begriffs ist die Zurück­weisung der Geschichts­philosophie. «Es ist aus streng logischen Gründen unmöglich, den zukünftigen Verlauf der Geschichte mit rationalen Methoden vorherzusagen», schrieb Karl Popper in «Das Elend des Historizismus», seinem wirkungs­mächtigen Pamphlet gegen die totalitären Tendenzen des Geschichts­denkens. Die marxistische Vorstellung eines zwingenden und unausweichlichen Fortschritts der Geschichte bis hin zum Endsieg des Proletariats, der Geschichts­determinismus, in dessen Namen auch jedes Verbrechen und jeder Verstoss gegen die Rechte und die Würde des Einzelnen legitimiert werden konnten, wurde von Popper aufs Schärfste denunziert.

Dass wir nicht wissen können, welchen Richtungs­sinn die Geschichte hat, dass wir an keine teleologische Vorbestimmtheit glauben dürfen, die Folgen des politischen Handelns immer ergebnis­offen beurteilen müssen, alles allzeit für falsifizierbar halten sollten – all dies wurde zur Vorbedingung einer vermeintlich authentisch liberalen Welt­auffassung. Es ist daran gewiss nichts falsch, Popper selbst versuchte ein politisches Ideal zu entwickeln als Theorie der «inkrementellen Veränderungen». Ein Problem jedoch blieb ungelöst: In ihren radikaleren Spiel­arten zerstört die historische Askese den Fortschritts­glauben.

Denn historisch entsprang der Liberalismus der Aufklärungs­philosophie, die selbst­verständlich der Überzeugung war, dass an der Verbesserung der menschlichen Gesellschaft gearbeitet werden kann und gearbeitet werden muss. Zwischen dem totalitären marxistischen Determinismus und dem Glauben an die Möglichkeit des herbei­geführten sozialen Fortschritts gibt es einen breiten Fächer des politischen Gestaltungs­willens – was im Kalten Krieg jedoch zunehmend verdrängt wurde. Stattdessen setzte sich ein defensiver Liberalismus durch, der auch nach dem definitiven Sieg über den totalitären Gegner auf proaktiven Zukunfts­glauben nicht mehr setzen wollte.

Man mag einwenden, dass die frivolen 90er-Jahre sehr wohl getragen waren von Zuversicht und Optimismus. Es war jedoch ein Optimismus der Entpolitisierung – der Glaube, dass gesellschaftlicher Fortschritt ausschliesslich dadurch gefördert wird, dass die Politik sich zurücknimmt. Verkündete nicht ausgerechnet Bill Clinton das definitive Ende von big government?

Damit wurde auch nach dem westlichen Sieg im Kalten Krieg das ideologische Erbe des Kalten Krieges fortgeführt. Weiterhin sollte gelten, dass Zukunft sich nur begrenzt gestalten lässt und auf Fortschritt nicht zu zählen ist. Die Hoffnung war vielmehr, dass der Fortschritt nun spontan geschehe. Es steckt in dieser Art der Freiheits­bejahung ein ungeheurer politischer Pessimismus.

Dieses Erbe des Kalten Krieges hat auch einen substanziellen Beitrag geleistet zum Siegeszug des Neoliberalismus nach dem Zusammen­bruch des Sowjetreichs. Was die Globalisierung und den wirtschafts­liberalen Abbau der sozialen Markt­wirtschaft vorantrieb, war das Dogma, es handle sich hier um Entwicklungen, die unausweichlich seien und ausschliesslich von der Spontaneität der Markt­kräfte herbei­geführt würden. Die Integration des Welthandels im Zuge der Globalisierung; die Frei­zügigkeit von Kapital und Menschen im Rahmen einer freien Standort­konkurrenz – alles schien den Gesetzen einer ebenso imperativen wie rein ökonomischen Notwendigkeit zu unterliegen: there is no alternative. Das hiess aber auch, dass Fortschritt nur noch als Markt­automatismus vorstellbar war.

Umso unvermittelter kehrt das Politische nun zurück: als vermeintlicher Souveränismus. Als Forderung, wieder die Kontrolle zu übernehmen. Als Ruf nach neuer Grösse, neuer kultureller Homogenität, einer vermeintlich goldenen Vorzeit. Als Wille, von neuem die Zukunft zu gestalten, wenn auch bloss in einer regressiven Form.

Die ganze Klaviatur der faschistoiden Phantasmen, die nun gegen den Status quo ins Feld geführt werden, entspringt einem Impuls der Repolitisierung. Der Kern dieser Repolitisierung liegt im simplen Versprechen, dass politisches Handeln möglich ist. Dass es eine Zukunft gibt, die wir gestalten können.

Was ergibt sich daraus? Der Kampf um politische Deutungs­macht muss wieder aufgenommen werden – als Kampf um eine bessere Welt. Der Widerstand gegen die generalisierte politische Regression kann nur auf der Basis einer klaren Vorstellung von gesellschaftlichem Fortschritt vollzogen werden. Widerstand gegen den Autoritarismus muss die Form des aktiven Herbei­führens einer besseren Zukunft annehmen. So befremdlich diese Sichtweise für breite Kreise inzwischen auch geworden sein mag.

Erst kürzlich ist eine grosse Studie von Andreas Reckwitz erschienen, «Verlust. Ein Grundproblem der Moderne». Sie enthält eine ausufernde Bestands­aufnahme der Fortschritts­diskurse seit dem 18. Jahrhundert und der modernen Errungenschaften und Institutionen, die auf Fortschritt ausgelegt sind. Das eigentliche Thema des Buches ist aber der flächen­deckende Verlust von Fortschritt – er schafft es nicht einmal mehr in die Titelzeile –, der Untergang aller Fortschritts­dispositive, die die Moderne sich erkämpft hat.

Es ist, als bliebe nichts mehr anderes zu tun, als über den Verlust des Zukunfts­glaubens Buch zu führen: «Ein entscheidender Faktor der Verlust­eskalation ist die Erosion der Glaubwürdigkeit, die das Fortschritts­narrativ mit Blick auf die Zukunft auf breiter Front erfährt», schreibt Reckwitz. «Es gibt Tendenzen eines Zukunfts­verlustes.»

Die gibt es in der Tat.

Kipppunkte der Konkurrenz

Dies gilt umso mehr, als zwischen der vermeintlichen Entpolitisierung der neoliberalen Periode und dem vermeintlichen Souveränismus der neurechten Autoritären eine merkwürdige Affinität besteht. Eigentlich sind der Neoliberalismus und der neue Populismus radikale ideologische Antagonisten. Hier Freihandel, da Protektionismus. Hier Mobilität der Arbeitskräfte, da vollständiger Migrations­stopp. Hier Elitarismus und Eliten­förderung, da zumindest eine vorgeschobene Boden­ständigkeit und Volksnähe.

Allerdings lehrt schon die historische Erfahrung, dass der Wirtschafts­liberalismus mit verblüffender Leichtigkeit immer wieder in sein Gegenteil, in illiberale, autoritäre, ja totalitäre Politik­auffassungen kippt. Weshalb?

Ein zentrales Element des Liberalismus ist der Konkurrenz­gedanke. Der Wettbewerb der Individuen prägt sowohl sein Freiheits­ethos als auch seine Vorstellungen von wirtschafts­politischer Steuerung. Die Idee des Wettbewerbs jedoch ist dehnbar – sie kann auch aufgefasst werden als Kampf, als nackter Kampf mit allen, ja selbst mit kriegerischen Mitteln. Und geführt wird dieser Kampf nicht zwingend von Individuen, sondern gegebenen­falls auch von ethnischen Gruppen, von Nationen oder von Kulturen – womit der Wettbewerb dann plötzlich nichts mehr anderes ist als ein sozial­darwinistischer Kampf der Völker und sich in keiner Weise auf wirtschaftliche Konkurrenz beschränkt.

Der Ideenhistoriker Quinn Slobodian hat diese Zusammenhänge in seinem Essay «Hayeks Bastarde» sehr plastisch dargestellt: Eine ultra­nationalistische, quasi völkische Spielart des vermeintlichen Liberalismus gab es schon immer. Heute ermöglicht diese, dass die Erben von Ronald Reagan sich ohne Schwierigkeiten einem Trump in die Arme werfen – und noch nicht einmal das Gefühl zu haben scheinen, ihre eigenen Grundwerte zu verraten.

Die siegreichen Kalten Krieger sind beim Triumph des liberalen Verfassungs­staates gestartet und nach nur einer Generation beim Ultranationalismus gelandet. Das heisst, bei einer Spiel­art des Faschismus. Diese dystopische Wiederkehr des Politischen ist die unerbittliche Revanche der Pseudo­entpolitisierung.

Politik muss Zukunft wollen. Sonst wird sie vergiftet von einem Cocktail aus Nostalgie und Disruption. Von Bannon und Musk. Vom Versuch, die Gegenwart zu zertrümmern und eine mythologische Vergangenheit wieder­aufleben zu lassen.

Der Zwang zur Weltpolitik

Die grosse Frage ist natürlich, was Gestaltung der Zukunft besagen soll. Es gibt dafür ein paar recht offen­sichtliche und simple Ansätze.

Als Erstes gilt: Es ist kaum möglich, an eine bessere Zukunft zu glauben, wenn sie nicht für alle gelten soll. Fortschritt in einem qualifizierten Sinn ist ein universalistisches Konzept. Wie soll ein Begriff von Fortschritt entwickelt werden, wenn von Beginn an Menschen von ihm ausgenommen sind? In der heutigen Epoche gilt dies auch aus praktischen Gründen: Der Universalismus einer jeden Fortschritts­philosophie konkretisiert sich in der zwingend globalisierten Perspektive der Umwelt­politik, der Migrations­politik, der Wirtschafts­politik. Wir leben in einer Epoche, in der es – ob wir das wollen oder nicht – im Grunde immer um den ganzen Planeten geht.

Man nehme die Klimakrise: Sie zwingt uns schonungslos dazu, Politik mit letzter Konsequenz als Weltpolitik zu verstehen. Nur wenn sich die gesamte Staaten­gemeinschaft der Dekarbonisierung verschreibt – wie auch immer die zu tragenden Lasten im Einzelnen zu verteilen sind –, besteht die Hoffnung, dass das Schlimmste verhindert werden kann. Klimapolitik kann per definitionem gar nie gross genug gedacht werden. Die Wahrheit ist das Ganze, sagte Hegel, in dessen Werk das Denken der Totalität und die Geschichts­philosophie eine Synthese von beispiel­loser Wirkungs­macht erfuhren. Die Klima­erwärmung verurteilt uns zum politischen Global­hegelianismus. Doch mental sind wir darauf nicht vorbereitet.


Denn das Bemerkenswerte ist: Ausgerechnet im Feld der Klimapolitik ist die globale Perspektive in der Defensive, und nicht nur deshalb, weil die zweite Trump-Administration schon an ihrem ersten Tag aus dem Pariser Klimaabkommen wieder ausgestiegen ist. Es geschieht noch etwas viel Grund­sätzlicheres: Die Dekarbonisierung ist ein Politikfeld, in dem es zwar weiterhin enorm viel Engagement und zivil­gesellschaftliche Mobilisierung gibt. In dem das kollektive politische Handeln im Gegen­zug aber mit grössten Schwierigkeiten zu kämpfen hat.


Jedenfalls ist frappant, wie breit einerseits die gesellschaftlichen Bewegungen sind – vegane Ernährung, Elektromobilität, umwelt­bewusstes Konsumverhalten –, die sich gegen den Klima­wandel engagieren, und wie überschaubar andererseits die Anzahl Mitglieder der grünen Parteien bleibt. In der Schweiz stehen den rund 13’000 Mitgliedern der Grünen (Stand 2022) und den etwas unter 8000 Mitgliedern der GLP (Stand 2024) etwa 300’000 Vegetarierinnen gegenüber. Natürlich kann man nicht alle vegetarischen Ess­gewohnheiten mit Klima­bewusstsein erklären, aber der Konnex ist unbestreitbar.

Wir leben in einer Zeit, in der die Bürgerinnen viel eher bereit sind, ihren individuellen Speise­zettel anzupassen, als sich in einer Partei­organisation für die Dekarbonisierung zu engagieren. Obwohl – bei aller Wichtigkeit von modifizierten Ess­gewohnheiten und der gesellschaftlichen Durchsetzung von neuen Verhaltens­weisen – einzig und allein die massive politische Mobilisierung und letztlich welt­umspannende kollektive Organisation uns eine Chance lassen, die globale Klima­politik zum Besseren zu wenden.

Irgendetwas läuft hier grundlegend falsch: Diätpläne und Lifestyle-Konzepte werden bereitwillig angepasst, zu politischer Mobilisierung kommt es sehr viel weniger. Es ist, als hätte der zeitgenössische Hyper­individualismus, der Wille zur Allein­stellung der Lebens­entwürfe, den Raum für gemeinsames Handeln eingeschränkt. David Wallace-Wells hat es in seinem zum Standard­werk avancierten «Die unbewohnbare Erde» schon 2019 mit aller Klarheit auf den Begriff gebracht: «Wenn wir hoffen, auf diese Krise in einem Massstab zu reagieren, der ihrer Dringlichkeit entspricht, können wir das nur durch grosse politische Transformationen erreichen, die eine tiefgreifende Neu­ausrichtung unserer Politik erfordern. Individuelle Konsum­entscheidungen (…) sind wertvoll, aber wirklich nur ein Schritt auf dem Weg zu gross angelegten politischen Aktionen.»

Dass wir die Gestaltungs­macht haben, um gemeinsam eine ökologische Zukunft herbei­zuführen, ist die Basis, auf der alle Klima­politik beruhen muss. Darauf müssen wir uns verpflichten – auch wenn es schwerfällt.

Demokratie und Universalismus

Und nicht nur im Feld der Klima­politik müssen Fortschritts­konzeptionen letztlich immer universalistisch und kosmopolitisch sein. Eine Welt, die sich verbessern soll, geht die gesamte Menschheit etwas an. Der Zukunfts­glaube von partikularistischen Ideologien hingegen – dem Triumph eines Landes, einer Religion oder einer Ethnie gewidmet – lebt von der Überhöhung der eigenen mythischen Vorzeit und bejaht nicht die Fort­entwicklung. Sie weisen sie zurück.


Der Siegeszug des neurechten Populismus bedeutet den Triumph der Identitäts­politik par excellence, nämlich eines aggressiven Nationalismus. Es handelt sich um eine Identitäts­politik für die Mehrheit – und als solche ist sie partikularistisch. Identitäts­politik im Namen von Minderheiten – jedenfalls die richtig verstandene – will dementgegen Gleich­berechtigung herstellen, Diskriminierung beseitigen. Sie ist dem Universalismus verpflichtet. Identitäts­politik für Mehrheiten will das Gegenteil, nämlich dominanten Gruppen Privilegien zusichern. Sie setzt sich die Negierung von Gleich­berechtigung zum Ziel.

Es ist deshalb Unsinn, zu behaupten, es bestünde ein intrinsischer Gegensatz zwischen den klassisch linken Kämpfen für ökonomischen Ausgleich und den gesellschafts­politischen Auseinander­setzungen um Identitäten. Es handelt sich um unterschiedliche Dimensionen von Gleich­berechtigung. Und nur allzu häufig gehen die wirtschaftliche Schwäche und die Diskriminierung von bestimmten Minderheiten Hand in Hand.

Die Frage, die sich angesichts der Bedrohung der Demokratie heute allerdings mit neuer Dringlichkeit stellt, ist, wie eine universalistische, kosmopolitische Werte­haltung zum Zentrum der politischen Mobilisierung gemacht werden kann. Und hier kann die Identitäts­politik tatsächlich die falschen Impulse geben: Denn auch wenn es keinen immanenten Widerspruch gibt zwischen dem Engagement gegen Diskriminierung und einer universalistischen Agenda, so gibt es häufig Unterschiede in der Prioritätenordnung.

Omri Boehm hat in seinem grundlegenden Werk über «radikalen Universalismus» eindrücklich dargelegt, dass «Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen» hat – mit einer «abstrakten, absoluten Verpflichtung auf die Menschheit», die die Identitäten nicht auslöscht, sondern unerlässlich ist, um sie zu verteidigen. Nur auf dem Boden dieses Universalismus ist gemäss Boehm eine Politik möglich, die sich der Gerechtigkeit und der Freiheit verpflichtet.

Doch hier stossen wir unter Bedingungen der Globalisierung an eine weitere grosse Herausforderung. Der Werte-Universalismus wird jeden Tag von neuem auf die Probe gestellt in der Migrations­politik. Wir leben in einer Welt­gesellschaft, die Menschen werden trotz aller Grenz­mauern und Sperren immer mobiler, die Migrations­bewegungen nehmen zu. Deshalb wird die Migrations- und Flüchtlings­politik immer bedeutender – und zur Nagelprobe für den Universalismus. Es ist unsere eigene Zukunft, die wir im Feld der Migrations­politik verhandeln, denn ohne Menschen­rechte keine Demokratie – letztendlich auch nicht für die Bürgerinnen von Staaten, die scheinbar nur an ihren Aussen­grenzen die Würde des Menschen nicht mehr respektieren.

Dass die demokratischen Staaten angesichts der verstärkten Migration mehr und mehr versagen, ist deshalb die zentrale Entwicklung, der entgegen­getreten werden muss. Dass Trump oder Alice Weidel ihre Wahl­kämpfe ausschliesslich mit der Mobilisierung gegen Zuwanderer und Asylsuchende bestreiten, unterstreicht, wie entscheidend der Konflikt ist, der hier ausgefochten wird. Ohne das Bekenntnis zu einer universellen Rechts­ordnung kann es keinen Zukunfts­glauben geben, ausserhalb der Verpflichtung auf die Menschen­rechte gibt es für die Welt­gesellschaft keinen verbindlichen Rahmen.

Das gilt für alle Bereiche des internationalen Rechts: Es ist kein Zufall, dass Trump, Orbán und Netanyahu, die drei vielleicht gefährlichsten, aus Demokratien hervor­gegangenen Gegner des liberalen Verfassungs­staates, gegen den Internationalen Strafgerichts­hof vorgehen. Der autoritäre Illiberalismus weiss, dass das internationale Recht in einem fundamentalen Oppositions­verhältnis zu ihm steht. Deshalb muss von allen Demokraten mit diesem Recht nun Ernst gemacht werden.

Hat die Demokratie eine Zukunft?

Ja, die hat sie. Weil Zukunft sich gestalten lässt. Weil wir die Menschen­rechte geltend machen können in der heutigen Welt­gesellschaft, im Minimum überall dort, wo wir politisch zuständig sind. Weil angesichts der globalen Bedrohung durch die Klima­erwärmung globale Antworten immer dringender, unausweichlicher und verpflichtender werden.

Seien wir realistisch: Die Heraus­forderungen sind enorm. Aber das ist nicht entscheidend. Die Zukunft der Demokratie hängt an unserem Zukunfts­glauben.