Montag, 30. Januar 2012

Griechenland, Anfang 2012

barbara spengler-axiopoulos                      Griechenland – ein Besuch im Krisengebiet  -  Pater Wassilis hat Zahnschmerzen. Er sollte längst beim Arzt sein, aber an diesem Morgen hat er fünfzehn neue Anträge vorliegen. Von Menschen, die in der Kirchengemeinde von Agia Triada in Thessaloniki an der mittäglichen Armenspeisung teilnehmen möchten. Ewa Liakou küsst ihm respektvoll die rechte Hand, dann huscht sie in die Küche. Jeden Morgen ab halb acht wird hier gekocht mit Spendengeldern, aber auch die sind weniger geworden. Heute gibt es gefüllte Paprika mit Reis, vier Frauen bereiten täglich die Mahlzeiten. Eben hat Ewa ein paar Handvoll kleingeschnittener Zwiebeln in das dampfende Olivenöl geworfen. 160 Essen werden jeden Mittag ausgegeben, und die Nachfrage steigt. In allen Kirchengemeinden Griechenlands gibt es mittlerweile kostenlose Mahlzeiten für Bedürftige, in Athen sollen es täglich 13 000 Menschen sein, die kommen. In Thessaloniki, der zweitgrössten Stadt Griechenlands, dürften es ein paar tausend weniger sein.
«Wir sprechen heute von Neuarmen», sagt Sofia Ferentzi, eine der Frauen, die helfen. Täglich brechen Existenzen weg. Das Arbeitslosengeld von 461 Euro wird höchstens für ein Jahr ausgezahlt. Laut Statistik lebt heute jeder fünfte Grieche unterhalb der Armutsgrenze. Früher, sagt Pater Wassilis, seien nur Migranten und Flüchtlinge zu ihnen gekommen. Heute seien es die Griechen selbst, die hungerten. Seit der neuen Immobiliensteuer, die zusammen mit der Stromrechnung erhoben wird, schliesst ein Laden nach dem anderen, sitzen Menschen ohne Elektrizität und Wärme in ihren Wohnungen. Wer keine Steuern zahlt, dem wird der Strom abgedreht.
Auch die, die nichts haben, müssen zahlen. Ewa und Sofia haben klare Vorgaben. Sie lassen sich einen Steuerbescheid vorlegen, den Lohnzettel und den Personalausweis. Dann erst wird entschieden, wer mitessen darf. Jeden Nachmittag machen sie Hausbesuche, verteilen Medikamente, die viele nicht mehr bezahlen können. Sie besuchten neulich eine junge Frau, der man den Stromzähler abmontiert hatte. Armut provoziert Scham. Viele holten sich ihr Essen heimlich ab, sagen die Frauen. Die neu Verarmten seien viel zu stolz, als dass sie wahrgenommen werden wollten. Die drakonischen Sparmassnahmen haben den kleinen Leuten das letzte bisschen Würde genommen.
«Ich habe hier schon viele Krisen miterlebt. Die Krise der Baumwolle, die Krise der Textilbranche, die Wirtschaftskrise und jetzt die schwerste, die Krise Griechenlands.» Das sagt die 28-jährige Cécile Varvaressos, Wirtschaftsingenieurin und zuständig für Import und Export der familieneigenen Baumwollspinnerei in Naoussa, Nordgriechenland. Vor zwanzig Jahren war dies noch eine aufstrebende Region, und die Bewohner des Städtchens nannten ihr Naoussa «das kleine Manchester des Balkans». Heute ist Varvaressos das letzte Unternehmen, das Kreuzspulen produziert, und es hat seinen Betrieb um die Hälfte, auf 196 Mitarbeiter, verkleinern müssen. Denn die Kreuzspule von Naoussa, zwei bis zweieinhalb Kilo schwer und aus feinster griechischer Baumwolle, ist bedroht.
Daran sind nicht allein die Globalisierung und die Konkurrenz aus asiatischen Ländern schuld. Dem griechischen Markt fehle es an Liquidität, sagt der technische Leiter, Stergios Pantermas. Ausländische Lieferanten arbeiteten nur noch ungern mit griechischen Unternehmen zusammen, und wenn, dann nur gegen Vorauszahlung. Das Unternehmen konnte bis heute überleben, weil es rechtzeitig auf andere ökologische Faserstoffe wie Modal umstellte, das aus dem nachwachsenden Rohstoff Buchenholz gewonnen wird. Die Produktionskosten und die Lohnnebenkosten sind hoch: Cécile wedelt mit einer Pressenotiz, in der die Unternehmer Nordgriechenlands an Finanzminister Venizelos appellieren, die Energiekosten zu senken: Schlechte Aussichten für die Branche, wenn man bedenkt, dass die Troika, wie hier die Expertenkommission aus EU, EZB und IMF genannt wird, die Privatisierung der grossen staatlichen Unternehmen zur Vorbedingung für die Auszahlung der nächsten Kredittranche machte. Dazu gehören neben der Fernmeldegesellschaft OTE auch die Elektrizitätswerke DEI, deren hoch privilegierte Gewerkschaftsbosse sich seit Monaten in Kampfrhetorik üben. Es ist jedoch zweifelhaft, ob bei einer Privatisierung der DEI die Stromkosten überhaupt gesenkt würden.
Die tapfere Cécile Varvaressos sagt, die meisten ihrer gleichaltrigen Freunde seien arbeitslos. Einige seien schon im Ausland, andere auf dem Absprung dorthin: «In zwanzig Jahren will ich sagen können, es hat sich gelohnt, dass ich hier in Naoussa im Familienunternehmen geblieben bin.»
In Thessaloniki, einer lebensfrohen und dynamischen Stadt, umwerben die Geschäftsleute ihre Kunden. Das Kino Kolossaion, das den neuesten Film mit Tilda Swinton zeigt, bietet seinen Besuchern von Montag bis Donnerstag eine Eintrittskarte für zwei Personen. Im Café Elektra Palace, wo ein Cappuccino früher 4 Euro 50 kostete, ist er heute für 1 Euro 50 zu haben. Ein Friseur versucht es mit Galgenhumor: Eine Karikatur im Schaufenster zeigt Merkel und Sarkozy mit einer Schere, darunter steht: «Kommt zum Haircut zu Moritz, der kann es am besten!» Ein Witz zur Krise lautet: Ein junger Arbeitsloser mit Universitätsdiplom sagt zu einem Studienfreund, der Arbeit gefunden hat: «Ein Gyros mit Fladenbrot, bitte!»
In den Cafés sitzen die Rentner an milden Wintertagen draussen und diskutieren über die Krise, worüber denn sonst? In den sonnenhellen Mittag fallen Sätze wie: «Ich möchte fünfzig Politiker im Gefängnis sehen!» oder «Wer ist schuld, dass unser Land am Abgrund steht? Drei Politikerfamilien haben unser Land ruiniert . . .»
Der 65-jährige Aris Siafaras, Physiker und Fernmeldetechniker, ist an der Hafenpromenade unterwegs, um sich mit seinen Freunden zu treffen. Er hat dreissig Prozent seiner Rente eingebüsst, das 13. und das 14. Monatsgehalt wurden ihm gestrichen, und auch die sogenannte Hilfsrente soll um zwanzig Prozent gekürzt werden. Mit alledem könne er leben, sagt Siafaras, ein zierlicher Mann mit weissem Schnurrbart. Bitter sei, dass sein Lebensplan der falsche gewesen sei. Ein Leben lang hätten seine Frau und er in die Ausbildung der beiden Töchter investiert, sie jahrelang zum Arbeiten und Lernen angehalten. «Aber dies ist ein korruptes System, die Professoren waren bestechlich, und die Examen von Lydia und Ioanna sind heute nichts wert!» Noch schlimmer sei, fügt er hinzu, dass alle dieses Spiel mitgespielt hätten. Einige tausend Euro pro Tochter habe er im Jahr für Frontistiria, Nachhilfeschulen, die auf die Universitätsprüfung vorbereiten, ausgegeben. Beide Töchter sind hochqualifiziert und arbeitslos, die 28-jährige Lydia macht ein Aufbaustudium als Elektroingenieurin in Wien, die 26-jährige Ioanna, Agronomin, nimmt an einem Erasmus-Programm zur Förderung lokaler Produkte in Angers in Frankreich teil. Kürzlich schrieb die OTE 700 Stellen für Telefonisten aus. Es bewarben sich über 32 000 junge Leute, die meisten von ihnen hatten einen Universitätsabschluss. Was Soziologen «Braindrain» nennen, das Abwandern der jungen Intelligenz, ist für viele Griechen der düsterste Aspekt dieser allumfassenden Krise.
Nikos K. ist Herr über unzählige vermietete und unvermietete Immobilien. Bis vor zwei Jahren war er ein erfolgreicher Bauingenieur und Bauunternehmer mit einem mindestens sechsstelligen Jahreseinkommen. Zwischen 2002 und 2008 erhielt er die meisten Bauaufträge von der öffentlichen Hand, er baute Altersheime und Schulen. Aber auch jene rechteckigen Kästen, die wie Polypen in die Stadtlandschaft hineinwuchern und sie in ein gesichtsloses Häusermeer verwandelten. Denen historische Denkmäler wichen und in deren Nachbarschaft sich traurige byzantinische Kirchlein ducken müssen. Vielleicht ist er für diese Entwicklung nicht verantwortlich, aber wie andere Unternehmer profitierte er jahrzehntelang von dem Bauboom, den alle griechischen Regierungen hätschelten und förderten.
Die Bauindustrie, früher einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Griechenlands, ist kollabiert. Darunter leiden auch Handwerker wie Zimmerleute, Fliesenleger, Installateure und Elektriker. Nikos K. schätzt, dass um die fünfzig Berufsgruppen davon betroffen sind. Viele Rechnungen für öffentliche Aufträge sind bis heute unbezahlt. Die vielen verschiedenen Immobiliensteuern sind für die meisten Besitzer inzwischen nicht mehr bezahlbar. Sie haben den gesamten Markt paralysiert und treffen den Besitzer einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit einer Rente von 650 Euro ebenso wie den Besitzer einer grossen Immobilie, die unvermietet ist. Zahlen muss jeder. Der Staat, ein gefrässiger und lethargischer Koloss, richtet seine Bürger mit einer sinnlosen und ungerechten Steuerpolitik zugrunde. Für Nikos K. ist es eine systemische Krise, die das Land heimgesucht hat, der Spekulations- und Immobilienwahn der Griechen richte sich jetzt gegen sie selbst: «Überspitzt formuliert kann man sagen, dass die Leute Wohnungen für Kinder kauften, die sie später bekommen würden! Diese Mentalität ist heute unser Fluch.»
Die Piramatikí Skiní tis Téchnis, eines der interessantesten und experimentierfreudigsten Theater Griechenlands, ist verwaist. Das Gebäude in der Odos Amalia in Thessaloniki ist geschlossen, denn seit zwei Jahren kann es seine Miete nicht mehr bezahlen, und seit zwei Jahren wurden auch die Schauspieler nicht bezahlt. Eleni Dimopoulou ist seit fast dreissig Jahren Mitglied des renommierten Ensembles und eine leidenschaftliche Schauspielerin. Zwei Jahre haben sie und ihre Kollegen umsonst gearbeitet, vierzehn Inszenierungen haben sie in dieser Zeit aufgeführt. Und immer wieder haben sie Hoffnung geschöpft, wenn ein Brief aus Athen kam, in dem ihnen staatliche Hilfe versprochen wurde. Das Theater steht heute mit 250 000 Euro Schulden da. Wovon die bezahlt werden sollen, weiss sie nicht. Aber sie sieht, dass heute alle auf dem gleichen Niveau sind, denn auch die früher Wohlhabenden sind schwer von der Krise betroffen. Und sie freut sich, dass es plötzlich in der Stadt unzählige freie Theatergruppen gibt, in allen möglichen Kellerlöchern wird gespielt, denn jetzt habe man ja nichts mehr zu verlieren. Ihre Hoffnung ist der neue Bürgermeister Thessalonikis, Jannis Boutaris, ein parteiloser Politiker, der sich dafür einsetzt, dass das Theater eine Spielstätte im Hafengelände bekommt.
Eleni Dimopoulous Lieblingsrolle ist die der blinden Molly Sweeney, einer Figur des irischen Dramatikers Brian Friel. Wie eine Besessene hat sie sich in deren Lebenswelt eingearbeitet, erspürt und ertastet, wie sich ein Leben in völliger Dunkelheit anfühlen könnte. Als Molly nach einer Operation wieder sehen kann, ist sie von dem, was sie wahrnimmt, enttäuscht. Eleni Dimopoulou sagt heute, dass die Krise für die Griechen ein böses Erwachen gewesen sei. «Vielleicht wollten wir die Realität gar nicht sehen.»

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen