Donnerstag, 19. Januar 2012

Ungarn

bernard-henri-lévy         Europa droht Griechenland aus dem Kreise seiner Nationen zu verbannen wegen - zugegebenermaßen erheblicher - Verstöße gegen die Regeln des ordentlichen Haushaltens und Regierens. Vor zehn Jahren hat Europa zu Recht Österreich verdammt, als dessen konservative Regierende sich mit dem Rechtsextremisten Jörg Haider verbündet hatten.
Nun gibt es heute mitten in Europa ein Land, dessen Regierung die Medien knebelt, das Sozial- und Gesundheitssystem demontiert, Arme kriminalisiert und Rechte infrage stellt, die man für längst etabliert hielt, wie etwa das Recht auf Abtreibung. Es gibt ein Land, das den stumpfsten Chauvinismus, den abgetretensten Populismus und immer offener den Hass auf Sinti, Roma und Juden wieder aufleben lässt. Diese werden wie in den dunkelsten Stunden der Geschichte des Kontinents zu Sündenböcken für all das gemacht, was nicht mehr funktioniert.

Es gibt ein Land, in dem man im Begriff ist, im Namen eines Zugehörigkeitsprinzip, das man ethnisch oder rassisch nennen muss, ein Wahlrecht einzurichten, das man mit dem Nationalsozialismus für ausgestorben hielt und das allen "Nationsangehörigen" das Stimmrecht gewährt, die keine Staatsbürger sind, sondern irgendwo in Europa verteilt leben.

Bei diesem Land handelt es sich um Ungarn. Und dieses Mal sagt Europa nichts.

Die Leser des wunderbaren Buchs "Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei" des ungarischen Autors István Bibó kennen jenen Cocktail aus nationaler Obsession, Opferpatriotismus und kollektivem Schmerzempfinden nur zu gut, der aus der ungarischen Nation - wie im Übrigen auch aus der polnischen oder der bulgarischen - eine Art Christus der Nationen macht, der sich berufen fühlt, wie unter dem guten König Stephan gegen die Osmanen zu kämpfen und die bedrohte Zivilisation zu schützen und zu erneuern.

Die Leser des Meisterwerkes "Donau. Biographie eines Flusses" von Claudio Magris wissen, wie diese Geschichte des Volkes - inakzeptabel die Methode, den "Auslandsungarn" dieselben Rechte zu gewähren wie jenen im Inneren, und vor allem die Masche, zu behaupten, dass es dort, an den Grenzen, um die Seele des Volkes und seine heiligste Wahrheit gehe - eine ganz alte Geschichte wieder ertönen lässt: die transsilvanische Frage, die in Ungarn wie in Rumänien nach wie vor die Gemüter erhitzt.

Allgemeiner betrachtet und über die Region hinaus wird jemand, der ein etwas feineres Gehör hat, nicht verkennen können, dass in dieser Art des Nationalismus, in der Definition der Nation als einer geweihten, ruhmreichen Einheit, die im Herzen verwundet und im Innersten verletzt wurde und die danach eine Art Gläubiger geworden ist, der von der Welt verlangt, dass die Erniedrigung wiedergutgemacht werde, kurz: in diesem Essenzialismus, der aus der nationalen Gemeinschaft ein göttliches Geschöpf macht, eine quasi mythische Entität, ein einheitliches Wesen, das von sich selbst getrennt ist und dessen verlorene Reinheit dringend wiedergefunden werden muss, nein, niemand kann darin die Steigerungsform eines Gedankens verkennen, der seit den Dreißigerjahren den Kern sämtlicher Formen des Faschismus ausgemacht hat.

Ich glaube nicht, dass wir uns schon dort befinden.

Ich glaube nicht, dass dieses Europa (das ich wie Milan Kundera lieber "Zentraleuropa" als "Osteuropa" nenne) sich schon von jener anderen Berufung abgewandt hat, die vor mehr als 20 Jahren auf der Kettenbrücke in Budapest ebenso wie auf dem Wenzelsplatz in Prag ausgedrückt wurde: "Wir wollen nach Europa zurückkehren."

Es ist eine Tatsache, dass in Ungarn noch eine ziemlich lebendige Opposition verbleibt, die vergangene Woche hinter dem Schriftsteller György Konrád und anderen eine schöne Demonstration zur Unterstützung der Demokratie organisieren konnte - und damit zugleich zur Unterstützung der europäischen Idee, denn das kommt auf dasselbe hinaus.

Dennoch ist unbestreitbar, dass es Grund gibt, über diese tyrannische, antieuropäische und faschistoide Verirrung beunruhigt zu sein.

Und ich befürchte, dass der Alarm nicht nur für Ungarn gilt, sondern auch für den Rest des Kontinents in diesen Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise, in einem Augenblick der Identitätsprobleme und der globalisierten Moral, in diesem sonderbaren Moment, da, wenn man den Demagogen Glauben schenkt, die europäische Idee am besten ausrangiert werden sollte.

Man weiß ja nie, woher das Schlechteste gerade kommt.

Im Dunkel der Geschichte, die sich gerade ereignet, kann man den Sinn, den Effekt und die Tragweite eines Ereignisses nie sofort ermessen.

In der Epoche des Internets, unter der neuen politischen Herrschaft, welche auf Gedeih und Verderb jene der souveränen "sozialen Netzwerke" ist, in diesem Moment, wo jeder mit jedem kommuniziert und wo ein dünner, aber enger Draht jemanden wie Marine Le Pen mit irgendeinem Extremistenführer in Thüringen, Flandern, Norditalien oder eben mit Viktor Orbán verbinden kann, da ist es nicht unvorstellbar, dass sich in Europa eine wachsende Zahl von Leuten findet, die in diesem ungarischen Laboratorium die Umsetzung ihres immer weniger geheimen Projektes erkennen: Europa loszuwerden, es aufzulösen und bei dieser Gelegenheit gleich einige demokratische Regeln abzuschütteln, die man wie in den Dreißigerjahren in Krisenzeiten für unangemessen hält.

Auch deshalb ist es dringend notwendig zu handeln.

Regierungen, Oppositionsführer, erklärte oder nicht erklärte Kandidaten für diese oder jene Wahl, europäische Verantwortliche auf der Linken wie auf der Rechten: Sie alle geht an, was in Budapest geschieht. Auch für sie und für ihre Völker läutet dort die Totenglocke der Freiheit. Und deshalb erwarten wir von ihnen sehr rasch unmissverständliche und starke Worte der Verurteilung.

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