Mittwoch, 23. April 2025

Neufaschismus

Neuerfindung des Faschismus

Sven Reichardt: Trump und Co. Neuerfindung des Faschismus, aus: FAZ (online) 20. April 2025 

Aus Protest gegen die amerikanische Regierung, die die Universitäten mit Antisemitismusvorwürfen gängelt und mit finanziellen Druckmitteln erpressen will, wird der Philosoph Jason Stanley die Eliteuniversität Yale in Richtung der Universität Toronto verlassen. Auf die Frage, ob er gegenwärtig von „faschistischen Zuständen“ in den USA sprechen würde, antwortete Stanley: „Ja, natürlich.“ Er sieht keine anderen, treffenderen Begriffe: „Trump ist ein Faschist, seine Bewegung ist faschistisch.“

Liegen die Dinge so eindeutig? Robert Paxton von der Columbia University, eine Koryphäe der vergleichenden Faschismusforschung, hat darauf hingewiesen, dass Trump im Gegensatz zum historischen Faschismus keinen starken Staat will und keine uniformierten Paramilitärs befehligt. Darin ist er sich mit den meisten deutschen Historikern einig. Für viele ist der Begriff des Faschismus durch seine polemische Übernutzung diffus und ausgeleiert. Dass Trump oder Giorgia Meloni sich in keiner Feier des Krieges oder der Anwendung paramilitärischer Gewalt ergehen, ist in der Tat ein triftiges Argument gegen die Begriffswahl. Und so klar Robert Paxton die Unterschiede benannt hat – schon unter der ersten Regierung Trump erkannte er zahlreiche Elemente faschistischer Rhetorik in Sprache und Inszenierung des Präsidenten. Die Aggressivität, die Verherrlichung des Rechts des Stärkeren, der Ultranationalismus, die rassistischen Attacken gegen Migranten, die obsessiven Untergangsphantasien – all dies stamme aus dem Arsenal des klassischen Faschismus. Daran erinnerten auch die personalistische Ausrichtung seiner Politik und die Hartnäckigkeit, mit der Trump sein erratisches Programm verfolge. Auch die Auftritte vor seinen Anhängern folgen einer aus dem Faschismus bekannten Liturgie: Trump schwört seine Bewegung auf unbedingte Gefolgschaft ein und präsentiert sich als charismatischer Führer.

Kampf gegen „parasitäre Elemente“

Auch in Frankreich stimmt man spätestens seit der zweiten Trump-Regierung den amerikanischen Faschismusprognosen zunehmend zu. Intellektuelle wie Olivier Mannoni vergleichen Trumps und Hitlers Propaganda: „Inkohärenz als Rhetorik, extreme Vereinfachung als Argumentation, Anhäufung von Lügen als Beweisführung“. Und der argentinische Faschismusforscher Federico Finchelstein bezeichnet Trump als „Wannabe“-Faschisten in Stil und Verhalten – auch wenn er keine vergleichbare Gewalt anwende und die Gewaltenteilung in den USA noch nicht so stark aufgeweicht sei wie im historischen Faschismus.

Bei einer Tagung führender Faschismusforscher im Januar 2025 in Rom hielt der italienische Historiker Enzo Traverso einen aufsehenerregenden Vortrag: Die Faschismusforschung sei nicht länger ein historisches Phänomen im Zeichen stabiler Demokratien, sagte er. Um die Neuartigkeit der Situation zu charakterisieren, plädierte er für das Konzept des „Postfaschismus“. Staatsterrorismus sei eher die Ausnahme als die Regel, anders als nach dem Ersten Weltkrieg hätten die Gesellschaften einen anderen Bezug zur Gewalt. Heute sei die Arbeiterklasse in Marine Le Pens, Matteo Salvinis, Victor Orbáns oder Trumps Bewegung voll integriert. Statt der Juden gelten jetzt Einwanderer, Muslime und Schwarze als Feinde, aber auch liberale Gruppen von Umweltaktivisten bis zu Vertretern von LGBTQI-Rechten, die eine den Kommunisten vergleichbare Rolle einnehmen. Als Nationalisten, Rassisten und Antifeministen kämpften auch die Postfaschisten gegen „parasitäre Elemente“ und präsentierten sich als Verteidiger der arbeitenden Bevölkerung. Ihr Autoritarismus werde von einer Verkultung der Marktwirtschaft begleitet – radikaler Wirtschaftsliberalismus und Postfaschismus seien „gefährliche Verbündete“.

Sind darüber hinaus die gesellschaftlichen Konstellationen, die den Aufstieg des historischen Faschismus begünstigten, auch heute gegeben? Die gesellschaftliche Fragmentierung hat ein vergleichbares Ausmaß erreicht. Drei gesellschaftliche Entwicklungen sind entscheidend: die ökonomische Krise, der Wandel der Geschlechterordnung und der radikale Umbau des Mediensystems. Das sind die Gelegenheitsfenster des Postfaschismus. Und die Bankenkrise, die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben sich in ihrem Zusammenwirken zu einer im Kern ökonomischen Polykrise ausgeweitet. Massive Aufrüstung und Störungen der globalen Handelsströme haben zu hoher Staatsverschuldung und Inflation geführt. Schuldenlast, Defizitfinanzierung, Banken- und Währungskrise – diese Faktoren führten auch in den Zwanzigerjahren zu einer Vertrauenskrise des Staates. Die halsbrecherische Zollpolitik Donald Trumps hat diese Entwicklung noch einmal beschleunigt. Die Entstehung autoritärer Dynamiken des Präsidialstaats, die Zersplitterung der Politik in unversöhnliche Lager, Abstiegsängste und Globalisierungsfurcht lassen sich durchaus vergleichen.

2016 konnte Trump demokratische Gebiete durchbrechen

Jürgen Falter beschrieb die NSDAP aufgrund von Wahlanalysen als „Volkspartei mit Mittelstandsbauch“. Auch heute scheint sich eine Panik im Mittelstand auszubreiten. Während Deklassierungsängste von Handwerkern und Kleinhändlern der NS-Bewegung in die Hände spielten, sind es heute weiße Männer aus dem „Rust Belt“ und dem Mittleren Westen der USA, die Trump überproportional unterstützt haben. Ähnlich sieht es in Europa und Deutschland in den entindustrialisierten Zonen aus. Bei den Europawahlen im Juni 2024 erreichte der Rassemblement National (RN) 53 Prozent in der Arbeiterschaft. Der RN hat seine Basis vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten mit niedrigem Bildungsgrad, kann aber auch auf Teile des Bürgertums zählen. Ähnlich wie bei den AfD-Wählern in Ostdeutschland nimmt der Anteil der RN-Wähler umso mehr zu, je weiter man sich in dünner besiedelte und ethnisch homogenere Gegenden begibt, in denen die Bindung an lokale Traditionen stärker ausgeprägt ist. Auch Untersuchungen in primär weißen Armutsgebieten in und um London haben gezeigt, dass sich Arbeiter vom britischen Wohlfahrtsstaat im Stich gelassen fühlen und sich als Opfer der Globalisierung wahrnehmen. Die politische Einstellung der Anhänger von Nigel Farage, ihr Rassismus und ihr populistisch-faschistischer Autoritarismus basieren auf realen sozioökonomischen Problemen. In Deutschland sind es die Facharbeiter aus dem Ruhrgebiet und aus Ostdeutschland, die sich seit 2017 durch die AfD Gehör verschaffen und ihrer Angst vor Migranten Ausdruck verleihen. Die gegenwärtigen Verlustängste, Unsicherheiten und Abwehrreflexe der Arbeiter und Mittelschichten im Zuge des Sozialabbaus, ihr Aufstand gegen die Globalisierung, wirtschaftliche Transformation und Kulturwandel erinnern fatal an den Aufstand des Mittelstandes in den Dreißigerjahren.

In den USA haben die typischen Trump-Wähler ein leicht überdurchschnittliches Einkommen und sind zu einem geringeren Anteil arbeitslos als Wähler der Demokraten. Trumps Kernwählerschaft besteht aus den Selbständigen und den Mittelschichtsmilieus. Diesen geht es nicht schlecht, aber sie fürchten sich vor dem Abstieg, leben sie doch zu einem Großteil in abgehängten Gebieten mit schlechter ärztlicher Versorgung. Es gelang Trump bereits 2016, die ehemals demokratisch dominierten Gebiete des „Rust Belt“ durch Wahlerfolge in den Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin zu durchbrechen. Der wirtschaftsliberale Traum von Eigenverantwortung und Freiheit ist für viele Amerikaner ausgeträumt. Die Ungleichheit hat zugenommen, immer mehr Menschen in den vergangenen drei Jahrzehnten wurden wirtschaftlich und sozial abgehängt. Die Realeinkommen der unteren 40 Prozent sind über die vergangenen 30 Jahre geschrumpft. Knappheitsbedingungen und die ungerechte Verteilung von Ressourcen erklären auch, warum sich Industriearbeiter in Europa von der Sozialdemokratie abgewendet haben. Im Mittleren Westen der USA, in den bäuerlichen Schichten Osteuropas, in Zentren der Schwerindustrie und des Bergbaus in ganz Europa – der Protest gegen die globale Konkurrenz und Lohndrückerei verhallte bei den etablierten Parteien. Während sich die Sozialdemokratie stärker den neuen Mittelschichten zuwandte, sind ihre alten Trägerschichten zur AfD oder den Trumpisten abgewandert.

Aufstieg der Rechtsradikalen

Zweitens befeuert der Wandel der Geschlechterordnung den Aufstieg rechtsradikaler Bewegungen. Deren nostalgische Männlichkeitsorientierung ruft eine hegemoniale Geschlechterordnung auf, die auch die historischen Faschisten angesichts der Geschlechteremanzipation nach dem Ersten Weltkrieg auszeichnete. Die weibliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verunsicherte vor allem jene Männer, deren kriegerische Heldenideale im maschinisierten Schlachthaus des Ersten Weltkriegs zerschossen worden waren. Neue queere Lebensformen in den Metropolen und selbstbewusste Feministinnen wurden in den Zwanziger- und Dreißigerjahren durch die Faschisten mit Repression und einer rückwärtsgewandten Familienpolitik beantwortet. Heute ruft der AfD-Politiker Maximilian Krah auf Tiktok jungen Männern zu: „Echte Männer sind rechts – dann klappt’s auch mit der Freundin.“

In den USA und Großbritannien ist zu beobachten, dass der Anteil junger Männer steigt, die ungewollt Single sind und sich einsam fühlen. Die Rechtsradikalen adressieren auch hier ein reales Problem. Dazu passt die Rückkehr zur fossilen Wirtschaft, die Trump mit der Rückkehr zum Fracking und dem Schlagwort „Drill, baby, drill“ propagiert. Die Politikwissenschaftlerin Cara Daggett nennt das „pe­tromaskulin“. Der Verweigerung der Anerkennung queerer Lebensweisen entspricht die Ideologie eines industrie­gesellschaftlich-autoritären Patriarchats, welches Kohle, Stahl und Öl mit traditionell maskulinem Sex und heteronormativer Geschlechterordnung assoziiert. Gender Studies und Queer Studies sollen von den Universitäten verbannt werden. Eine pronatalistische Politik soll höhere Geburtenraten in der weißen, christlichen Bevölkerung erreichen und traditionelle Männlichkeit zu neuem Ansehen bringen. Nicht nur in den USA, sondern auch in Ungarn oder Russland zeigen sich feminismusfeindliche Einstellungen und eine Verschärfung der Abtreibungsgesetze. Die lateinamerikanischen Postfaschisten rücken den Antifeminismus sogar ins Zentrum ihrer Politik.

Wer den Aufstieg der Rechtsradikalen verstehen will, muss drittens von den Veränderungen des Mediensystems sprechen. Der Umbruch von der kontrollierten Medienöffentlichkeit zu den Internetmedien öffnet ebenfalls ein Gelegenheitsfenster für postfaschistische Politikformen. Populisten wie Trump stellen sich ostentativ als plump, ungehobelt und unkultiviert dar, um Volksnähe zu simulieren. Sie pflegen einen medialen Politikstil der Dramatisierung, Konfrontation, Emotionalisierung und Personalisierung, der mit den schnellen und leicht zugänglichen elektronischen Medien unserer Zeit korrespondiert. Ähnliche Kommunikationsmuster prägten die Zwischenkriegszeit. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich mit der Sensationspresse und dem Illustriertenmarkt ein Formwandel der politischen Repräsentation: „An die Stelle des Ideals vom räsonierenden Publikum war die massenmediale Vermarktung politisch diversifizierter und marktgängig stratifizierter Meinungssegmente getreten“, schreibt der Historiker Bernd Weisbrod. Heute entbindet die beschleunigte Entwicklung neuer Kommunikationstechniken Politiker von herkömmlichen politischen Institutionen und etablierten Medien. Digitale Medien bieten beste Bedingungen für die Verbreitung von Hass und völkischer Abwertung. Ihre Algorithmen verbreiten negative Nachrichten schneller als die alten Medien. Der digitale Faschismus formiert sich in Gestalt informeller Schwärme, die sich in rechtsstaatlich gefestigten Demokratien leichter einnisten als uniformierte Schlägertrupps. Natürlich führen die neuen Medien nicht zwangsläufig in postfaschistische Politik – aber sie können von solchen Politikern besser instrumentalisiert werden als unabhängiger Qualitätsjournalismus. Segmentierte Teilöffentlichkeiten, die sowohl zur Dramatisierung als auch zur Dämonisierung des Gegners genutzt werden, boten dem historischen Faschismus und bieten heute dem Postfaschismus ein Gelegenheitsfenster. Faschisten und Rechts­radikale waren und sind technikaffine, eifrige Nutzer von Massenpresse, Film, Radio und sozialen Medien.

Dezentral und transnational vernetzt

So erschreckend viele Parallelen auch sind: Was den Faschisten der Gegenwart fehlt, sind der ausufernde Paramilitarismus, der aus dem Ersten Weltkrieg gespeiste Gewalt- und Totenkult, ausufernde Repression und Willkürherrschaft und der kriegslüsterne Imperialismus. Mit der Ausnahme Putins, der sich jedoch weniger auf die populistische Mobilisierung seiner Gesellschaft versteht, hat kein postfaschistisches Regime einen Krieg begonnen. Der radikale Wirtschaftsliberalismus der Neunzigerjahre hat die Möglichkeit starker Staatlichkeit unterhöhlt, was in den gemeinschaftsorientierten Dreißigerjahren so nicht denkbar war. Wenn Trump jetzt die Bürokratie gegen eine digitale Verwaltung austauscht, so bedeutet dies die Entfesselung der freien Marktwirtschaft im Staatsinneren. Anstelle der Bolschewisten werden heute Universitäten und Medien aufgrund ihrer angeblichen linksradikalen „Wokeness“ attackiert. Und zu den klassischen „starken Männern“ des Faschismus haben sich längst Frauen wie Marine Le Pen, ­Giorgia Meloni und Alice Weidel gesellt, die sich als stark und unabhängig inszenieren.

Der Schriftsteller und Holocaustüberlebende Primo Levi konstatierte 1974, dass „jedes Zeitalter seinen eigenen Faschismus“ hat. Das gilt bis heute. Der Postfaschismus unterhält nicht nur keine organisierten Schlägertrupps, er alimentiert seine völkisch erwünschten Untertanen auch nicht durch einen Wohlfahrtsstaat, er agiert kommerzieller als seine Vorgänger. Die postfaschistischen Bewegungen ähneln einem Wurzelgeflecht – sie agieren dezentral und sind zugleich transnational vernetzt. Seine vielfältigen Varianten verbinden aber Rassismus und Nationalismus mit einer Sprache und Symbolik, die auf den Mythos nationaler Wiederauferstehung zielt. Ob wir uns heute in der Gründungsphase neuer Diktaturen befinden und ob diese dann ähnliche Schritte wie der historische Faschismus gehen werden, ist offen. Unmöglich ist es nicht.

Samstag, 19. April 2025

Demokratiendämmerung

Daniel Binswanger

Die Zukunft der Demokratie

Was tun angesichts der Bedrohung des demokratischen, liberalen Verfassungs­staats? Wir müssen uns verpflichten auf den Universalismus. «Demokratie unter Druck», Folge 8.

aus: Republik, 11.04.2025   

Da sie nicht mehr selbst­verständlich ist, wird die Zukunft der Demokratie zur alles bestimmenden Frage. Wird die demokratische Herrschafts­form auch morgen noch das politische Modell sein, an dem sich der grössere Teil der Menschheit orientiert? Wird sie Ideal und Flucht­punkt der historischen Entwicklung bleiben? Oder werden blosse Schein­demokratien – ob in einer ungarischen, russischen oder türkischen Variante – nun auch im Westen Schule machen?

Es ist nicht mehr auszuschliessen, dass die Maga-Bewegung die demokratischen und rechts­staatlichen Institutionen irreversibel beschädigt und sich in den USA der Illiberalismus dauerhaft festsetzt. Dass der trumpsche Zollkrieg die internationale Wirtschafts­ordnung ins Chaos stürzt, eine weltweite Rezession auslöst, rund um den Globus massivste Spannungen erzeugt. Dass Putins Russland sich erneut als Hegemonial­macht Osteuropas etabliert. Dass in Deutschland, Frankreich und Gross­britannien die rechts­radikalen Parteien, die vor den Pforten der Macht stehen, schon bald Regierungs­mehrheiten finden. Dass in immer zahl­reicheren Demokratien autoritäre Kräfte die Gewalten­teilung unterlaufen, die Medien­vielfalt zerstören, die Freiheit von Forschung und Lehre unterbinden.

Alle diese Entwicklungen sind auf den Weg gebracht und schaffen schon heute konkrete Fakten. Nie seit dem Ende des Kalten Krieges war ungewisser, welche Zukunft die Demokratie überhaupt noch hat.

Die Antwort auf diese Frage kann sich allerdings nicht damit begnügen, von Land zu Land, von Medien- und Wahlsystem zu Medien- und Wahlsystem, von Schreckens­meldung zu Schreckens­meldung Prognosen zu machen, Kräfte­verhältnisse abzuwägen, Gegen­strategien zu erörtern. Diese Arbeit ist wichtiger denn je. Aber sie ist nicht ausreichend.

Denn infrage steht nicht nur, welche Zukunft die Demokratien heute haben, sondern auch, auf welchem Begriff von Zukunft demokratische Politik beruhen muss. Was sind unsere Erwartungen an die historische Entwicklung? Was sind unsere Fortschritts­forderungen? Politisches Handeln wird in seinem Kern vom Geschichts­bild seiner Akteurinnen geprägt. Welche Zukunft muss Demokratie herbei­führen wollen, um weiterhin eine Zukunft zu haben? Was ist ihr Glaube an die Utopie – und jenseits aller Utopien?

Es geht nicht nur um unsere Analyse der Macht­verhältnisse und ihrer Entwicklung. Es geht um unsere Werte. Und um unseren Glauben an politische Gestaltungs­macht. Das ist die Grund­frage der Zukunft der Demokratie.

Das ist nicht das Ende

Es sind keine neuen Debatten, die unsere politischen Perspektiven nun plötzlich zu beherrschen scheinen, auch wenn sie heute eine existenzielle Dringlichkeit bekommen. Der konzeptuelle Rahmen, innerhalb dessen wir diese Diskussionen führen, hat sich jedoch über die letzten Jahrzehnte stark verändert.

In den 90er-Jahren, nachdem die USA den Kalten Krieg gewonnen hatten, schienen sie einer unipolaren Welt eine Pax Americana zu garantieren, auf der Grundlage des Washington Consensus den Freihandel, die globale Zirkulation der Kapital­ströme und mit nation building gar den Siegeszug des demokratischen Verfassungs­staates voranzutreiben. Der amerikanische Politik­wissenschaftler Francis Fukuyama brachte das Selbst­verständnis der Epoche bekanntlich mit der Formel vom «Ende der Geschichte» auf den Begriff. Der Grund­gedanke war, dass keine Macht der Welt den historischen Sieg des liberalen, demokratischen Verfassungs­staates noch würde gefährden können. Er hatte sich als überlegen erwiesen, er würde alternativlos bleiben. Das Ende der Geschichte deklarierte den End­sieg der Demokratie. Durch einen seltsamen Automatismus schien ihre Zukunft für alle Zeiten gesichert.

Dass diese Diagnose auf einem schweren Irrtum beruhte, manifestierte sich allerdings sehr rasch, nicht erst mit dem Siegeszug der anti­liberalen neuen Rechten, der uns spätestens seit dem ersten Trump-Sieg und dem Brexit in Atem hält, sondern Jahre früher und in mehreren Wellen.

Da war erstens der 11. September 2001, die brutale Eruption nie da gewesener terroristischer Gewalt im Namen eines religiösen Fundamentalismus. Die anschliessenden Kriege und der vermeintliche Kampf der Kulturen lenkten auf fatale Weise von der Tatsache ab, dass die islamische Welt zwar in der Tat brutalste Modernisierungs­krisen durchläuft, dass aber auch in sämtlichen anderen Kultur­kreisen die Macht des religiösen Fundamentalismus in keiner Weise gebannt ist.

Nicht nur in Indien, wo Narendra Modi seine Herrschaft auf eine fundamentalistische Hindukratie gegründet hat, auch in Israel, wo ein nationalistischer Messianismus inzwischen die Regierungs­politik und die Kriegs­führung bestimmt, und ganz besonders in den christlich geprägten, westlichen Demokratien, wo evangelikale Strömungen und ein teilweise reaktionärer Katholizismus zu wieder­erstarkten politischen Macht­faktoren geworden sind, zeigt sich die zunehmende Dynamik einer regressiven Religiosität. Das Ende der Geschichte postulierte implizit auch die Vollendung der politischen Säkularisierung – die leider niemals stattgefunden hat.

Im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausend­wende wurde zweitens die System­konkurrenz zwischen dem demokratischen Kapitalismus des Westens und dem Staats­kapitalismus der Volks­republik China eine immer dominierendere Realität. 2001 tritt China der Welthandels­organisation bei und wird definitiv zum weltweit wichtigsten Produktions­standort. Ob die demokratischen Volks­wirtschaften ihre wirtschaftliche Überlegenheit werden verteidigen können, ist seither offen. Mit dem Zoll­krieg und einem jeden Tag wahr­scheinlicher erscheinenden Angriff der Volks­republik China auf Taiwan eskaliert die amerikanisch-chinesische Rivalität nun immer stärker. Definitiv durchgesetzt zu haben scheint sich nur der Kapitalismus, doch seine nicht demokratischen Spielarten erweisen sich als konkurrenz­fähig, potenziell als überlegen. Wird es längerfristig zu einer kriegerischen Konfrontation kommen zwischen dem demokratischen und dem autoritären Kapitalismus oder werden die Systeme koexistieren? Auch diese Geschichte ist nicht zu Ende.

Es kam drittens 2008 mit der Finanz­krise zu einer endogenen Krise der westlichen, kapitalistischen Wirtschafts­ordnung, die mit verschärfter Dringlichkeit infrage stellte, ob die Volks­wirtschaften der westlichen Staaten tatsächlich für die Ewigkeit gebaut sind. Was, wenn sie zu instabil sind? Was, wenn sie aus strukturellen Gründen zu viele Verlierer produzieren? Eine Welt­wirtschafts­krise konnte zwar verhindert werden, das Finanz­system wurde wieder gefestigt und durch Zusatz­regulierung etwas resilienter gemacht (allerdings, wie etwa das Schweizer Beispiel zeigt, in lachhaft ungenügendem Mass). Politisch wurden die Exzesse von Deregulierung und Liberalisierung jedoch nicht im Ansatz bewältigt.

Der Trumpismus hat seine Wurzeln in der Tea-Party-Bewegung, einer heftigen ersten Reaktion auf die wirtschaftlichen Verwerfungen von 2008. Inzwischen werden zahlreiche wirtschafts­liberale Glaubens­sätze vom Rechts­populismus frontal attackiert – nur dass weiterhin um jeden Preis die Steuern gesenkt und der Staat zurück­gebunden oder am besten gleich zertrümmert werden soll. Leider ist es nicht erstaunlich, dass die politische Rechte auf die illiberale Seite kippt.

Der Zombie-Liberalismus

Denn auf welchen Grundlagen soll das vermeintliche Posthistoire, das heisst die Unantast­barkeit einer liberalen Wirtschafts­ordnung nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, heute beruhen? Die klassischen Argumente für ihre Legitimierung mögen theoretisch weiterhin valide sein, wurden durch die real­wirtschaftliche Entwicklung der letzten 30 Jahre aber allesamt infrage gestellt. Fairness durch Chancen­gleichheit, allgemeine Wohlfahrt durch Trickle-down-Effekte, ständig verbesserte Produktivität durch markt­gerechte Anreiz­strukturen, Nachhaltigkeit und Stabilität durch ökonomischen Realismus, Leistungs­prinzip und Unterbindung von Rent-Seeking – alle diese Leit­prinzipien haben sich als nur begrenzt oder gar nicht tragfähig erwiesen.

Wo wären die neo- oder wirtschafts­liberalen Theorien, die sich den immer manifesteren Fehl­entwicklungen gestellt und seriöse Antworten geliefert hätten? Wo sind umgesetzte Policy-Konzepte, um die Opfer der wirtschaftlichen Trans­formationen, die durch den Freihandel im Welt­massstab ausgelöst wurden, aufzufangen und angemessen in ihre jeweilige Volks­wirtschaft zu integrieren? Wo sind die Strategien, um innerhalb der Europäischen Union die Einkommens­konvergenz herbeizuführen, die dereinst doch das versprochene Ziel war, aber weiter auf sich warten lässt? Wo sind die Konzepte, damit in einer Welt, in der kein Politiker mehr darauf verzichtet, die Chancen­gleichheit zu beschwören, die soziale Mobilität nicht ständig abnimmt?

Der Wirtschafts­liberalismus befindet sich in vielen Bereichen in einem frei­schwebenden Zombie-Modus. Dass seine Unantastbarkeit nun plötzlich den unsinnigsten Wildwest-Spielarten von Politik­konzepten weichen muss, kommt deshalb nicht ganz überraschend. Allerdings wird auch der libertäre Amoklauf die Krise des Liberalismus ganz gewiss nicht beheben.

Es ist, als ob sämtliche Glaubens­sätze, auf denen die Welt­ordnung nach 1989 zu beruhen schien, ins Rutschen gekommen sind. Und einer dieser Glaubens­sätze, um den es schon damals nicht mehr allzu gut stand, führt uns direkt zum Problem der Zukunft der Demokratie: der Glaube an den Fortschritt.

Ohne Fortschritt keine Demokratie

Gibt es eine Demokratie ohne bessere Zukunft? Lange Zeit waren Fortschritts­glaube und Demokratie unabdingbar miteinander verknüpft. «Der Fortschritt der Gleichheit ist schicksalshaft, dauerhaft und schreitet täglich voran», heisst es etwa bei Alexis de Tocqueville in der Einleitung zu «Über die Demokratie in Amerika». John Stuart Mill erblickt in der Demokratie das beste Mittel, um den «allgemeinen geistigen Fortschritt» zu fördern.

Demokratie, so signalisiert das politische Denken des 19. Jahrhunderts, ist ohne Fortschritt gar nicht denkbar. Dass die Menschheit ständig voran­schreitet und sich wirtschaftlich, wissen­schaftlich und auch gesell­schaftlich entwickelt, ist im Übrigen ein Gedanke, der viel weiter zurückreicht.

Er hat seinen Ursprung nicht nur im Erbe der christlichen Theologie, die davon ausging, dass am Ende der Zeiten die Erlösung kommen werde, sondern auch in der Aufklärungs­philosophie. Sie liegt Leibniz’ Vorstellung von der unendlichen Perfektibilität der Welt genauso zugrunde wie Voltaires Glauben an den Fortschritt des Menschen­geschlechts durch die Wissenschaft. Sie setzt sich fort in Kants Philosophie der Geschichte, die zur «Idee zu einer allgemeinen Geschichte in welt­bürgerlicher Absicht» führt.

Allerdings ist dieser Aufklärungs­gedanke verschüttet und verdrängt worden, sowohl durch das geistige Erbe des Kalten Krieges als auch durch die verfehlte Vorstellung vom Ende der Geschichte. Das heisst durch die Illusion einer Politik, die alles schon erreicht zu haben glaubt und ihre Haupt­aufgabe nicht mehr im politischen Gestalten, sondern in der Entpolitisierung zu erblicken scheint.

Eine der bemerkens­werten ideen­geschichtlichen Publikationen der letzten Zeit ist «Der Liberalismus gegen sich selbst» von Samuel Moyn. Er zeichnet die Theorie­geschichte des politischen Liberalismus zu Zeiten des Kalten Krieges nach – und wie dieses Erbe bis in die heutige Zeit hineinwirkt. Was Moyn in seiner Analyse der kanonischen Werke von Denkerinnen wie Isaiah Berlin, Hannah Arendt, Friedrich von Hayek oder Karl Popper darlegt, ist vor allen Dingen, wie die antitotalitäre Gegen­stellung – der Wille, sowohl gegen die Erfahrung des Nazi-Totalitarismus als auch gegen die Drohung des Sowjet­reiches die Parade zu finden – diese Generation von politischen Philosophinnen dazu führte, jede Geschichts­philosophie und damit auch jeden Fortschritts­gedanken zurückzuweisen.

Es ging primär darum, gegen die Zumutung des real existierenden Sozialismus den Freiheits­gedanken zu verteidigen. Doch diese Freiheit, die auch mit einem Ethos der Ermächtigung oder der kreativen Selbst­entfaltung hätte verbunden sein können, blieb eingeschränkt auf eine antitotalitäre Abwehr­haltung: Sie wurde definiert als die Abwesenheit von Zwang, als eine – in der berühmten Konzeptualisierung von Isaiah Berlin – ausschliesslich negative Freiheit. Freiheit sollte garantiert werden allein durch die Zurück­weisung von kollektiver beziehungs­weise staatlicher Einengung der individuellen Rechte.

Eng gebunden an diesen antitotalitären Minimalismus des Freiheits­begriffs ist die Zurück­weisung der Geschichts­philosophie. «Es ist aus streng logischen Gründen unmöglich, den zukünftigen Verlauf der Geschichte mit rationalen Methoden vorherzusagen», schrieb Karl Popper in «Das Elend des Historizismus», seinem wirkungs­mächtigen Pamphlet gegen die totalitären Tendenzen des Geschichts­denkens. Die marxistische Vorstellung eines zwingenden und unausweichlichen Fortschritts der Geschichte bis hin zum Endsieg des Proletariats, der Geschichts­determinismus, in dessen Namen auch jedes Verbrechen und jeder Verstoss gegen die Rechte und die Würde des Einzelnen legitimiert werden konnten, wurde von Popper aufs Schärfste denunziert.

Dass wir nicht wissen können, welchen Richtungs­sinn die Geschichte hat, dass wir an keine teleologische Vorbestimmtheit glauben dürfen, die Folgen des politischen Handelns immer ergebnis­offen beurteilen müssen, alles allzeit für falsifizierbar halten sollten – all dies wurde zur Vorbedingung einer vermeintlich authentisch liberalen Welt­auffassung. Es ist daran gewiss nichts falsch, Popper selbst versuchte ein politisches Ideal zu entwickeln als Theorie der «inkrementellen Veränderungen». Ein Problem jedoch blieb ungelöst: In ihren radikaleren Spiel­arten zerstört die historische Askese den Fortschritts­glauben.

Denn historisch entsprang der Liberalismus der Aufklärungs­philosophie, die selbst­verständlich der Überzeugung war, dass an der Verbesserung der menschlichen Gesellschaft gearbeitet werden kann und gearbeitet werden muss. Zwischen dem totalitären marxistischen Determinismus und dem Glauben an die Möglichkeit des herbei­geführten sozialen Fortschritts gibt es einen breiten Fächer des politischen Gestaltungs­willens – was im Kalten Krieg jedoch zunehmend verdrängt wurde. Stattdessen setzte sich ein defensiver Liberalismus durch, der auch nach dem definitiven Sieg über den totalitären Gegner auf proaktiven Zukunfts­glauben nicht mehr setzen wollte.

Man mag einwenden, dass die frivolen 90er-Jahre sehr wohl getragen waren von Zuversicht und Optimismus. Es war jedoch ein Optimismus der Entpolitisierung – der Glaube, dass gesellschaftlicher Fortschritt ausschliesslich dadurch gefördert wird, dass die Politik sich zurücknimmt. Verkündete nicht ausgerechnet Bill Clinton das definitive Ende von big government?

Damit wurde auch nach dem westlichen Sieg im Kalten Krieg das ideologische Erbe des Kalten Krieges fortgeführt. Weiterhin sollte gelten, dass Zukunft sich nur begrenzt gestalten lässt und auf Fortschritt nicht zu zählen ist. Die Hoffnung war vielmehr, dass der Fortschritt nun spontan geschehe. Es steckt in dieser Art der Freiheits­bejahung ein ungeheurer politischer Pessimismus.

Dieses Erbe des Kalten Krieges hat auch einen substanziellen Beitrag geleistet zum Siegeszug des Neoliberalismus nach dem Zusammen­bruch des Sowjetreichs. Was die Globalisierung und den wirtschafts­liberalen Abbau der sozialen Markt­wirtschaft vorantrieb, war das Dogma, es handle sich hier um Entwicklungen, die unausweichlich seien und ausschliesslich von der Spontaneität der Markt­kräfte herbei­geführt würden. Die Integration des Welthandels im Zuge der Globalisierung; die Frei­zügigkeit von Kapital und Menschen im Rahmen einer freien Standort­konkurrenz – alles schien den Gesetzen einer ebenso imperativen wie rein ökonomischen Notwendigkeit zu unterliegen: there is no alternative. Das hiess aber auch, dass Fortschritt nur noch als Markt­automatismus vorstellbar war.

Umso unvermittelter kehrt das Politische nun zurück: als vermeintlicher Souveränismus. Als Forderung, wieder die Kontrolle zu übernehmen. Als Ruf nach neuer Grösse, neuer kultureller Homogenität, einer vermeintlich goldenen Vorzeit. Als Wille, von neuem die Zukunft zu gestalten, wenn auch bloss in einer regressiven Form.

Die ganze Klaviatur der faschistoiden Phantasmen, die nun gegen den Status quo ins Feld geführt werden, entspringt einem Impuls der Repolitisierung. Der Kern dieser Repolitisierung liegt im simplen Versprechen, dass politisches Handeln möglich ist. Dass es eine Zukunft gibt, die wir gestalten können.

Was ergibt sich daraus? Der Kampf um politische Deutungs­macht muss wieder aufgenommen werden – als Kampf um eine bessere Welt. Der Widerstand gegen die generalisierte politische Regression kann nur auf der Basis einer klaren Vorstellung von gesellschaftlichem Fortschritt vollzogen werden. Widerstand gegen den Autoritarismus muss die Form des aktiven Herbei­führens einer besseren Zukunft annehmen. So befremdlich diese Sichtweise für breite Kreise inzwischen auch geworden sein mag.

Erst kürzlich ist eine grosse Studie von Andreas Reckwitz erschienen, «Verlust. Ein Grundproblem der Moderne». Sie enthält eine ausufernde Bestands­aufnahme der Fortschritts­diskurse seit dem 18. Jahrhundert und der modernen Errungenschaften und Institutionen, die auf Fortschritt ausgelegt sind. Das eigentliche Thema des Buches ist aber der flächen­deckende Verlust von Fortschritt – er schafft es nicht einmal mehr in die Titelzeile –, der Untergang aller Fortschritts­dispositive, die die Moderne sich erkämpft hat.

Es ist, als bliebe nichts mehr anderes zu tun, als über den Verlust des Zukunfts­glaubens Buch zu führen: «Ein entscheidender Faktor der Verlust­eskalation ist die Erosion der Glaubwürdigkeit, die das Fortschritts­narrativ mit Blick auf die Zukunft auf breiter Front erfährt», schreibt Reckwitz. «Es gibt Tendenzen eines Zukunfts­verlustes.»

Die gibt es in der Tat.

Kipppunkte der Konkurrenz

Dies gilt umso mehr, als zwischen der vermeintlichen Entpolitisierung der neoliberalen Periode und dem vermeintlichen Souveränismus der neurechten Autoritären eine merkwürdige Affinität besteht. Eigentlich sind der Neoliberalismus und der neue Populismus radikale ideologische Antagonisten. Hier Freihandel, da Protektionismus. Hier Mobilität der Arbeitskräfte, da vollständiger Migrations­stopp. Hier Elitarismus und Eliten­förderung, da zumindest eine vorgeschobene Boden­ständigkeit und Volksnähe.

Allerdings lehrt schon die historische Erfahrung, dass der Wirtschafts­liberalismus mit verblüffender Leichtigkeit immer wieder in sein Gegenteil, in illiberale, autoritäre, ja totalitäre Politik­auffassungen kippt. Weshalb?

Ein zentrales Element des Liberalismus ist der Konkurrenz­gedanke. Der Wettbewerb der Individuen prägt sowohl sein Freiheits­ethos als auch seine Vorstellungen von wirtschafts­politischer Steuerung. Die Idee des Wettbewerbs jedoch ist dehnbar – sie kann auch aufgefasst werden als Kampf, als nackter Kampf mit allen, ja selbst mit kriegerischen Mitteln. Und geführt wird dieser Kampf nicht zwingend von Individuen, sondern gegebenen­falls auch von ethnischen Gruppen, von Nationen oder von Kulturen – womit der Wettbewerb dann plötzlich nichts mehr anderes ist als ein sozial­darwinistischer Kampf der Völker und sich in keiner Weise auf wirtschaftliche Konkurrenz beschränkt.

Der Ideenhistoriker Quinn Slobodian hat diese Zusammenhänge in seinem Essay «Hayeks Bastarde» sehr plastisch dargestellt: Eine ultra­nationalistische, quasi völkische Spielart des vermeintlichen Liberalismus gab es schon immer. Heute ermöglicht diese, dass die Erben von Ronald Reagan sich ohne Schwierigkeiten einem Trump in die Arme werfen – und noch nicht einmal das Gefühl zu haben scheinen, ihre eigenen Grundwerte zu verraten.

Die siegreichen Kalten Krieger sind beim Triumph des liberalen Verfassungs­staates gestartet und nach nur einer Generation beim Ultranationalismus gelandet. Das heisst, bei einer Spiel­art des Faschismus. Diese dystopische Wiederkehr des Politischen ist die unerbittliche Revanche der Pseudo­entpolitisierung.

Politik muss Zukunft wollen. Sonst wird sie vergiftet von einem Cocktail aus Nostalgie und Disruption. Von Bannon und Musk. Vom Versuch, die Gegenwart zu zertrümmern und eine mythologische Vergangenheit wieder­aufleben zu lassen.

Der Zwang zur Weltpolitik

Die grosse Frage ist natürlich, was Gestaltung der Zukunft besagen soll. Es gibt dafür ein paar recht offen­sichtliche und simple Ansätze.

Als Erstes gilt: Es ist kaum möglich, an eine bessere Zukunft zu glauben, wenn sie nicht für alle gelten soll. Fortschritt in einem qualifizierten Sinn ist ein universalistisches Konzept. Wie soll ein Begriff von Fortschritt entwickelt werden, wenn von Beginn an Menschen von ihm ausgenommen sind? In der heutigen Epoche gilt dies auch aus praktischen Gründen: Der Universalismus einer jeden Fortschritts­philosophie konkretisiert sich in der zwingend globalisierten Perspektive der Umwelt­politik, der Migrations­politik, der Wirtschafts­politik. Wir leben in einer Epoche, in der es – ob wir das wollen oder nicht – im Grunde immer um den ganzen Planeten geht.

Man nehme die Klimakrise: Sie zwingt uns schonungslos dazu, Politik mit letzter Konsequenz als Weltpolitik zu verstehen. Nur wenn sich die gesamte Staaten­gemeinschaft der Dekarbonisierung verschreibt – wie auch immer die zu tragenden Lasten im Einzelnen zu verteilen sind –, besteht die Hoffnung, dass das Schlimmste verhindert werden kann. Klimapolitik kann per definitionem gar nie gross genug gedacht werden. Die Wahrheit ist das Ganze, sagte Hegel, in dessen Werk das Denken der Totalität und die Geschichts­philosophie eine Synthese von beispiel­loser Wirkungs­macht erfuhren. Die Klima­erwärmung verurteilt uns zum politischen Global­hegelianismus. Doch mental sind wir darauf nicht vorbereitet.


Denn das Bemerkenswerte ist: Ausgerechnet im Feld der Klimapolitik ist die globale Perspektive in der Defensive, und nicht nur deshalb, weil die zweite Trump-Administration schon an ihrem ersten Tag aus dem Pariser Klimaabkommen wieder ausgestiegen ist. Es geschieht noch etwas viel Grund­sätzlicheres: Die Dekarbonisierung ist ein Politikfeld, in dem es zwar weiterhin enorm viel Engagement und zivil­gesellschaftliche Mobilisierung gibt. In dem das kollektive politische Handeln im Gegen­zug aber mit grössten Schwierigkeiten zu kämpfen hat.


Jedenfalls ist frappant, wie breit einerseits die gesellschaftlichen Bewegungen sind – vegane Ernährung, Elektromobilität, umwelt­bewusstes Konsumverhalten –, die sich gegen den Klima­wandel engagieren, und wie überschaubar andererseits die Anzahl Mitglieder der grünen Parteien bleibt. In der Schweiz stehen den rund 13’000 Mitgliedern der Grünen (Stand 2022) und den etwas unter 8000 Mitgliedern der GLP (Stand 2024) etwa 300’000 Vegetarierinnen gegenüber. Natürlich kann man nicht alle vegetarischen Ess­gewohnheiten mit Klima­bewusstsein erklären, aber der Konnex ist unbestreitbar.

Wir leben in einer Zeit, in der die Bürgerinnen viel eher bereit sind, ihren individuellen Speise­zettel anzupassen, als sich in einer Partei­organisation für die Dekarbonisierung zu engagieren. Obwohl – bei aller Wichtigkeit von modifizierten Ess­gewohnheiten und der gesellschaftlichen Durchsetzung von neuen Verhaltens­weisen – einzig und allein die massive politische Mobilisierung und letztlich welt­umspannende kollektive Organisation uns eine Chance lassen, die globale Klima­politik zum Besseren zu wenden.

Irgendetwas läuft hier grundlegend falsch: Diätpläne und Lifestyle-Konzepte werden bereitwillig angepasst, zu politischer Mobilisierung kommt es sehr viel weniger. Es ist, als hätte der zeitgenössische Hyper­individualismus, der Wille zur Allein­stellung der Lebens­entwürfe, den Raum für gemeinsames Handeln eingeschränkt. David Wallace-Wells hat es in seinem zum Standard­werk avancierten «Die unbewohnbare Erde» schon 2019 mit aller Klarheit auf den Begriff gebracht: «Wenn wir hoffen, auf diese Krise in einem Massstab zu reagieren, der ihrer Dringlichkeit entspricht, können wir das nur durch grosse politische Transformationen erreichen, die eine tiefgreifende Neu­ausrichtung unserer Politik erfordern. Individuelle Konsum­entscheidungen (…) sind wertvoll, aber wirklich nur ein Schritt auf dem Weg zu gross angelegten politischen Aktionen.»

Dass wir die Gestaltungs­macht haben, um gemeinsam eine ökologische Zukunft herbei­zuführen, ist die Basis, auf der alle Klima­politik beruhen muss. Darauf müssen wir uns verpflichten – auch wenn es schwerfällt.

Demokratie und Universalismus

Und nicht nur im Feld der Klima­politik müssen Fortschritts­konzeptionen letztlich immer universalistisch und kosmopolitisch sein. Eine Welt, die sich verbessern soll, geht die gesamte Menschheit etwas an. Der Zukunfts­glaube von partikularistischen Ideologien hingegen – dem Triumph eines Landes, einer Religion oder einer Ethnie gewidmet – lebt von der Überhöhung der eigenen mythischen Vorzeit und bejaht nicht die Fort­entwicklung. Sie weisen sie zurück.


Der Siegeszug des neurechten Populismus bedeutet den Triumph der Identitäts­politik par excellence, nämlich eines aggressiven Nationalismus. Es handelt sich um eine Identitäts­politik für die Mehrheit – und als solche ist sie partikularistisch. Identitäts­politik im Namen von Minderheiten – jedenfalls die richtig verstandene – will dementgegen Gleich­berechtigung herstellen, Diskriminierung beseitigen. Sie ist dem Universalismus verpflichtet. Identitäts­politik für Mehrheiten will das Gegenteil, nämlich dominanten Gruppen Privilegien zusichern. Sie setzt sich die Negierung von Gleich­berechtigung zum Ziel.

Es ist deshalb Unsinn, zu behaupten, es bestünde ein intrinsischer Gegensatz zwischen den klassisch linken Kämpfen für ökonomischen Ausgleich und den gesellschafts­politischen Auseinander­setzungen um Identitäten. Es handelt sich um unterschiedliche Dimensionen von Gleich­berechtigung. Und nur allzu häufig gehen die wirtschaftliche Schwäche und die Diskriminierung von bestimmten Minderheiten Hand in Hand.

Die Frage, die sich angesichts der Bedrohung der Demokratie heute allerdings mit neuer Dringlichkeit stellt, ist, wie eine universalistische, kosmopolitische Werte­haltung zum Zentrum der politischen Mobilisierung gemacht werden kann. Und hier kann die Identitäts­politik tatsächlich die falschen Impulse geben: Denn auch wenn es keinen immanenten Widerspruch gibt zwischen dem Engagement gegen Diskriminierung und einer universalistischen Agenda, so gibt es häufig Unterschiede in der Prioritätenordnung.

Omri Boehm hat in seinem grundlegenden Werk über «radikalen Universalismus» eindrücklich dargelegt, dass «Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen» hat – mit einer «abstrakten, absoluten Verpflichtung auf die Menschheit», die die Identitäten nicht auslöscht, sondern unerlässlich ist, um sie zu verteidigen. Nur auf dem Boden dieses Universalismus ist gemäss Boehm eine Politik möglich, die sich der Gerechtigkeit und der Freiheit verpflichtet.

Doch hier stossen wir unter Bedingungen der Globalisierung an eine weitere grosse Herausforderung. Der Werte-Universalismus wird jeden Tag von neuem auf die Probe gestellt in der Migrations­politik. Wir leben in einer Welt­gesellschaft, die Menschen werden trotz aller Grenz­mauern und Sperren immer mobiler, die Migrations­bewegungen nehmen zu. Deshalb wird die Migrations- und Flüchtlings­politik immer bedeutender – und zur Nagelprobe für den Universalismus. Es ist unsere eigene Zukunft, die wir im Feld der Migrations­politik verhandeln, denn ohne Menschen­rechte keine Demokratie – letztendlich auch nicht für die Bürgerinnen von Staaten, die scheinbar nur an ihren Aussen­grenzen die Würde des Menschen nicht mehr respektieren.

Dass die demokratischen Staaten angesichts der verstärkten Migration mehr und mehr versagen, ist deshalb die zentrale Entwicklung, der entgegen­getreten werden muss. Dass Trump oder Alice Weidel ihre Wahl­kämpfe ausschliesslich mit der Mobilisierung gegen Zuwanderer und Asylsuchende bestreiten, unterstreicht, wie entscheidend der Konflikt ist, der hier ausgefochten wird. Ohne das Bekenntnis zu einer universellen Rechts­ordnung kann es keinen Zukunfts­glauben geben, ausserhalb der Verpflichtung auf die Menschen­rechte gibt es für die Welt­gesellschaft keinen verbindlichen Rahmen.

Das gilt für alle Bereiche des internationalen Rechts: Es ist kein Zufall, dass Trump, Orbán und Netanyahu, die drei vielleicht gefährlichsten, aus Demokratien hervor­gegangenen Gegner des liberalen Verfassungs­staates, gegen den Internationalen Strafgerichts­hof vorgehen. Der autoritäre Illiberalismus weiss, dass das internationale Recht in einem fundamentalen Oppositions­verhältnis zu ihm steht. Deshalb muss von allen Demokraten mit diesem Recht nun Ernst gemacht werden.

Hat die Demokratie eine Zukunft?

Ja, die hat sie. Weil Zukunft sich gestalten lässt. Weil wir die Menschen­rechte geltend machen können in der heutigen Welt­gesellschaft, im Minimum überall dort, wo wir politisch zuständig sind. Weil angesichts der globalen Bedrohung durch die Klima­erwärmung globale Antworten immer dringender, unausweichlicher und verpflichtender werden.

Seien wir realistisch: Die Heraus­forderungen sind enorm. Aber das ist nicht entscheidend. Die Zukunft der Demokratie hängt an unserem Zukunfts­glauben.

Die Sache mit den Zöllen

 Zölle

Was ist das wahre Ziel der Zölle? Der Historiker Quinn Slobodian erklärt Trumps Strategie der "direkten Ökonomie" – und die skurrilen Sci-Fi-Bücher des Handelsberaters.

Quinn Slobodian im Gespräch mit Nils Markwardt

aus: DIE ZEIT 17. April 2025

"Die MAGA-Loyalität speist sich aus einem Willen zur Bereicherung" – Seite 1


ZEIT ONLINE: Quinn Slobodian, worüber denken Sie gerade nach?

Quinn Slobodian: Ich denke darüber nach, wann genau die USA, einst die freigiebigen Anführer der westlichen Welt, in diese panische Abwehrhaltung geraten sind, die wir gerade beobachten.

ZEIT ONLINE: Sie meinen, die Zollpolitik der Trump-Regierung hat eine lange Vorgeschichte?

Slobodian: Robert Lighthizer, der Handelsbeauftragte in Trumps erster Amtszeit, war unter Präsident Ronald Reagan, also vor 40 Jahren, schon stellvertretender Handelsbeauftragter. Er verfolgte unter Trump einen Ansatz, der bereits unter Reagan galt: Man setzte vor allem auf nichttarifäre Handelshemmnisse …


ZEIT ONLINE: … also keine Zölle, sondern Einfuhrhöchstmengen oder Zulassungsstandards, die auch den Handel einschränken.

Slobodian: Ja, es ging darum, Teile der amerikanischen Auto- und Halbleiterindustrie gegen ausländische Konkurrenz zu schützen. Damit wichen die USA zwar von den Prinzipien des Freihandels ab, aber eben auch nicht zu sehr. Trumps erste Amtszeit zielte somit auf eine Reform, nicht auf die radikale Ablehnung der globalen Handelsarchitektur. Auch in Bezug auf China wollte man durch Handelspolitik vor allem besseren Zugang zu dessen Binnenmarkt erreichen, keine völlige Entkopplung.

Eine gefährliche Wahl

ZEIT ONLINE: In Trumps zweiter Amtszeit liegen die Dinge nun anders.

Quinn Slobodian: "Die MAGA-Loyalität speist sich aus einem Willen zur Bereicherung"

Slobodian: Die Zölle gegenüber China sind mit 145 Prozent mittlerweile so hoch, dass sie langfristig die internationale Arbeitsteilung zerstören würden. Sollte das Ziel dahinter die Re-Industrialisierung der USA sein, wird das kurzfristig nicht funktionieren. Dafür bräuchte man Öffentlich-Private Partnerschaften, staatliche Subventionen sowie Abstimmungen mit dem Industriesektor. Deshalb erscheint Trumps aktuelle Zollpolitik vielmehr wie ein Akt präsidialer Willkür, ein machtpolitischer Selbstzweck, ohne ökonomische Theorie dahinter.      

ZEIT ONLINE: Die Financial Times ging sogar noch einen Schritt weiter und verbuchte Trumps Zollpolitik als Ausdruck eines mafiösen Politikstils. Und tatsächlich prahlte der US-Präsident jüngst damit, dass ausländische Regierungsvertreter nun nach Washington pilgerten, um ihm für einen Deal "den Arsch zu küssen". 


Slobodian: Mit der ersten Welle von Zöllen wollte Trump herausfinden, welche Länder klein beigeben und welche zurückschlagen. Erstere wurden belohnt, zweitere bestraft. Das folgt Trumps üblichem Playbook. In diesem Zusammenhang lohnt es sich auch, einen Blick auf Peter Navarro zu werfen, Trumps sogenannter Direktor für Handel und Industriepolitik und Leiter des Nationalen Handelrats.

ZEIT ONLINE: Warum?

Slobodian: Weil es drei unterschiedliche Perspektiven auf ihn gibt. In der ersten ist er ein geradezu obsessiver Gegner Chinas. 2011 veröffentlichte er mit einem Co-Autor das Science-Fiktion-artige Buch Death by China. Darin wird beispielsweise erzählt, dass Menschen in der Zukunft wegen gepanschter Diabetesmedikamente aus China sterben und Kriminelle ihr Unwesen treiben, weil sie high von chinesischem Super-Cannabis sind. Ebenso bekommen die Amerikaner beim Verlassen ihrer Häuser Atemnot, weil überall "Chog" herrsche, wie die Autoren das nennen, aus China kommender Smog.

ZEIT ONLINE: Das hat Trumps einflussreicher Handelsberater geschrieben?

Slobodian: Das Buch wurde sogar als eine Art Dokumentation verfilmt, mit der Erzählstimme von Martin Sheen. Finanziert hat das ganze Nucor, einer der größten amerikanischen Stahlproduzenten. Im Film gibt es auch eine Szene, in der ein riesiges Messer mit der Aufschrift "Made in China" in die Landkarte der USA gerammt wird, aus der dann Blut spritzt. Hier zeigt sich bei Navarro also die rassistisch imprägnierte Angst vor Chinas Aufstieg. Das ist zweifellos paranoid, aber immerhin noch einigermaßen konsistent.

ZEIT ONLINE: Wie lautet die zweite Perspektive auf ihn?

Slobodian: Navarro trat auch als Investment-Berater auf und schrieb mehrere Bücher darüber, wie man erfolgreich an der Börse spekuliert. Eines davon trägt den Titel Wenn es in Brasilien regnet, investieren Sie in Starbucks-Aktien!. Besieht man nun die vergangenen Wochen, allen voran das kurzfristige Aussetzen gerade erst verkündeter Zölle, ist Trumps Handelskrieg womöglich schlicht eine Mischung aus Insiderhandel und Marktmanipulation. MAGA-Loyalisten werden zum richtigen Zeitpunkt mit Informationen versorgt, sodass alle schnelles Geld verdienen.

ZEIT ONLINE: Und die dritte Perspektive?

Slobodian: Navarros Co-Autor bei Death by China war Greg Autry, ein Unternehmer im Bereich der kommerziellen Raumfahrt. In ihrem Buch argumentierten beide, man müsse China auch deshalb eindämmen, damit das Land den Weltraum nicht vor den USA kommerzialisiere. Insofern handelt es sich bei Navarro auch um einen Wirtschaftsnationalisten und Autarkie-Verfechter, der nicht nur das US-Territorium im Blick hat, sondern ebenso das kosmische Hinterland, in dem womöglich eine Unmenge Ressourcen zu holen sind.

"Eine Orbánisierung der USA ist realistisch"

ZEIT ONLINE: Jüngst haben Sie noch eine weitere Erklärung für Trumps Zollkrieg geliefert. So, wie Rechtspopulisten immer wieder Instrumente der direkten Demokratie benutzen – man denke nur an den Brexit oder die Schweizer Volksabstimmungen zu Minaretten –, verfolge die US-Regierung die analoge Strategie einer "direkten Ökonomie". Können Sie das genauer erklären?

Slobodian: Es ist mittlerweile eine gängige wirtschaftspolitische Strategie rechtspopulistischer Bewegungen, intermediäre Akteure wie die offiziellen Börsen, institutionelle Investoren oder staatliche Behörden zu umgehen. So wird der Transfer von Vermögen direkter und damit sicht- und spürbarer. Während der Corona-Pandemie bekamen US-Bürger von Trump unterschriebene Stimulus-Checks etwa direkt in den Briefkasten geliefert. Ein anderes Beispiel sind die von Trump herausgegebenen Meme-Coins, die sein Gesicht schmücken und mit dem Versprechen beworben werden, ihr Wert werde steigen. Die AfD wiederum verkaufte über ihre Website einst Goldmünzen. Die Art und Weise, wie Trump nun Zölle als Machtinstrument einsetzt, lässt Menschen am Gefühl seiner vermeintlichen Omnipotenz teilhaben. Ebenso ist damit der Glaube verbunden, man könnte direkt von dieser Zollpolitik profitieren. Man darf nicht vergessen: Die MAGA-Loyalität speist sich oft aus einem Willen zur Bereicherung.

ZEIT ONLINE: Dabei ist ja oft das komplette Gegenteil der Fall, die Menschen werden von den Rechtspopulisten über den Tisch gezogen. Kürzlich berichtete etwa ein chinesischer Produzent von Trump-Merchandise, ihm machten die hohen Zölle nichts aus. Schließlich kostete ein Trump-Basecap in der Produktion nur einen Dollar, werde in den USA aber für 50 Dollar verkauft. Die Gewinnspanne ist also hoch genug. Und im Zweifel würden die Trump-Fans vermutlich sogar 60 Dollar bezahlen. Was durch die Zollpolitik droht, ist eine Inflation in den USA.

Slobodian: Bis jetzt schlagen die Folgen des Zollkriegs noch nicht wirklich durch, im Alltagsleben spürt man noch keine höheren Preise. Auf rechten TV-Kanälen wie Fox News wird zudem betont, man solle nicht in Panik verfallen, es handele sich um einen ausgeklügelten Plan Trumps. Aber selbst, wenn die Preise steigen sollten, werden die MAGA-Leute vermutlich die Schuld jemandem anderem geben. Die Stimmung würde sich vermutlich erst drehen, wenn die Menschen ihre Sozialversicherungsleistungen nicht mehr bekämen.  

ZEIT ONLINE: Warum konzentriert Trump sich mit seiner Zollpolitik eigentlich so sehr auf die Industrieproduktion? Schließlich macht diese nur rund zehn Prozent der US-Wirtschaft aus. Der Dienstleistungssektor – also Gesundheit, Bildung oder Tourismus – ist deutlich größer.

Slobodian: Man kann relativ genau datieren, wann dieser politische Fokus auf die Re-Industrialisierung in den Vereinigten Staaten entstand. Und zwar während des Präsidentschaftswahlkampfs im Jahr 2016. Bernie Sanders thematisierte damals, wie die Globalisierung Teile des amerikanischen Arbeitsmarktes verwüstet hatte. Nachdem Sanders aus dem Präsidentschaftsrennen ausgeschieden war, übernahm Trump diesen Fokus, sprach etwa von "American Carnage", einem "Gemetzel", das er stoppen wolle. Diese Politisierung der Industrieproduktion war relativ neu, vorher hatte in den USA kaum jemand Freihandelsverträge infrage gestellt. Auch Joe Biden priorisierte in seiner Präsidentschaft die Rückkehr gut bezahlter Industriejobs, verband diese in seinem Green New Deal indes mit einer Energiewende. Insgesamt scheint mir aber, dass der Fokus auf Industriejobs eher ein Thema der politischen Elite als der breiten Masse ist.


ZEIT ONLINE: Inwiefern?


Slobodian: Ich habe nicht den Eindruck, dass Durchschnittsamerikaner sich nach einem Job am Fließband sehnen. Die meisten Menschen würden wohl lieber im Handel, Baugewerbe oder der Landwirtschaft arbeiten. Man muss den Fokus auf die Re-Industrialisierung deshalb eher als Teil eines größeren Plans der MAGA-Bewegung verstehen.

ZEIT ONLINE: Was ist das für ein Plan?

Slobodian: Er besteht aus drei Projekten. Erstens das bereits angesprochene Re-Industrialisierungsprogramm verbunden mit einem Decoupling von China. Das zweite besteht in einer geopolitischen Neuausrichtung, einer Neuauflage der Monroe-Doktrin. Das heißt: Die USA sehen ihre Einflusszone in Nord- und Mittelamerika, Eurasien überlässt man Putin – mit dem sollen die Europäer allein klarkommen. Im dritten Projekt sollen die gesellschaftlichen Führungseliten im Stile des Orbánismus auf Linie gebracht werden. Dazu dienen etwa die Kürzungen durch Elon Musks DOGE-Behörde oder die Attacken auf die Elite-Universitäten.

ZEIT ONLINE: Können sie mit diesen Projekten denn erfolgreich sein?

Slobodian: Mit den ersten beiden eher nicht. Denn Re-Industrialisierung bräuchte einen langen Atem, den die MAGA-Bewegung nicht hat. Auch die Neuausrichtung der Geopolitik wird nicht funktionieren, weil es in der Trump-Administration immer noch genug neokonservative Interventionisten gibt, die – das hat zuletzt die Chat-Affäre um den Journalisten Jeffrey Goldberg gezeigt – gerne noch Bombenangriffe im Jemen fliegen lassen und der Idee globaler US-Hegemonie anhängen. Aber eine Orbánisierung der USA, das dritte Projekt, ist realistisch. Denn wer sollte diese verhindern? Die Demokraten ja wohl kaum.  

ZEIT ONLINE: Die Politikwissenschaftlerin Anne Applebaum beschrieb jüngst in einem Essay, wie sehr Orbáns korrupter Autoritarismus Ungarn in die Verarmung getrieben hat. Eine Orbánisierung würde den Vereinigten Staaten also vermutlich viel Wohlstand kosten. Dagegen könnten sich die Menschen doch auflehnen, oder?

Slobodian: Es käme darauf an, wie genau sich der Schaden verteilt. Eine der zentralen Aufgaben des Verwaltungsstaats besteht ja darin, in größeren Zeiträumen zu denken, sich also zu fragen, wie die Welt in zehn Jahren aussehen soll und welche Programme man dementsprechend finanziert. Hier in Massachusetts wird von der Regierung etwa gerade die Woods Hole Oceanographic Institution zusammengekürzt, die Klima- und Ozeanforschung betreibt. Wenn Trump solche Institutionen zerstört und den Bürgern stattdessen einen 1.000-Dollar-Scheck sendet, wäre die Hälfte des Landes wahrscheinlich glücklich. Ich tue mich also schwer, diesen Prozess nur in den Kategorien von ärmer oder reicher zu betrachten. Auch, weil die Trump-Regierung durch ihr Vorgehen ja zugleich staatliche Strukturen zerstört und Komplexität reduzieren will.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie hier mit Reduktion von Komplexität?

Slobodian: Die klassische neoliberale Ideologie konnte produktiv mit komplexen Verhältnissen umgehen, also etwa mit gesellschaftlicher Diversität oder vielschichtigen Institutionen. Trumps Vulgär-Neoliberalismus richtet sich indes gegen Komplexität, ihm geht es um Schlichtheit, er will direkte Beziehungen zwischen Arbeit und Wert herstellen, jedoch ohne dabei den Marktmechanismus infrage zu stellen. Es ist die Schlechteste aller Welten: ein Vulgär-Materialismus, der alles dem Markt unterwerfen will. Man will alles loswerden, was nicht sofort Mehrwert erzeugt – wie etwa die Ozeanforschung.

ZEIT ONLINE: Der Bau- und Medienunternehmer Lőrinc Mészáros, einer der reichsten Menschen Ungarns, sagte einmal, er habe seinen Wohlstand "Gott, Glück und Viktor Orbán" zu verdanken. Diese mafiöse Dimension des Orbánismus würde Trump sicher auch gefallen.

Slobodian: Das stimmt, wobei Trump nicht nur einer neopatrimonialen Mafia-Logik folgt. In seiner Karriere hat er sich beispielsweise immer wieder das Insolvenzrecht zunutze gemacht. Es ist also auch nicht so, dass Trump einfach Komplexität durch Patronage ersetzt. Vielmehr nutzt er beides.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Slobodian: Trump inszeniert einerseits eine Form der Allmacht, andererseits fällt er, der mehrfache Bankrotteur, beim Scheitern immer wieder auf die Füße, weil er das System für sich zu nutzen weiß. Er hat stets von den Schlupflöchern im Steuer- und Rechtssystem profitiert, die jene bevorteilen, die viel Vermögen haben oder sich teure Anwälte leisten können. Als Hillary Clinton Trump einst im TV-Duell vorwarf, keine Steuern gezahlt zu haben, hat er das gar nicht abgestritten, sondern geantwortet, dass ihn das ja gerade so smart mache. Er kennt das System, und nutzt es zu seinem Vorteil. Insofern verkörpert Trump weniger etwas ganz Neues, sondern ist auch das Produkt der bestehenden Verhältnisse.